Seltsam ist es, im Regen zu laufen. Ich sah die dunklen Wolken zwar von Südwesten her aufziehen, hoffte aber, rechtzeitig mit meiner Runde fertig zu sein. Daraus wurde nichts. Nach der Hälfte der Strecke öffnete der Himmel die Schleusen.
Radfahrer flüchteten unter die Bäume, ebenso Mütter, die ihre Kleinkinder im Kasten des Lastenrads vor sich sitzen hatten. Haben die Verschläge, die grundsätzlich oben offen sind, eigentlich einen Abfluss? Oder laufen sie wie Badewannen voll und drohen Kinder zu ertränken? Was für Fragen einem im Regen kommen.
Ein Paar setzte das Nordic Walking genauso unerschrocken fort, wie ich meinen Lauf. Ein Mann, deutlich älter als ich, gab ebenfalls nicht klein bei und lief weiter.
Eine Frau zog eine Plane über einen kleinen Wagen, in dem drei Kinder sitzen – eine Tagesmutter mit ihren Schützlingen. Die sieht man nicht mehr allzu oft. Noch Anfang der 2010er Jahre bildeten sie und ihre Kolleginnen das Rückgrat der Kinderbetreuung in Leipzig – glücklich, wer eine fand, die Krippenplätze waren rar. Mit maximal fünf Kindern boten sie zudem einen besseren Betreuungsschlüssel als Kitas. Aber ja, wenn die Tagesmutter mal krank war, hatten die Eltern ein Problem. Woran man sich im Regen so alles erinnert.
Meine Runde ist fast vorbei. Der Regen hat aufgehört. Nachdem ich im Wald über die größeren Pfützen gesprungen war, latsche ich auf dem Bürgersteig mitten rein. Nun sind die Schuhe doch nass.
Total verdreckt komme ich zuhause an. Der Lauf war überraschend angenehm. Wenig Menschen, nur das Rauschen des Wassers in den Blättern, das schmatzende Klatschen der Schuhe auf dem Waldweg, der Rhythmus meines lauten Atems.
Maria Leonhard, Spornitz
Mein Enkelchen schläft. Möge sie sich gesund schlafen, bitte ich im Stillen. Trübe Kinderaugen drücken auf meine Seele.
Nun schnell den Abwasch und ein bisschen Haushalt erledigen …
Helles Sonnenlicht lässt meine Augen zur Terrassentür wandern. Im Gras entdecke ich etwas Kleines, Braunes. Neugierig geworden, gehe ich langsam an die Tür. Es ist ein Spatz. Ganz still sitzt er da und sonnt sich. Die im Wind schaukelnden Halme verdecken ihn fast. Vorsichtig trete ich noch etwas näher an die Tür und sehe fünf weitere Spatzen, die Grassamen, Spitzwegerichsamen und an den Kleeblättern picken, die vom vielen Regen besonders saftig sind.
Rund um die Sandkiste ist das Gras hoch. Lange hat dort niemand mehr gespielt. Jetzt verschwinden darin zwei der Vögel und nur ich weiß, dass sie dort sind. Weitere Sperlinge kommen hinzu. Sie entdecken das Bergbohnenkraut und tauchen in den mit unzähligen Blüten und Blättern bewachsenen Stengeln unter. Ich stehe ganz still und erfreue mich an dem Treiben auf der kleinen Wiese. Am starken Schaukeln kann man erkennen, wie sich das Leben darin tummelt.
Ein Spatz landet auf meiner selbstgetöpferten, neu aufgehängten Vogeltränke. Es sieht putzig aus, wie er trinkt.
Meine Freundin Netti hatte mich neulich ziemlich spontan zu einer Töpferstunde ins „Kunstpöttchen“ nach Matzlow eingeladen. Dort war eine ganz besondere Stimmung. Iris, die Keramikerin, muss man einfach mögen. Nach dem Töpfern saßen sie, Netti, ein paar andere und ich noch bei Kaffee und frisch gebackenem Kuchen auf ihrer Terrasse. Um uns herum, liebevoll dekoriert, zwischen Blumen und Sträuchen, die Arbeiten der Gastgeberin, die in den tollsten Farben leuchteten. Meine Enkelin würde hier sehr viel zu entdecken haben.
Die Erinnerung an diesen Nachmittag lässt mich lächeln.
Andere Spatzen hüpfen durch den Lavendel, den zu dieser Zeit viele Insekten umfliegen. Ob sie diese auch fangen, geht es mir durch den Kopf.* Am Ende zähle ich zwölf Sperlinge und denke, wie gut, dass das Mähen bei uns keine so große Priorität hat.
Urplötzlich fliegen die Spatzen auf und verschwinden aufgeregt zwitschernd in der angrenzenden Hecke. Nachbars Kater ist auf die Wiese gesprungen! Und von dort in die Hecke. Aber heute muss er mit dem Futter aus dem Supermarkt vorlieb nehmen, denn die Vögel sind sofort verschwunden. Und der Kater geht nun auch.
Draußen ist es wieder still.
Ach ja, der Abwasch …
Auf dem Weg zur Küche denke ich: Was für eine schöne, kleine Auszeit!
* Die Antwort ist Nein, denn später lese ich, dass die Spatzen nur ihre Jungen mit tierischer Nahrung füttern.
Christoph Sanders, Thalheim
Am Dienstag kurz vor sechs erwacht, zwei kleine Krähen begrüßen sich am Kirchturm. Der Hahn schimmert mattgold im ersten Licht, dahinter die weiße Rune eines Airliners auf 4000 Metern. 18 Grad, leichter Wind, in loser Folge ziehen Wolken vorbei. Ein Tag ohne Schweißausbruch. Der Trompetenblumenbaum in voller Pracht – in zwei Wochen ist er fünfzig Zentimeter gewachsen. Die Fütterung blieb heute an mir hängen: Kaum haben die Kopfsalatblätter den Boden berührt, trotten auch schon die Kaninchen herbei. Geträumt, le Carré hätte einen neuen Roman veröffentlicht – keine Spionage.
Flashbacks von der Radreise durch die Mitte Deutschlands: Zwei Tage begleitete mich der intensive, angenehme Duft von reifem Korn – fein unterscheidbar von Luzerne, Mais und anderen Feldfpflanzen. Wo die Straße uneben ist, rieselt immer etwas von den Anhängern der gewaltigen Traktoren. Daneben die erdrückende Heimatschutz-Architektur Wolfsburgs, die endlosen Fluchten der niedrigstöckigen Zweckbauten mit ihren pseudotraditionellen Giebelvorsprüngen, die ein Gefühl von Geborgenheit suggerieren sollten … Grauenvoll.
Der Mittwochmorgen ruhig und frisch, Wolkenkulissse mit sonnigem Streiflicht. Die Zeit der Stachelbeeren ist nun langsam vorbei – die überreifen fallen Gras, die anderen kommen direkt vom Strauch ins Müsli. Das Piepen des Müllfahrzeugs meldet den Abtransport der Gelben Säcke. Zuhause knautscht und knautscht man – und die Verpackungen sind immer noch riesig. Glas ist wiederverwertbar, aber schwer, fragil und nimmt viel Platz weg. Verbundverpackungen sind besser. Eine wirkliche Lösung wäre allerdings nur die Reduktion des Pro-Kopf-Abfalls. In einem Europa der Single-Haushalte ist so etwas jedoch ambitioniert, wenn nicht sogar vollkommen illusorisch.
Ich stoße auf ein hervorragendes, etwas älteres Interview mit Hans-Eckardt Wenzel. Klare Ansichten eines Mannes, der analytische Schärfe als Handwerk bezeichnet. Die unterschiedliche Motivation eines DDR- und BRD-Germanisten. Das Verhältnis vom Lernen zum Leben; der Wissenshunger im Osten, und was zu jeder Zeit alles auf dem Spiel stand; die Allgegenwärtigkeit der Stasi, wie wichtig es ist, richtige Freunde zu haben. Im Westen hingegen: Man macht halt irgendwas mit Literatur, gründet schöngeistige Zirkel, vernetzt sich, kümmert sich um das eigene Fortkommen. Im Grunde gehts darum, den elegant unkörperlichen, materiell sorgenfreien Lebensstil einer imaginierten Geisteselite zu erreichen, z.B. durch Professuren. Man achtet darauf, nicht anzuecken, ist politisch korrekt. Die schmutzige Arbeit, den bösen Kapitalismus, machen dann andere. Darum diese, auch sprachliche, Überbeflissenheit. Die Studentinnen-WG meiner Ältesten ist voller aktivistischer Sprüche und Polit-Appelle. An der Küchenwand hängt der „feministische Kalender“ „365 vorbildliche Frauen“ – komischerweise ist keine von denen als Mutter definiert …
Unsere Älteste teilte uns mit, dass sie ihren Master nicht in Marburg machen will, weil die Stadt voller hessischer Studenten sei, „mit denen sie dann immer nach Hause fahren müsste“. Der Jüngsten „Die Meuterei auf der Bounty“ auf LP aufgelegt – sei rief mich, damit ich ihr die Platte umdrehe. Alte, analoge Welt. Sie war völlig gebannt und gleichzeitig amüsiert, weil sie die Sprecher bereits aus anderen Hörspielen kannte. Das gab der Geschichte eine weitere Dimension.
Nun zur Ruhe. Ferienmodus. Sommer.
Frank Schott, Leipzig
Nach sechs Jahren extrem fordernden und emotional auslaugenden Engagements in einer Werbeagentur steht bei mir eine berufliche Veränderung an. So wie zuletzt ging es nicht mehr weiter … Die Familie hatte es bereits länger gewusst, mir wurde es klar, als ich mit der PC-Tastatur auf meinen Schreibtisch eindrosch, weil mich die schlampige Software der Deutschen Bahn zur Weißglut brachte.
Kaum lässt man Blut, kreisen die Geier. Noch sind es fünf Wochen bis zur Arbeitslosigkeit – aber die Arbeitsagentur bestand schon auf den ersten telefonischen Gesprächstermin. Eine Mitarbeiterin geht mit mir den Fragebogen durch: Ja, ich bin alt. Ja, ich bin qualifiziert. Ja, selbstverständlich arbeite ich Vollzeit. Und nein, mit Jobs in meiner Profession sieht es aktuell nicht gut aus. Ich verkneife mir all die sarkastischen Worte, die mir durch den Kopf gehen. Ich werde per Mail und Brief Post bekommen – der Brief enthält das erste Vermittlungsangebot, auf das ich mich bitte bewerben und ihr dieses umgehend mitteilen soll. Na holla die Waldfee! Ich will mir gar nicht ausmalen, was für einem Druck Bürgergeld-Empfänger ausgesetzt sind, wenn schon mir, als Noch-nicht-mal-Arbeitslosen, der heiße Atem des Amts so in den Nacken bläst.
Am Nachmittag joggte ich mir das Amtselend aus dem Kopf. Es war vergleichsweise frisch; ein tolles Licht am Wolkenhimmel; ich fühlte mich ausgeruht – was soll ich sagen: Es lief. An der Pferderennbahn ließen zwei Mädchen die Passanten über eine Bluetooth-Box an ihrem Lieblingmusik-Mix teilhaben. Unweit des Glashaues gab ein Dudelsackspieler schottische Weisen zum Besten. Auf der Sachsenbrücke versuchte sich ein Pärchen mit Keyboard (er) und Gesang (sie) an einer Jazz-Version von „What a wonderful world“.
Ende der Strecke war dieses Mal nicht das eigene Zuhause, sondern der Konsum, ein lokaler Genossenschafts-Supermarkt. Ich musste Bohnen für die Suppe besorgen, die zu kochen ich versprochen hatte. Es gibt momentan nur Frosterware – aber die ist genauso gut wie frische. Noch einen Blick auf den strahlend wolkigen Himmel, dann unter die Dusche und anschließend Kartoffeln, Knoblauch und Suppengemüse schnippeln, die Bohnen dazu und das Ganze mit Brühe und weißem Pfeffer fein abschmecken … sehr lecker! Es blieb sogar noch eine Portion fürs Büro übrig.
Helko Reschitzki, Moabit
Seit Sonntag gehts wieder in alten, rissfesten Klamotten an den See – die Brombeeren sind reif! Zwei Handvoll nach dem Schwimmen, am in den 1870ern aufgeschütteten Hochdamm, wo die Wetzlaer, die Stadt- und die Wannseebahn fahren; eine Viertelstunde von meiner Bucht entfernt. Der Weg führt steil hinauf, fällt ab, geht wieder rauf – 14,5 Meter Höhenunterschied. Die Hecken stehen auf dem Plateau der 15.000 bis 20.000 Jahre alten Hügel, die sich aufhäuften, als während der Weichsel-Eiszeit das Schmelzwasser abströmte und unter hohem Druck die Grunewaldrinne ins Gelände schnitt. Das alles erinnert mich – und ist ja auch – die Endmoränenlanschaft meiner Kindheit und Jugend in Mecklenburg. Ich bewege mich über die Hänge ohne zu überlegen – auch Füße haben ein Gedächtnis. Vorteil des vielen Regens zur Zeit: Die Brombeeren sind gewaschen. Die Früchte an den wildschweinumwühlten Büschen unten auf der Rehwiese sind noch grün-gelb – das streckt die Erntezeit. Sehr gut!
Strategien, mit den aggressiven Blässhühnern umzugehen: Die kaum betroffenen Schwäne zeigen ab und an das reale Kräfteverhältnis an, pesen kurz hinterher, hacken mit dem Schnabel. Die oft gejagten Stockenten halten vorsorglich Abstand oder fliehen im Notfall. Die Haubentaucher, die meist in Ruhe gelassen werden, ignorieren das Ganze. Außer eines der Jungen: Das hat justament herausgefunden, dass es die adulten Blässrallen unauffällig antauchen und dann von unten überrumpelnd anrempeln kann, was sofort mehrmals getestet wird. Das Blässhunhn wehrt sich, verfolgt den Angreifer. Diesem eilt ein Elternteil zur Hilfe, stupst den Nachwuchs aus der Kampfzone. Kurzer Tumult – schnelle Lageberuhigung. Das Jungtier brachte vorher schon die eigene Familie durcheinander. Es gibt solche Tage.
Buchtgespräche: Als ich den Sachsen frage, ob er heute ohne seine Frau da sei, wischt er weit über den See: „Die ist noch im Wasser.“ Er zeigt vor uns: „Aber die Rotfedern sind wieder da! Und hinten rechts, vielleicht 50 Meter weg, steht der Karpfen. Obwohl das Wasser klarer ist als hier. So groß ist der.“ Aus der Himmelstrübnis fallen Schwalben, schießen sofort wieder auf. „Am Schilfrand müssen die irgendwie Auftrieb bekommen, die steigen immer an derselben Stelle hoch. Da muss eine besondere Thermik sein.“ Mit einer Dame unterhalte ich mich über die Blässhühner und deren konfrontativen Revierabgrenzungen gegenüber den Stockenten: „Vielleicht fressen die das Gleiche?“ Die Schwärze der Muttererde erstaunt sie; sie hat Angst, dass vom Starkregen „Hundebakterien“ mitgeschwemmt worden sind. Die Leuchtköpfe und schon ziemlich großen Füße der zweiten Blässrallenbrut erfreuen alle. Entspannte Leute, die vor oder nach der Arbeit, in ihrer Pause, im Urlaub oder im Rentneralltag zum See gehen und dort miteinander über das reden, was sie mit eigenen Augen sehen, mit ihren Ohren hören, mit den Nasen riechen. Informationsbörse, Thesenabgleichsort. Was noch im Dunkeln liegt, wird gemeinsam erhellt. Rätsel bleiben. Wie schön.
Christoph Sanders, Thalheim
Nach anderthalb Wochen Prignitz wieder daheim. Für mich gings mit dem Rad zurück. Am Freitag 210 Kilometer von Bad Wilsnack nach Hildesheim. Übernachtung und Ruhetag bei der ältesten Tochter. Wir genießen ein saftiges Schweinskottelett vom Bio-Bauern Schulze – der Wochenmarkt ist eine Oase. Am Sonntag dann von Hildesheim nach Thalheim – aufgrund des einsetzenden Starkregens das Stück von Kassel nach Treysa mit der Main-Weser Bahn. Gesamtstrecke Rad: 480 Kilometer. Die Familie war am Abend zuvor mit dem Auto eingetrudelt – man freut sich über den durchnässten Heimkehrer.
Fahrt durch ein sattes, alterndes Land, dessen Lücken und Brüche nicht zu übersehen sind. Kalbe – Wolfsburg – Hildesheim. Die ausgestorbene Altmark, die Heimatschutzarchitektur der Stadt des KdF-Wagens, der gesegnete Rückzugsort mit seinen vielen großen Kirchen. Üppige Weizen- und Rübenfelder stehen zur Ernte bereit.
In der Altmark sind die Trafotürme das letzte verbliebene Zeichen der Moderne. Am Stadtrand von Kalbe keine größeren Märkte, kein Schnellrestaurant, keine Plakatwerbung – die Marketing-Analysten sprechen eine deutliche Sprache. Auch der Rad-Tourismus findet woanders statt, es gäbe sonst mehr Eiscafés. Im Gegensatz zur Prignitz sieht man keine Glasfasernetz-Bagger. Wer hier als Bauer überleben will, braucht große Flächen. Proteste gegen Windräder, obwohl in dieser entvölkerten Gegend nur sehr wenige Anwohner belästigt würden – rund um Hildesheim sieht das schon anders aus.
Wolfsburg ist das Eisenhüttenstadt des Westens. Flieht, solange ihr noch könnt, rufe ich den Menschen an der Bushaltestelle zu. Die Monokultur des Automobils hat zu gewaltigen Siedlungsgebilden geführt. Wo weitergebaut wird, geschieht das in gleichförmiger Tristesse. Obwohl kaum eine Stadt so viele vierspurige Trassen hat, werde ich hier am häufigsten angehupt. Zentrale Achse ist die breite Porsche-Straße, die direkt am VW-Werk entlangführt. Schnell nach Braunschweig. Kaum ist man da, und wieder hindurch, spürt man die entspannte Ländlichkeit der Börde mit ihren kleinen Städten, Dörfern und Alleen. Auf der B1 bin ich auf einmal allein – ein großes Gefühl.
Den Abriss der alten Bundesrepublik sieht man am ehesten in den kleineren Mittelstädten wie Hann. Münden. Absolut trostloser Leer- und Stillstand; in den lang schon nicht mehr ausgebesserten Straßen steht das Regenwasser. Häugfigster Kulturfolger sind international betriebene Gebrauchtwagenplätze, alles andere rottet einfach vor sich hin. Die Tankstelle an der Ausfallstraße macht von ihrer Alleinstellung mit Fantasiepreisen Gebrauch – und wird von mir geschnitten. In Kurzeck-Nähe fallen Mirabellen und Kischpflaumen vom Baume – ich fülle mir für die letzte Wegstrecke die Taschen.
Deutschland war bereits vor der Teilung kulturell zersplittert – und ist es auch nach der Wiedervereinigung geblieben. Ein tatsächlicher Austausch zwischen den einzelnen, parallelen Gesellschaften findet wohl eher auf jeder x-beliebigen Straße Berlins als in Kalbe statt. Und wo die Wirklichkeit dermaßen heterogen und komplex ist, wird gern zu vereinfachten Erzählungen und Schlagworten gegriffen.
Nach Starkschauern ein windiger Montag. Im Garten sind die ersten Brombeeren reif. Die Heimatluft, sie riecht so gut. Regeneration. Ich lese Stifters „Der Nachsommer“, ein Buchfund aus Hildesheim:
„Ihr werdet wissen, daß Anzeichen bestehen, welche nur einer gewissen Gegend eigen sind und von den Eingeborenen verstanden werden, denen sie von Geschlecht zu Geschlecht überliefert worden sind. Ihr wißt, daß in Gegenden ein kleines Wölklein, an einer bestimmten Stelle des Himmels, der sonst rein ist, erscheinend und dort schweben bleibend, ein sicherer Gewitteranzeiger für diese Gegend ist, daß ein trüberer Ton an einer gewissen Stelle des Himmels, ein Windstoß aus einer gewissen Gegend her Vorboten eines Landregens sind und daß der Regen immer kömmt.“
Adalbert Stifter „Der Nachsommer. Eine Erzählung“, 1857
René Schwettge, Lehnitz
Spätlicht. Gehn wir also die grosse Runde. Emma hält mindestens mit, drängt zum beinahe Jogging. Ganz dünne Wolkendecke und die Sonne macht auf Spätsommer. Oder liegts an meiner Wahrnehmung? Klar, wir sind im letzten Tagesdrittel und Emma und ich nicht gerade jugendfrisch. Auch seh ich zwischen Bäumen Spinnennetz. Aber 1 Kreuzspinne macht noch keinen Altweibersommer.
Auf den Ameisenstrassen ist die Hölle los. Einige Stellen sind schon richtig ausgetreten. Vierundzwanzigsieben denk ich und frag mich, ob Ameisen nicht schlafen gehen, wenns dunkelt. Emma ist guter Dinge und räumt die Wunderbäume fast im Vorbeigehen ab. Durch den märkischen Waldsand schieben sich Himbeertriebe ans Licht. Waldwachtelweizen säumt hübsch und freundlich den Weg. Kein Mensch weit und breit. S-Bahn zuckelt vorbei.
Melampyrum sylvaticum
Wir kommen grad ausm Urlaub. Unter anderem aus der Lüneburger Heide. Haben dort die Schmidts in Bargfeld besucht, also Alice und Arno. An einem Tag, regnerisch und nicht kalt. Hätte dem Dichter gefallen, denk ich. Nicht unser Besuch – das Wetter. Emma durfte nicht ins Haus, aber dafür hat sie in den Garten gekackt und ich hab damit geliebäugelt ihr ne Bauchbinde mit dieser Heldentat zu basteln. Scheissen tun wa alle, aber vors Arbeitszimmerfenster von Arno Schmidt …? Vor der kleinen Veranda stehen immer Schüsselchen mit Wasser und Trockenfutter für die Katzen der Gegend. Testamentarisch von Frau Schmidt verfügt. Ein schrift- und schmuckloser Findling markiert die Grabstätte.
Soweit sind wir noch nicht. Also weiter im Text.
Frank Schott, Leipzig
Ich sitze vor unserem Hauseingang und verschnaufe. Ich habe den Morgen für einen 12,5-Kilometer-Lauf genutzt. Auf der kühlen Stufe zu verweilen, hilft mir, zur Ruhe zu kommen.
Entlang meiner Strecke am Elsterflutbett wachsen die Brombeeren. Ich wundere mich, dass ich heute nur so wenige reife Früchte sehe. Kurz darauf die Aufklärung: Vor mir ist ein älterer Mann mit einem Plastikeimerchen unterwegs. Lust auf Brombeeren hätte ich auch, aber beim Laufen eine Pause zu machen, bringt den Atemrhythmus durcheinander. Das merke ich schon bei den kleinen Fotopausen.
Heute ist Sonntag. Das heißt, es gibt wenig Verkehr. Also kann ich über die Klingerbrücke in Richtung Stadion huschen. Ich laufe eine Runde um den Vorplatz. Der dortige 43 Meter hohe Glockenturm ist nach dem Ringer und Widerstandskämpfer Werner Seelenbinder benannt, der 1944 von den Nationalsozialisten hingerichtet wurde.
Das ursprüngliche, über einhunderttausend Besucher fassende, Zentralstadion wurde 1955-56 auf Bergen von Kriegsschutt errichtet. Es war die Heimstätte des 1. FC Lokomotive Leipzig. Noch heute schwärmen die Schlachtenbummler vom 1:1 im Europapokal gegen den SSC Neapel mit Sportskamerad Diego Maradona. Außerdem fanden hier 49 Länderspiele der DDR-Fußballnationalmannschaft, das Turn- und Sportfest sowie etliche Leichtathletik‑Wettkämpfe statt; mehrfach war es Zielort von Friedensfahrt-Etappen. Nach der Wiedervereinigung nutzte VfB Leipzig (ehemals Lok) das Stadion von 1992 bis 1995 für seine Bundesliga-Spiele, nach dessen Abstieg und Umzug blieb es leer und wurde immer baufälliger. Ab dem Jahr 2000 erfolgte der Abriss, lediglich der Zugangsbereich mitsamt dem Glockenturm wurde saniert. In die verbliebenen Wälle integrierte man das neue Stadion als Austragungsort der Fußball-WM 2006 – heute bekannt als Red Bull Arena und Spielstätte von RB Leipzig.
Die Wälle machen den Stadionzugang zu einer treppenstufenreichen Anstrengung. Ich habe sie nie gezählt, aber es geht bestimmt an die einhundert Stufen hoch auf den Wall – und noch einmal genau so viele hinunter, bis man dann endlich in den Sitzplatz-Bereich kommt. Einmal habe ich dort meinen am Fuß vergipsten Sohn hoch und runter und wieder hoch getragen. Zu allem Unglück saßen wir ausgerechnet an dem Nachmittag in einer der obersten Reihen des Oberrangs, was weiteres Treppensteigen bedeute. Momentan ist Sommerpause, aber in einer Woche kehrt hier wieder Leben ein: RB eröffnet die Saison mit einem Testspiel gegen Atalanta Bergamo.
Da ich noch keine Lust habe umzukehren, laufe ich am Elsterbecken weiter. Die kürzlich von Chemie-Fans grün-weiß überstrichenen Laternenmasten leuchten nun wieder im RB-gerechten Rot-Weiß. Auf einem Zaun sehe ich einen Vogel mit auffallend gesprenkelter Brust – eine Singdrossel. Meine Atem- und Laufgeräusche stören sie kein bisschen, ruhig und entspannt genießt sie weiterhin die Sonne.
Ich mag diese Route sehr, weil sie über die Landauer Brücke auf die andere Seite des Beckens führt. Dort erwartet mich eine traumhafte Trailrunning-Passage – ein kleines Wäldchen, das zwischen dem Elsterflutbett und dem RB-Trainingsgelände am Cottaweg liegt. Über schmale, gewundene, wurzelbedeckte Pfade geht es zwischen Brennnesseln und Büschen an umgestürzten Bäumen und vom Sturm abgerissenen Ästen vorbei. Einige Male muss ich gebückt laufen, um unter tiefhängenden Zweigen oder halb umgestürzten Bäumen durchzukommen. Der Weg ist vielleicht einen Kilometer lang. Manchmal sieht man Angler, aber in der Regel hat man die Strecke für sich allein. Heute kommt mir nur ein Mann mit Hund entgegen, den er an der Leine ganz eng an den Wegesrand führt, damit wir beide aneinander vorbeikommen.
So langsam werden mir die Beine schwer, auch die Sonne beginnt zunehmend zu drücken. Also laufe ich auf dem kürzesten Weg nach Hause. Durchschnaufen, ein paar Dehnungsübungen.
Und dann sitze ich ein paar Minuten auf der Treppenstufe.
Hat Spaß gemacht.
Helko Reschitzki, Moabit
Caelum super Berolinum
Mein Blick aus dem Fenster fragt mittlerweile nicht mehr, ob es regnet, sondern wie stark. Wenn ich beim Schwimmen nach oben blicke, erscheinen die Wolkenfarben und die der Schwalbenbäuche im selben milchig-grauen Ton. Zwei Monate nach dem Schlüpfen hat der Haubentauchernachwuchs aus meiner Schlachtenseebucht nun die Größe der Altvögel erreicht. Auch das Jugendgefieder mit den typischen Gesichtsstreifen beginnt langsam zu verblassen. Immer öfter gehen die drei Jungen allein auf Beutezug – ich bestaune die zunehmende Ausdauer, das Tempo und ihre elegante Wendigkeit. Bislang ist das, womit sie auftauchen, rein pflanzlich. Ob die Eltern sie nach wie vor mit Fisch versorgen, kann ich nicht sicher sagen – ich habe in den vergangenen Tagen keine Fütterungszenen mehr beobachtet, auch wenn das dabei typische Fiepen noch zu hören ist.
Pullus Podicipis cristati et parens
Anders als die Haubentaucher, die ihre ersten Lebenswochen meist auf dem Rücken der Eltern verbringen, sind Blässhuhnküken schnell mobil. Bereits Stunden nach ihrem Schlupf verlassen sie das Nest, schwimmen eigenständig und beteiligen sich an der Nahrungssuche – wenngleich sie in den ersten Tagen noch auf die Fütterung durch Mutter und Vater angewiesen sind. Sie halten sich bevorzugt in der schilfreichen Uferzone auf – hier finden sie zu fressen und können bei drohender Gefahr in Deckung gehen.Von Anfang an besitzen sie diese arttypisch überproportional großen, gelappten Füße, die es ihnen ermöglichen, sich mühelos auf weichen und schlammigen Untergründen zu bewegen, schnell zu paddeln und zu tauchen.
Pullus Fulicae atrae et parens
Mich fasziniert der Widerspruch, dass Blässhühner einerseits ihr Territorium äußerst aggressiv großflächig gegenüber anderen Wasservögeln abgrenzen, andererseits ihre Jungen gleichzeitig in der Ferne alleine schwimmen lassen. Dabei behalten die Altvögel die leuchtend rot-orangenen Köpfchen der Kleinen aber stets im Blick. Am Freitag kam einer der Schwäne einem Küken etwas zu nahe, woraufhin ein Elternteil in irrer Geschwindigkeit dazu eilte – die Attacke auf das größere Tier wirkte allerdings eher symbolisch. Am Samstag versuchte die Altralle den vermeintlichen Angreifer dann durch eine fingierte Flucht vom Jungtier abzulenken. Beide Male zeigte der Schwan keinerlei Reaktion. Er und seine Artgenossen betrachten das Geschehen generell mit großer Ruhe (Hunde und Nervpiepel ausgenommen) – selbst als am Sonntag die Rallen direkt neben ihnen Stockenten jagten, wurde höchstens mal kurz der Hals ausgestreckt, um das Treiben etwas auf Abstand zu halten. Ein urzeitlicher Reigen tierischen Lebens, mit Regeln und Codes, die uns meist verborgen bleiben (zumindest den Nicht-Ornithologen) …
Cygni olores, Anates platyrhynchos et Fulica atra impetuosa
Nicht minder interessant ist der menschliche Nachwuchs: Während zwei vielleicht acht-, neunjährige Mädchen versuchen, mit einem Nivea-Ball unseren S-Bahnwagen zu zerlegen, dichten sie, sich total beömmelnd, ein Lied um: „Ist der Graben auch sehr klein, Bibi passt da noch mit rein. Wir jagen den Wind und reiten geschwind, weil wir Feindinnen sind, weil wir Feindin-nin-nen sind“. Die Mutter der beiden löffelt derweil mit leerem Blick ein Becherchen Fruchtzwergeaus und blättert nebenher in einem Fernreisemagazin – seitenweise jordanische Ruinen. Wahrscheinlich reift in ihr gerade der Plan, über Nacht die Familie zu verlassen und in die Wüste auszuwandern.
Duo pulli Fulicae atrae ad litus sinus
Frank Schott, Leipzig
Heute ein echtes Katerfrühstück.
Ich sitze mit unseren beiden Katern auf der Terrasse. Sie knabbern Grashalme und jagen Insekten, ich esse das auf dem Rückweg vom Joggen mitgebrachte Brötchen mit der Johannisbeermarmelade aus eigener Ernte. Dabei lese ich den Rest der gestrigen Lokalzeitung und ärgere mich über einseitige Berichte, mangelnde Korrekturen und schlampige Überschriften. Ein typisches Beispiel für letzteres sind Formulierungen wie „Automat von Bahn gesprengt“ (einfach mal Dampf abgelassen wegen all der Beschwerden?) oder „Freund von Toter verhaftet“ (der muss sich vielleicht erschrocken haben!)
Freitag ist frei, deswegen kann ich schon früh laufen. Insgesamt begegnen mir dreizehn Jogger. In einer der Pfützen herrscht reges tierisches Treiben – Specht, Drossel, Spatz, Ringeltaube und sogar ein Eichhörnchen hüpfen oder fliegen davon, als mich nähere.
Der Sportverein lockt heute letztmalig zu seinem Fußballcamp, aber jetzt, am Morgen, ist dort noch alles ruhig. Diese Camps sind eine gute Einnahmequelle für kleinere Vereine. Das Ganze funktioniert aber nur, wenn sich mindestens zwei Trainer finden, die dafür ihren Urlaub oder die Semesterferien opfern.
Die Kirchenglocken läuten – es ist 8 Uhr. Ich bedauere die Jogger, die ständig mit Kopfhörern unterwegs sind. Ihnen entgehen nicht nur die Glocken, sondern auch alle Geräusche des Waldes – angefangen vom Zwitschern der Vögel, über das Rascheln im Unterholz bis hin zum Summen der Insekten.
Christoph Sanders, Thalheim
Jesus liebt dich / wo am Hafen die Schiffe und die Fische schlafen / Nichts wie rauf nach Hamburg …
Am Mittwoch Familienausflug nach Hamburg. Die Leere auf der Prignitz-Autobahn 14 – die Fülle der Europa Passage. Während die Girls shoppen, umrunden mein Sohn und ich das Zentrum der alten Hansestadt. Zwischen den Läden von Louis Vuitton, Patek Philippe, Jil Sander und Gucci locken chinesische Autohersteller potentielle E-Boliden-Käufer an – in zwei Sekunden von null auf hundert! Auf der Mönckebergstraße hält der gigantische Karstadt alten Schlags noch immer durch. Hinterm Rathaus genießen wir die gediegene Ruhe der schönen Läden und Passagen und ein wunderbares Essen beim Vietnamesen; die grünen Blätter des Jasmintees schwimmen samt Blüte im Kännchen. Anschließend Besuch beim angesagten Coffeebarista (wie man mir sagt). Und abends zurück in die Prignitz.
Am Donnerstag gemischtes Wetter. Auf dem Weg nach Havelberg sauge ich den Duft der Kiefern ein. Zweiter Besuch der Buchstation. Ich dringe tiefer ins Bergwerk – hinter dem Nebenraum befindet sich noch ein Nebenraum, dann links das Abteil mit den dreihundert alphabetisch sortierten Kartons. Zwei Kisten Russen – kein Nabokov darunter. Ein Bildband der National Gallery London, ein schmaler Stifter und ein noch schmalerer Kosmos-Schmetterlingsführer werden von mir vor dem Altpapier gerettet – auch in der Buchstation muss entsorgt werden. Was einer Mitarbeiterin sichtlich schwer fällt, dabei weiß ja gerade sie, welche Bücher niemals wieder einen Leser finden werden, nicht gegen eine noch so geringe Spende, nicht einmal geschenkt … Der Nachrichtenbeitrag zum Ausscheiden der deutschen Mannschaft bei der Fußball-EM im reinsten DDR-Sprech: Unsere Frauen haben zwar nicht den Titel geholt, aber etwas weitaus Bedeutenderes gewonnen – sie sind zum Kollektiv gereift, das zusammen kämpft und über sich hinauswächst … Meldung zur Ukraine. Meiner kleinen Tochter versucht, den Begriff Korruption zu erklären. Mit großen Augen begriff sie diesen ihr vollkommen neuen Abgrund, den das menschliche Leben auch noch bietet. Dabei wird mir klar, wie geschickt die Welt sich selbst und ihre Kinder betrügt, alles mit wohlfeilen Gemeinplätzen umwölkt … Maschine ölen, Sattel fetten, Hecktasche packen – Freitag geht es via Sandau, Wolfsburg und Braunschweig nach Hildesheim. Es ist mit Schauern zu rechnen.
Susanne Kasperowski, Gadebusch
Außenkamera Garten, 23:13:56, 21-07-25
Helko Reschitzki, Moabit
Dienstagsbeef in der Bucht: Die von Natur aus eh schon aggressiv für extrem großzügige Sicherheitszonen sorgenden Blässhühner haben Nachwuchs bekommen. Das potentiert ihr Angriffsverhalten. Wer ins Blickfeld gerät, wird attackiert. Da nimmt es ein Blässhuhn auch mit einem halben Dutzend Enten auf, jagt diese übers Wasser. Die körperliche und zahlenmäßige Unterlegenheit spielt keine Rolle. Mitunter kommt es zu Gegenwehr – doch die bleibt stets vergeblich.
Am Abend gerate ich von einer Sekunde auf die andere in einen Starkregen. Zum Glück ist meine Wohnung nur einen 300-Meter-Sprint entfernt. Zuhause schließe ich sofort die Fenster – nicht, dass die Hofvögel mein Lungenfiepen für einen Riesensperber halten.
Am Mittwoch sehe ich, wie eine Frau hinter den S-Bahnschienen am Westhafen im großen Stil Tauben füttert. Als ein Mann mitbekommt, dass ich davon ein Foto mache, kommt er auf mich zu: „Genau – was die da macht, ist verboten! Gut, dass Sie das melden!“ Ein Deutscher direkt aus dem „Großen Lexikon des Anscheißertums“. Und sieht auch exakt so aus: Die Ärmel seiner starkraucherzahnfarbenen Blousonjacke hat er mit chirurgischer Präzision in 10-Zentimeter-Abschnitte umgeschlagen. Ein küchentuchkariertes Hemd, ein Nike-Basecap, ein Schnauzbart und eine Brille, wie sie die halbseidenen Frauen in Pierre-Richard-Filmen trugen, komplettieren den Anblick. Ich lasse den Typen abblitzen. Dass ich das Taubenfüttern ablehne (und dieses in Berlin nicht einmal pauschal verboten ist), ist eine ganz andere Sache. So etwas wird aber immer direkt besprochen. Mir ist dabei vollkommen klar, dass die anonymen Meldestellen, die man gerade überall einrichtet, hervorragend funktionieren werden.
Am Montag erzählen mir zwei Mitschwimmerinnen, dass einer der Schwäne von einem Hund totgebissen wurde. Wir sind entsetzt und traurig. Den Nachmittag über Besuch aus dem hessischen Thalheim. Klönen bei Bittertee, Duke Ellington und Alec Empire. Wir sprechen über den unfassbaren Überfluss, in dem wir in Deutschland leben, darüber, wie der Konsum alles zusammenhält, die Selbstbelohnung durchs Shoppen, all die Fernreisen – und dass dabei viele um uns herum immer unglücklicher werden. Wir reden über die kollektive Verdrängung der Sklaven, die für uns die Rohstoffe aus der Erde holen, den Pflegenotstand, die Folgen der Coronamaßnahmen. Wir wundern uns über die maximale kognitive Dissonanz derer, die mit EAT-THE-RICH-Söckchen herumlaufen, dabei aber ausblenden, dass wir Durchschnittsdeutschen zu den reichen 15 Prozent gehören. (Dass die Anticapitalism Socks im Billiglohnland Türkei hergestellt werden, ist da nur konsequent beim Selbstbetrug.) Wir schwärmen von der Eleganz der Arrangements der großen Jazzorchester, dem Handwerk guter Buchbindungen, dem duften Lesestoff und Tee, der uns niemals ausgehen wird. Unsere unterschiedliche BRD-DDR-Sozialisation sorgt dafür, dass der daraus resultierende Weltblick für den jeweils anderen wertvoll ist. Kurz nachdem sich der Dorffreund wieder auf den Weg machte, beginnt es sehr heftig zu regnen. Ich bekomme von ihm die Nachricht, dass er schnell Unterschlupf fand, und das Wermutkraut noch lange auf der Zunge geschmeckt hat – bis er dann bei einem kreuzberger Griechen eine verkohlte Krake aß.
Christoph Sanders, Thalheim
Am Montag wieder in Berlin. Den Nachmittag in Moabit verbracht. Als ich mich von dort aufmache, erwischt mich der stärkste Regen, den ich seit Wochen erlebt habe. Ich flüchte unter die Brücke am Grips-Theater. Während ich warte, fange ich Helga Schuberts „Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe“ an. Tabuthema Pflege des Partners. Die Erinnerung an die gemeinsamen Tage. Muss an ein aktuelles taz-Stück über „Feministischen Sex“ denken – was würde die Autorin wohl zu Helga Schubert und deren Blick auf ihren Mann sagen? Diese bedingungslose Liebe? Sie würde es wahrscheinlich Unterwerfung nennen – das Wort Liebe taucht im gesamten Artikel nirgends auf. Der Begriff Partnerschaft auch nicht, es werden nur Funktionalitäten verglichen und im Grunde tiefe Verklemmtheiten offenbar, die Unfähigkeit, über die eigenen Wünsche zu sprechen. Ein Instinktverlust, wie wir ihn ja auch auf anderen Ebenen sehen. Meine Empfehlung: Einfach mal die nonverbalen Absprachen eines Streichquartetts anschauen. Was synchrones Atmen möglich macht. Blickkontakt. Beim Musizieren kann keiner nur an sich denken.
Familientreffen im gentrifizierten Kreuzberg. Die Kinderschar ist über das Essen beim Griechen begeistert. Kaninchen schmeckt wirklich sehr gut – sagen unsere beiden Kaninchenhalterinnen. Der Sohn genießt seine Schweinemedaillons und einen Gin Tonic. Meiner Frau reicht ein Salat. Mein Oktopus hat nur zwei Arme und die waren verbrutzelt wie Röstebrot, bei dem der Toasterhebel klemmt.
Zurück in der Prignitz. Durchwachsenes Wetter – seit gestern hat es fast 10 Millimeter Niederschlag gegeben, heute regnets in Schüben. Ein Juli, wie er von der Presse vor ein paar Jahren noch als typisch deutsch und völlig deprimierend beschrieben wurde. Zum Frühstück Tee, Kaffee und unser schwarzes Johannisbeergelee. Später kleines Zeitfahren nach Havelberg. Lücken im Netto-Regal – ausgerechnet die Bio-Walnüsse fehlen. Muss bei den Gewürzen lange suchen, bis ich eine Kräutermischung mit Thymian finde. Glücklicherweise gibt die Firma Ostmann den Inhalt auf der Rückseite an – so wurde die seit einer Stunde vor sich hinsimmernde Bolognese perfekt. In der ehrenamtlich betriebenen Buchstation eine riesige Auswahl. Wirklich alle deutschen Klassiker. Viel Internationales. Ich nehme Turgenjew, Faulkners „Schall und Wahn“ und Puschkin im Artemis-Dünndruck mit, dazu „Hard drive“ von Art Blakey’s Jazz Messengers (CD). Das alles gegen eine kleine Spende. Ich werde sehr bald zurückkommen.
Helko Reschitzki, Moabit
On/Off-Regen. Sonnabend ist der erste niederschlagsfreie Tag seit einer Woche. Das Schildkrötometer vom Schlachtensee bestätigt, was auch Haut und Augen vermelden: die Sonne kommt durch! Von der Starkregenwucht am Dienstag ist der Grund des Sees dunkel gespült – bedeckt von Mulch, Muttererde und kleinen Zweigen. Das ergibt einen Spiegeleffekt: die Vögel scheinen auf Wolken zu gehen.
Am Donnerstag blickt eine Frau misstrauisch auf diese Seedüsternis. Sie fragt mich, ob ich schon im Wasser gewesen sei. Als ich bejahe, schickt sie zunächst ihren Hund hinein. Nachdem dieser sich nicht weiter auffällig verhält und sogar etwas trinkt, geht sie schwimmen. Stunde um Stunde lecken helle Sandzungen ein weiteres Stückchen vom großen Dunkelgrund weg und werden dabei länger und breiter.
Dieselbe Seestelle an Tag 2 und Tag 5 nach dem Starkregen
Am Freitagvormittag blockiert ein frisch umgestürzter Baum die S-Bahn. Ich freue mich, in einer Stadt zu leben, in der man sofort auf ein anderes Verkehrsmittel umsteigen kann, und fahre mit Bus und U-Bahn weiter. Am Samstagabend schaue ich das EM-Viertelfinale. Spätestens, wenn nach Abpfiff alle so etwas wie „Wahnsinn“ und „Irre“ stammeln und eine Spielerin nach ihrer Einschätzung gefragt, „Geisteskrank“ antwortet, um danach in Tränen auszubrechen, weißt du, dass du da gerade etwas ganz Großes gesehen hast. Das bisher nicht durch irgendwelche esoterische Tendenzen aufgefallene ORF-Studioteam redet vollkommen ernst über „die Aura von Ann-Katrin Berger“. Physiker, Parapsychologen und Theologen werden sich zusammenschließen müssen, um herauszufinden, wie es Jule Brand gelingen konnte, gleichzeitig an mehreren Orten zu erscheinen. Irre!
Am Sonntag steigt die Temperatur bis auf 28 Grad. Da trocknen die Kotzelachen der Partypeople schneller. Ebenso bunt, doch ungleich angenehmer, ist der Anblick der Afrikaner, die zum Gottesdienst gehen – vor allem die Frauen und Mädchen tragen wunderschöne farbenfrohe Kleidung. Die Afroamerikaner, die auch auf dem Weg zur Kirche sind, haben sich wie gewohnt förmlich angezogen; die paar deutschen Christen, die man noch sieht, schlurfen mausgrau umher. Dem Kormoran, der nach der kollektiven Revierverschiebung zum alten Baumstamm zurückgekehrt war, folgte nun ein zweiter.
Christoph Sanders, Thalheim
Der fünfte Sonntag nach Trinitatis beginnt mit einem Andreaskreuz, das zwei Flugzeuge am wolkenlosen Himmel hinterlassen haben. Milde Sonne bei leichtem Morgenwind. Fahrt nach Berlin. Treffe im Zug zufällig die Cellistinnen des Vorabends, Annette Jakocvcic und LiLa – tolles Gespräch! Durch den Transport von Asien nach Europa und die hohe Luftfeuchtigkeit scheint das Cello von LiLa gelitten zu haben – möglicherweise gibt nach über zweihundert Jahren nun die Verleimung nach. Ihr Instrument stammt aus der Mailänder Schule – die Italiener hatten den unschätzbaren Vorteil, die harten, langsam gewachsenen Hölzer der Alpenfichte und des Bergahorns verbauen zu können. LiLa hat ihr Cello nur geliehen – und wird es wohl auch niemals besitzen. Selbst der Weltklasse-Violinist und Star Frank Peter Zimmermann musste die Geige, mit der er bekannt geworden war, nach zehn Jahren an den Eigentümer zurückgeben, weil er die Kaufsumme von etwa fünf Millionen Euro nicht aufbringen konnte. Das ist kein Einzelfall. Zuvor auf dem Bahnsteig ein komplett anders geartetes Gespräch mit einem jungen Hertha-Fan – man zittert mit …
Bin in einer neuköllner Boulderhalle verabredet. Mitteljunge Väter führen auf der Terasse Hipstergespräch. Ein Stück Bananenbrot 4 Euro. Ich hatte zum Glück vorher auf der Sonnenallee einen Chicken Döner gegessen. Scharfe Soße zur Verdauung, Augustiner Edelstoff zur Verdünnung. Unterzuckerte, schwitzende und dehydrierte Kids in Magnesiawolken. Single-Elternteile achten penibelst darauf, dass ihr Nachwuchs an den einzelnen Stationen die Stempelkarte vorlegt. Kindergeburtstage, die zunehmend als Event zelebriert werden. Ich gehe. Vor dem Ausgang steht in vollster Pracht ein Götterbaum. Wenn man dessen Blätter zerknautscht, duften sie nach Sencha.
Der Flohmarkt in Schöneberg immer noch wie früher: kartonweise LPs, CDs, Fotoapparate, Teppiche, Schuhe, Bilderrahmen – viel Müll. Menschen, die mit Hilfe ihres Smartphones versuchen, Marktwerte zu taxieren. Hat der Händler bereits vorher gemacht. Kunstbände in großer Zahl: alle für nen Fünfer. Einst sündhaft teuer, jetzt Altpapier. Ich begnüge mich mit drei kleinen Hermes-Parfumproben. Nur einer von hundert Ständen hat überhaupt Proben oder echte Parfums. Der Rest hat Neoschrott, den ich bei Rossmann für 20 Euro bekommen kann. Auch wenn es seit Ewigkeiten Krempel gibt, findet hier gerade ein Epochenwechsel statt. Es kommen keine Bücher mehr nach, keine Qualitätsware, keine Tonträger. Ich vermisse Fritz Tonn mit seinem Bücherstand – den traf man hier über Jahre zuverlässig an.
In der Motzstraße findet ein lesbisch-schwules Stadtfest statt – im Prinzip ein Regenbogendisney für Provinzler. In Spandau vor der Abfahrt noch ein Kioskbier, direkt an der Havel unter Linden. Ein völlig anderes Klima als der Asphalt der Sonnenallee. Im Nachtzug Panzergrenadiere und Pioniere, die in die Havelberger Elb-Havel-Kaserne einrücken. Wer mehr als drei Monate dabei ist, darf bis 3 Uhr kommen. Mich erwartet ein schwülwarmes Dorf. Alles schläft.
Frank Schott, Leipzig
Eigentlich wollte ich gar nicht laufen. Aber meine Frau schickte mich raus, damit sie ihre Ruhe hat. Auf meine Standardstrecke hatte ich keine Lust – zu viele gepflasterte oder geteerte Teilabschnitte. Deswegen entschied ich mich, im Leipziger Auenwald zwischen Pleiße und Elsterflutbett zu laufen.
Ausnahmsweise trainieren heute keine Wassersportler. An der Uferböschung blüht die Schafgabe, dazwischen sehe ich purpurne Farbtupfer, die ich nicht zuordnen kann. Es sind bereits 27 Grad an diesem Vormittag. Das Elsterufer bietet kaum Schatten, nur wenige Menschen sind unterwegs. Ein Mann zieht einen mit Getränken beladenen Handkarren hinter sich her. Auf dem Weg zu einer Party?
Party ist jetzt jeden Abend auf der Baustelle der Karl-Liebknecht-Straße. Ein Teilstück der Straßenbahnstrecke wird erneuert. Trotz der Absperrungen, ausgeschachteten Gräben und pausierenden Baumaschinen zieht es jeden Abend Feierlustige, am Wochenende mehrere hundert Menschen, auf die Baustelle. Der Alkohol fließt in Strömen. Bier, Wein, Sekt, aber auch harte Spirituosen. Geht der Stoff zur Neige, holt man sich vom Spätkauf Nachschub. Die Läden machen den Umsatz ihres Lebens. Die Baustellenparty ist gelebte Verachtung gegenüber den Straßenbauern. Denn diese müssen jeden Morgen die Scherben und den Müll der Nacht wegräumen. Die Stadtreinigung kommt hier während der Bauarbeiten nicht vorbei.
Am Wochenende wird bis in die frühen Morgenstunden gefeiert. Der Lärmpegel entspricht dem einer stark befahrenen Straße. Bis in die Nebenstraßen hinein müssen Anwohner trotz der Hitze die Fenster schließen, weil der Krach schlimmer ist als die Hitze.
Stichwort Hitze: Im Wald ist es angenehm kühl. Vereinzelt sind noch Pfützen vom Starkregen der vergangenen Tage zu sehen. Die tragen beim Verdampfen ebenfalls zur Abkühlung des Waldes bei. Links neben mir schimmert ein Wasserarm durchs Laub.
Auf dem Rückweg stoße ich auf ein weiteres Beispiel Leipziger Unvernunft – diesmal verursacht durch bürokratische Vorschriften. Weil im Auenwald Eisvögel brüten, ist das Befahren bestimmter Abschnitte von Pleiße und Floßgraben nur zu festgelegten Zeiten erlaubt. Infolgedessen kommt es an der Schleuse regelmäßig zu Ansammlungen von Booten, die darauf warten, dass die Gewässer wieder freigegeben werden.
Mit der Öffnung des Schleusentors schießen dutzende Paddelboote und Kanus gleichzeitig in das Schutzgebiet. Kinderlärm, Lachen und laute Gespräche – dazu die Geräusche der Paddel, die das Wasser durchpflügen: Als Eisvogel wäre mir ein gelegentliches Boot lieber als diese stundenweisen Lärminvasionen. Aber die Bürokratie liebt nun mal ihre Regeln. So ist es dem Eisvogel immerhin gestattet, von 11 bis 13, von 15 bis 18 und von 20 bis 22 Uhr ungestört zu brüten. Für die Zeit dazwischen muss er sich wohl ein Hobby suchen.
Christoph Sanders, Thalheim
Nach Nebelauflösung ein strahlender Samstagmorgen. Vom Ausflug gestern wirkt noch das verschlafene Pritzwalk nach. Eine einsame Flaniermeile und viele hartnäckig gepflasterte Straßenabschnitte – für Radfahrer eher unbequem, dazu kommt das laute Rollen der Autos. Wenn man die Feldgrößen betrachtet, scheint der Boden in der Gegend sehr fruchtbar zu sein. Derzeit werden die abgeernteten Flächen vorbereitet. Dazu bringt man eine Art Trockenklärschlamm aus, der anschließend maschinell verteilt wird. Die Sorten auf dem Maisversuchsfeld, an dem ich vorbeifahre, tragen männlich-toxische Namen wie Big Boss, Hulk oder Joker. Mais braucht viel Wasser.
Unser erster Urlaubstag ohne jeden Schauer – da werden sofort die Federballschläger ausgepackt! Während wir spielen, kommt ein Pferd auf den Hof und macht sich genüsslich über den Klee her. Die Mädchen sind stolz, weil es sich von ihnen führen lässt, und lehnen ihre Köpfe an das große Tier. Sommerferien. Von ihren Rädern aus schauen die Kinder in die Weite der Elbauen und genießen die Stille in den scheinbar menschenleeren Dörfern. Ein Gefühl, als sei die Zeit stehen geblieben. Die Freunde aus dem Westerwald kommen, um ihre Tochter abzuholen, die eine Woche lang bei uns war.
So leer die Dörfer, so voll der Abschluss der Kammermusiktage in Nitzow. Vor der kleinen Kirche stehen Fahrräder in Reih und Glied. Es gibt handgestrichene Brote, Wildbratwurst und kalte Getränke. Eine heitere, gelöste Stimmung. Die sieben Nachwuchskünstler stammen aus Frankreich, Südkorea, Deutschland, Spanien, Irland und China. Beim „Streichtrio“ von Jean Françaix sitzen sich die koreanische Violinistin und die chinesische Cellistin gegenüber. Lediglich über Blickkontakt stimmen sie ihre Einsätze ab. Überhaupt fällt auf, wie physisch Spiel und Zusammenspiel ist: ein deutliches Einatmen, das Anheben der Oberkörper, die synchrone Spannung der Bögen. Wirklich alle Stücke werden hervorragend dargeboten – darunter auch einige hors catégorie, etwa Leoš Janáčeks „Kreutzer-Quartett“. Ich muss an die ebenso jungen Radsportler denken, die sich am Nachmittag über vier Pyrenäenpässe kämpften: Intensität und Konzentration, das Geschick in den Abfahrten, der Reigen der Führungswechsel, die Spurts Lenker an Lenker … Die belgische Hoffnung musste im ersten Drittel aufgeben; der neue Stern Florian Lipowitz strahlt nun auf dem dritten Platz des Gesamtklassements – willkommen in der Weltklasse des Sports. Das Konzert begann um 18 Uhr und endete um 21 Uhr. Nach einer Fahrt durch die Kiefernwälder trudeln wir im Sonnenuntergangslicht selig in unserem Quartier ein.
Walter Kintzel, Parchim
Was können wir gegen das Verschwinden der Dorfpflanzen tun?
1. Die Veränderung des Begriffes „Unkraut“ im Bewusstsein: Ungenutztes Grün muss nicht überflüssig oder gar schädlich sein. Wir sollten dieserart Vegetation als ein Stück Kulturgeschichte und Teil unserer Heimat begreifen.
2. Der Verzicht auf Herbizide an Straßen- und Wegrändern.
3. Die noch vorhandenen dörflichen Ruderalflächen müssen erhalten und weiterhin extensiv genutzt werden.
4. Verzicht auf Flächenversiegelungen und auf gärtnerische Gestaltung von Freiflächen nach städtischen Vorbildern – keine „Vergärtnerung“ der Dörfer!
5. Erhaltung bzw. Wiederherstellung des Dorfrandes.
6. Alte Mauern rund um Kirchhöfe und als Hofeinfassung müssen erhalten bleiben. Der Mauerfuß darf nicht mit Beton, Asphalt oder anderen Materialien versiegelt werden.
7. Erhaltung, Wiederherstellung und Renaturierung von Dorfteichen, Kleingewässern und Fließgewässern in Dörfern. Keine Bepflanzung der Uferpartien und Böschungen.
8. Verzicht auf häufige Mahd der Böschungen und auf übertriebene Säuberungsaktionen wie das Auskratzen von Pflasterritzen und Mauerfugen.
9. Entfernen von Bodendeckern und Ziergehölzen zugunsten einer natürlichen Vegetation. Schaffung von Sukzessionsflächen, die auch über mehrere Jahre hinweg brach liegen bleiben können.
10. Bodenaushub sollte wegen der darin enthaltenen Samen im Dorf verbleiben und nicht auf Deponien gelagert werden. Wenn die Samenvorräte mit dem Boden abgefahren werden, haben die Arten der dörflichen Ruderalvegetation keine Chance zur Neubesiedlung.
11. Gezielte Erhaltung und Förderung der Standorte dorftypischer Pflanzen.
12. Individuelle Hilfsmaßnahmen für gefährdete Pflanzen.
13. Der Schutz von Arten kann in der Regel nur durch den Schutz ihrer Lebensräume gewährleistet werden! Gezieltes Unterlassen kann mehr zum Artenschutz beitragen als alle wohlgemeinten Verbesserungen.
14. Stärkere Berücksichtigung des Natur- und Artenschutzes im Rahmen der Dorferneuerungsprogramme. Mit öffentlichen Mitteln darf keine Natur vernichtet werden!
Walter Kintzel, Parchim
Das Verschwinden der Dorfpflanzen
„Wir haben gute und viele Bilder vom Seeadler, aber wenige vom Haussperling“, soll einmal ein Ornithologe gesagt haben. Ähnlich ergeht es den Botanikern mit der „kleinen Welt am Wegesrand“, die gegenüber den großen, illustren Arten lange vernachlässigt wurde.
Als „Dorfpflanzen“ (auch „Dorfstraßenpflanzen“) bezeichnet man Arten, die charakteristisch für landwirtschaftlich geprägte Dörfer sind. Sie zählen zu den Ruderalpflanzen (lateinisch von rudera = Trümmer bzw. rudus = Schutt), die in und um Siedlungen auf von Menschen ungenutzten Flächen gedeihen – so zum Beispiel an Wegrändern und Ufern, neben Zäunen und Hecken, auf Brachen oder in Mauerritzen. Sie bevorzugen dabei sonnige sowie frische Standorte, also jene mit mäßiger Bodenfeuchte – nicht zu trocken, nicht zu feucht, gut durchlüftet. Siedlungen mit landwirtschaftlichem Schwerpunkt und Hausviehaltung bieten optimale Bedingungen: die Nutzvögel verbeißen Konkurrenten; die Hühner schaffen durch ihr Scharren immer wieder neue Ansiedlungsstellen; die Böden sind durch viel natürlichen organischen Dünger äußerst nährstoffreich.
Bitte nicht asphaltieren.
In Mitteleuropa waren Dorfpflanzen ursprünglich nicht heimisch. Es gilt als wahrscheinlich, dass sie mit dem Übergang zur sesshaften Lebensweise im Gefolge von Ackerbau, Viehzucht, Hausbau und Töpferei während der Jungsteinzeit (etwa 4200 bis 2800 vor der Zeitenwende) hierher gelangten. In den isoliert in der Landschaft liegenden Dörfern fanden sie ideale Lebensbedingungen vor. Und so prägten die charakteristischen Ruderalfluren durch die Jahrhunderte hindurch das dortige Vegetationsbild. Zunehmender Verkehr und Handel sorgten dann dafür, dass die Pflanzen im Laufe der Zeit an sekundäre Standorte gelangten. Die meisten Exemplare waren nicht ausschließlich auf das Dorf beschränkt, jedoch hatten sie hier ihren Verbreitungsschwerpunkt.
Viele der klassischen Dorfpflanzen wurden in irgendeiner Form von den Menschen genutzt, etwa als Heil- und Zauberpflanze oder als Wildgemüse. Einige haben kulturgeschichtlichen Wert, da sie aus den Bauerngärten stammen, wo man sie als Gewürz-, Heil-, Zier-, Zauber- oder Giftpflanze hielt. Man muss bedenken, dass es diese Pflanzen früher nicht zu kaufen gab – man vermehrte und züchtete selbst und tauschte sie mit dem Nachbarn. Es bestand ein Interesse, sie zu erhalten und an künftige Generationen weiter zu geben.
Einige Ältere kennen sicher noch die „Käsepappel“, deren Früchte gern von uns Kindern gegessen wurden. Botanisch korrekt heißt sie Weg-Malve. Sie leidet unter fehlender Hühnerhaltung – wovon auch die Kleine Brennnessel und der Meerrettich betroffen sind. Weil es an unseren Dorfteichen kaum noch Enten und Gänse gibt, ist die Vegetationsflur des Gänse-Fingerkrauts zurückgegangen. Durch zu häufige Mahd und Flächenversiegelung verschwanden Seifenkraut, Wermut, Löwenschwanz, Eisenkraut und Katzenminze fast gänzlich von den Wegrändern. Ebenso betroffen ist der Gute Heinrich – im Mecklenburger Platt „Stollten Hinnerk“ genannt. Seine im Frühjahr sprossenden Triebe lieferten lange Zeit ein vitaminreiches Gemüse – erst der im 15. Jahrhundert von den Arabern eingeführte Spinat beendete seine Vorherrschaft. Darüber hinaus wurde der Gute Heinrich ans Kleinvieh verfüttert und zur Behandlung von Wunden und Verstauchungen aufgelegt.
Meerrettich
Auf Grundlage der „Flora von Mecklenburg-Vorpommern“ (2005 von Heinz Henker und Christian Berg herausgegeben) wurden im Jahr 2014 die Vorkommen von sechzehn ausgewählten Dorfpflanzen in siebenundachtzig Dörfern bzw. Ortsteilen im Altkreis Lübz kartiert. Dabei wurde ein enormer Rückgang der Verbreitung im Vergleich zu Untersuchungen aus den Jahren 1982 und 1983 festgestellt (einzige Ausnahme war das Seifenkraut). Neben dem Altkreis Teterow ist Lübz bezüglich der Dorfpflanzen der am genauesten untersuchte Kreis im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern.
Die zehn häufigsten Dorfpflanzen im Altkreis Lübz im Jahre 2014.
Der rasante Wandel des menschlichen Lebens und die veränderte Wirtschaftsweise auf dem Lande haben zum starken Umbau der Ruderalflora und Ruderalvegetation geführt. Einen bedeutenden Faktor stellt die rückläufige Hofviehhaltung dar, da mit ihr auch der standorttypische Stickstoffeintrag durch Viehdung wegfällt.
Von den untersuchten Pflanzen waren Wilde Malve, Wermut, Schwarznessel, Schöllkraut und Kleine Klette ausgesprochene Stickstoffzeiger. Das heißt, sie wachsen fast ausschließlich auf hoch stickstoffhaltigen Standorten – auf weniger nährstoffreichen Böden kommen sie kaum oder gar nicht vor. Fünf weitere Arten (Große Klette, Löwenschwanz, Meerrettich, Guter Heinrich und Weg-Malve) traten ebenfalls an übermäßig stickstoffreichen Stellen auf.
Die genannten Arten sind Viehlägerpflanzen. Als Viehlager wird ein Ort bezeichnet, an dem sich Weidetiere wie Rinder, Schafe, Pferde oder Ziegen regelmäßig aufhalten – beispielsweise an Tränken oder Unterständen. Solche Plätze sind durch Nährstoffanreicherung (Urin und Dung), Trittbelastung und andere mechanische Beanspruchung wie Liegen oder Trampeln gekennzeichnet.
Natürliche Trittgesellschaft
In unserem Beobachtungsgebiet vollzog sich der tiefgreifende Wandel in zwei Etappen. Die erste fand zu DDR-Zeiten statt: Die landwirtschaftlichen Betriebe wurden kontinuierlich erweitert; die Viehhaltung konzentrierte sich jetzt in großen Stallanlagen anstatt wie früher auf kleinen Höfen. Das führte zu einem Ungleichgewicht zwischen den Dörfern, wodurch sich Tendenzen einer Urbanisierung (= Verstädterung) abzeichneten. Durch den Rückgang der privaten Viehwirtschaft fehlte der Einfluss der Tiere auf die Pflanzenwelt. Die Höfe waren vormals meist von Wiesen umgeben, die regelmäßig von Tieren betreten (= Trittwirkung) sowie beweidet (= Verbisswirkung) wurden. Diese natürlichen Trittgesellschaften verschwanden nach und nach und wichen kurz gehaltenen, mehrmals im Jahr gemähten Rasenflächen; Nutzgärten wurden durch reine Ziergärten ersetzt.
Nach dem Herbizideinsatz
Radikal vollzog sich die zweite Etappe nach der Wiedervereinigung: Motorsensen und Rasenmäher waren nun einfach und kostengünstig zu bekommen und konnten im Gegensatz zur Sense ohne größere körperliche Anstrengung genutzt werden. Dort, wo bislang kaum gemäht wurde, kam es jetzt zu regelrechten Wettkämpfen, wer den kürzesten Rasen hat. Neben den neu angelegten Asphaltstraßen (die aufgrund ihrer Förderwürdigkeit bevorzugt wurden) säte man auf den Banketten Rasen aus.
Hinzu kamen falsch verstandene Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM), deren Ziel darin gipfelte, möglichst jede Pflanze mehrmals in der Vegetationsperiode zu kürzen. Die Bodenversiegelung und die Anwendung verschiedener Chemikalien sind weitere Faktoren, die sich schädigend auf die Dorfflora auswirkten.
Die Folgen sind offensichtlich: Manche Dorfpflanze, die früher von den Botanikern als „häufig“ und „verbreitet“ bezeichnet wurde, ist heute eine Rarität.
Die zugrundeliegende sowie weiterführende Literatur und andere Quellen können gern beim Autor angefragt werden. (botaniktrommel@posteo.de)
Christoph Sanders, Thalheim
Eine Rundfahrt durch die hübsche Havelberger Altstadt offenbart schnell die Grenzen der Sanierung. Etliche Immobilien stehen zum Verkauf, der kaum noch vorhandene Einzelhandel hat zu kämpfen. Nur die Marktplatzgastronomen scheinen etwas davon zu haben, dass hier viele Radwanderer auf ihrer Elbtour Etappe machen.
Im Sprühregen, der seit einer halben Stunde über die Dörfer weht, verschwimmen die gelben, roten und weißen Postautos. Während der Vermessungsingenieur noch seiner Arbeit nachgeht, werden bereits die Rohre für die Glasfaserkabel angeliefert. Die Nitzower blicken gespannt dem Kammermusikkonzert in ihrer Dorfkirche entgegen. Ich bekomme vor Ort zufällig eine kleine Kostprobe: Während die Veranstalterin die Programmhefte hineinbringt, beenden die jungen Musiker gerade ihr Stück. Dank der flachen Holzdecke ist die Akustik sehr gut. Ich freue mich auf den Abend.
Ausflug ins 35 Kilometer entfernte Pritzwalk. Aufgeräumte Stadt, nicht allzuviel los, die üblichen kleinen Touristenshops, ein völlig überteuertes Café. Als ich um die Nikolaikirche schlendere, entdeckt mich die Mitarbeiterin des gegenüberliegenden Weltladens und gibt mir eine komplette Führung. Auf dem städtischen Friedhof ist die Kapelle der Familie Quandt nicht zu übersehen – der Reichtum der Sippe hat seinen Quell in der Prignitz. Durch wogende Weizenfelder gehts zurück Richtung Wilsnack. Die Kirchen sind die Leuchttürme des flachen Landes – der Rest kriecht gebückt über die Scholle.
Zwischenhalt im Eichenwald. Die Schwalben umkreisen die dicken Bäume und mich als wären wir Slalomstangen. Ich hab mal gelesen, dass die Vögel bis zu zweihundert Bilder pro Sekunde wahrnehmen. Das Leben von uns Menschen muss für sie wie in Zeitlupe ablaufen. So können sie in für uns nicht mehr zu erfassender Geschwindigkeit die Richtung wechseln und Hindernissen ausweichen. Unendlich langsamer erspähe ich an einem privaten Selbstbedienungsstand an der Straße Wachteleier. „Kasse des Vertrauens“ – aber dann doch nicht so ganz, da das Regal von einer Wildkamera überwacht wird.
Abendrunde durch den Kiefernwald. Die Mädchen und ich genießen den uns unbekannten Duft. Ein einsam stehendes Haus, zu dem man sich Geschichten denken kann: Sind da Spuren von Autos? Lebt hier jemand? Vielleicht kommt nur das Pflegeteam vorbei? Gebaut ist das Waldhaus in der soliden und schönen Backsteinarchitektur, wie man sie hier in Preußen hunderttausendfach findet. Gleich daneben liegt die Bahnstrecke nach Berlin. Man kann die Geräusche der langen Güterzüge gut vom ICE unterscheiden. Da es hier weder Berge noch Kurven gibt, haben meine Kinder das ungewohnte Gefühl, einfach immer weiter rollen zu können. Sie genießen das und wundern sich nur ein wenig über ihre komische Haltung auf den Hollandrädern.
Susanne Kasperowski, Gadebusch
Außenkamera Garten, 02:07:29, 16-07-25
Christoph Sanders, Thalheim
Eine halbe Woche Prignitz. Die Waldbrandgefahr ist aktuell bei null – nur seltsam, dass unsere Medien die durchziehenden Schauer nicht bejubeln. Ein verregneter Juli, der kaum einmal auf 30 Grad klettert. Dass die angekündigten Hitzewelle ausblieb, wird nirgends erwähnt. Stadtrundgang Bad Wilsnack: Der diskrete Charme des grauen, aber äußerst haltbaren Rauhputzes. Die Cleo Füllfederhalterfabrik gibt es immer noch (Gründung 1945) – die haben sich u.a. auf handgelackte Federgravuren spezialisiert. Anders als in Hessen kann man hier am EC-Automaten auch 10 Euro ziehen – Bankautomaten sind Realisten.
Muss öfter an den Fahrradbauer denken, den ich in seiner Werkstatt besucht hatte. Ein junger Familienvater, der auf dem eigenen Hof in vielen Arbeitsschritten individuelle Einzelstücke herstellt, womit er eine absolute Ausnahme darstellt. So etwas braucht Zeit und ist feinste Schlosserarbeit – die Teile müssen entsprechend bearbeitet, angepasst, zusammengefügt werden. Nicht nur weil die Serien klein sind, ist das Material nicht gerade billig – Taiwan, als Hersteller für Chromstahl, hat über die Jahre die Preise erhöht. Dazu kommen andere Kostensteigerungen – die größeren Hersteller sind mit jeder Verschiebung in das nächstbilligere Land mitgegangen: Malaysia, Vietnam, Kambodscha, China … Viele kleinere europäische Betriebe blieben dabei auf der Strecke. Der Prignitzer hält bislang durch. Sein Limit ist die eigene Arbeitszeit – die Crux eines jeden Selbständigen. Er kann 10 Mille für ein Fahrrad verlangen und kommt vielleicht mit 2000 netto im Monat raus. Er bewegt sich dabei in einer Welt, in der die meisten Damenradbilligmarken fahren – der Spagat zwischen Armengefährt und Luxusprodukt … Das erinnert mich ein wenig an die Uhrmacher – du kannst Dir für fünf oder fünf Millionen Euro die Zeit anzeigen lassen (die Dein Smartphone ohnehin weiß) … Die Paradoxe des Wohlstands sind zu bestaunen, nicht zu verdammen.
Die Tour erreichte heute meinen Lieblingspass. Knapp zehn Mal bin ich den Col du Soulor von der Nordseite angefahren. Im heimischen Kühlschrank lagert noch der Schafskäse aus dem Bergdorf, das der Tross gerade wie eine fröhliche Kriegsmaschine durchwalzte; Ostern sah ich, wie auf der Passhöhe die Stellfläche für die Wohmobile der Fans planiert wurde. Der neue Tourstar heißt Lipowitz – klasse Stil, nicht so überdreht wie manch anderer. Muss irre Lungen haben …
Die Familie hat das frisch eingekochte schwarze Johannisbeergelee verkostigt und ist mit dem Ergebnis äußerst zufrieden. Nach einem Omelett mit Reis und Salat sitzen alle satt und glücklich vor ihren Endgeräten. Das politische Tagesgeplänkel ist erstaunlich fern. Ich höre weiter meine CD-Funde, so zum Beispiel die hervorragend interpretierten Rachmaninoff-Klavierkonzerte mit Ashkenazy. Am Abend schauen wir vielleicht gemeinsam einen Film. Für mich gibts vorher aber noch die Flachlandrunde nach Legde (95 Einwohner).
Frank Schott, Leipzig
Mein Kollege reagierte etwas überrascht, als ich ihm den Grund dafür nannte, weshalb ich ein wenig müde war – ich kam gerade aus Berlin. 1.30 Uhr aufgestanden, 2 Uhr das Auto gestartet, um 4 Uhr am Berliner Flughafen versucht, die Schilder fürs Anlieferparken zu verstehen. 4.15 Uhr meiner Tochter eine gute Reise gewünscht und sie in den Sicherheitscheck verabschiedet. Um 4.30 Uhr um 9 Euro ärmer den BER-Parkplatz verlassen; hinter mir geht die Sonne auf und färbt den Himmel. 6.20 Uhr wieder in Leipzig. Bereits um 6.45 Uhr auf Arbeit, weil ich sowieso nicht mehr hätte schlafen können.
Unsere Tochter trifft sich mit Freunden in London. Kennengelernt haben sie sich alle übers Internet, was uns als Eltern erst einmal panisch werden ließ. Aber nachdem nicht nur wir die Telefonnummer des Freundes, sondern auch dessen Mutter die Nummer unserer Tochter zu wissen verlangt hatte, waren wir beruhigt. Jetzt ist der Nachwuchs erstmals auf sich allein gestellt in der fernen Metropole unterwegs. Vielleicht gar keine schlechte Lebenserfahrung.
Ich bin gespannt, wie die Katzen darauf reagieren werden, dass ihr Lieblingsmensch nun eine Woche lang weg ist. Von unserer Tochter lassen sie sich wirklich alles gefallen, toben mit ihr herum, spielen. Ich dagegen werde immer äußerst skeptisch beäugt. Gelegentlich angeschnurrt, wenns nach Meinung der beiden Zeit fürs Futter ist, ansonsten weiträumig umgangen. Möglicherweise hängen die Katzen ja jetzt einfach nur ein paar Tage ab?
Christoph Sanders, Thalheim
Ankunft im letzten Licht des Montags kurz vor einer Wetterfront. Die Prignitz wirkt, als sei die Zeit um 2010, unmittelbar nach Beendigung der großen Infrastrukturprojekte, stehengeblieben. Über Kilometer Mietshauskomplexe alten Stils. Willkommen im Reich des roten Backsteins. Bei Genthin riesige verwaiste Gewächshäuser. Erste Besorgungen im Burger Einkaufsgebiet. Wie in den französischen Hypermärkten findet sich im Marktkauf absolut alles, was man dann auf den nächsten fünfzig Kilometern nicht mehr bekommen wird. Flaches Land, viel Grün – ich bekomme beinahe Great-Plains-Vibes.
Auspacken. Kiefernduft bei offenem Fenster. Um uns herum die vollkommene Ruhe, wenn man mal von den Hahnenschreien absieht. Langsam Ankommen – und die verpasste Tour-Etappe nachschauen.
Am Dienstag in die Metropole Havelberg: eine Kaserne und vier, fünf Läden. Das Antiquariat dichtgemacht. Üppiger CD-Fund in einem Verschenkkarton. Auf der Hauptstraße von Bad Wilsnack der wohl letzte Bäcker der Stadt – wir werden ihn besuchen. In Nitzow gibt die diesjährige Internationale Kammermusik Akademie am Samstag ihr Abschlusskonzert. Atlantische Luft, die vier Stunden Sonnenloch von uns gut genutzt. Auf dem Dachboden trocknet die Wäsche. Aus einer Flasche Saftkonzentrat und jeder Menge Mark fünf Gläser Johannisbeergelee eingekocht. Die Normaluhr tickt überall weiter.
Am Mittwoch Besuch beim Fahrradbauer in Groß Lüben. In einem umgebauten Stall DDR-Drehbänke und Bohrständer voller Antifa-Aufkleber. Er im Joy-Division-Shirt. Fachsimpelei. Meine Erkenntnis: Die DDR hat auch eine völlig anders geartete Alternativkultur als der Westen hervorgebracht. Etwas, das ein wenig wirkt, wie die frühen 70er in der BRD, doch sich davon vollkommen unterscheidet. Eigene Codes und eine eigene Sprache – ich musste öfter mal nachdenken. Eine Suche nach Sinn und Lebensentwürfen, die nicht wie bei uns vor allem von der Opposition gegen die Elterngeneration ausging oder den großen Überbau der Gesellschaftsveränderung hatte – eher den Wunsch, in aller Konsequenz das für sich Richtige zu tun.
Familienausflug an die Havel und Elbe. Dramatischer Reifenplatzer, so dass der Materialwagen kommen muss. Gelungene Fortsetzung der Fahrt mit nur einem weiteren, kleinen Zwischenfall: Girl Teenie hatte unter I-Music-Berieselung die Abfahrt verpasst – Google Maps hilft ihr umgehend aus der Patsche. Aufatmen im Paradies. Stille Dorfstraßen, ab und an hat ein Bäckerladen überlebt. Metallsucher ernten die Stoppelfelder ab. Unter einem wunderbaren Elbhimmel schwimmt ein Fischotter von dannen. Radwanderer im Abendlicht.
Helko Reschitzki, Moabit
Seit einer Woche, je nach Wolkenformation, immer wieder neues und außergewöhnliches Licht: hartkantig schattiert, als befände man sich in einem Expressionistenfilm; weichgezeichnet wie die Erotikstreifen der 70er; so, als hätten Monet und Pissarro nach einer gemeinsamen Bahnfahrt durch die Provence zusammen ein Bild gemalt … Gerhard-Richter-graue Himmel; die Moabiter Watteblumenkohlkopfparade …
… und am Samstag dann so, als würde eines dieser riesigen Stroh-Sand-Asche-Blei-Bilder Anselm Kiefers über mir zusammenbrechen:
Ich gerate am Schlachtensee von einem sehr starken Regen in einen Starkregen. Jeglicher Baumschutz geht sofort verloren, innerhalb weniger Minuten bin ich bis auf die Unterwäsche durchnässt. (Wie ich später feststelle, ist sogar die Tinte in meinem tief im Rucksack vergrabenen Notizbuch verschwommen.) Kleine Bäche strömen von überall her in den See, breiten sich dort wie braun-schwarze Cirrus fibratus aus. Damit ich nicht auskühle, setze ich mich in Bewegung. Treffe kaum Menschen. Die Farben und die Formen, durch die ich langschrittig schuhschmatze, sind zeitentrückt wie Höhlenmalerei.
Irgendwann zerbricht mein Schirm. Zum Glück bin ich da bereits in der Nähe eines konsumistisch erschlossenen Gebiets und kann mir so in einem Drogeriemarkt umgehend einen neuen kaufen. Das ist ja der coole Teil des Kapitalismus – wenn etwas kaputt geht, ist es in der Regel schnell zu ersetzen. Ich bedanke mich bei meinem alten Begleiter – und werfe ihn in den Müll. (In dem Land, in dem ich die ersten zweiundzwanzig Jahre meines Lebens verbrachte, hätte man jetzt aus den Speichen und Stoffresten eine Hollywoodschaukel für Nutrias gebaut.) Zuhause gehts in die Wanne. Der Regen schwächt ab, hört auf, ab und an dann wieder Schauer. Am Sonntag ist kaum noch etwas zu sehen vom Unwetter, der See so klar wie gewohnt.
Und ansonsten?
… kann ich erstmalig in aller Ruhe und aus allernächster Nähe ein Mandarinententenjunges beobachten. Das kommt mitsamt seiner Mutter direkt vor meine Buchtbank geschwommen, wo sich dann beide auf einem Stapel abgesägter Äste in der Sonne putzen …
… ist einer der Kormorane zum alten Baumstamm zurückgekehrt …
… fasziniert mich am Dienstag ein tiefdunkler Schlachtensee. Wie ein Mitschwimmer erzählt, hatte es in der zweiten Nachthälfte heftig geregnet. Die Niederschlagswucht spülte die vom samstäglichen Starkregen freigelegte Muttererde in den See, die sich dort auf dem Grund absetzte und alles schwarz aussehen lässt. Das Wasser ist dabei klar wie immer. So etwa habe ich noch nie zuvor gesehen …
… schaue ich die finale Staffel von THE 100 zuende. Die dreizehn letzten Überlebenden der Ausgesetzten müssen sich entscheiden, ob sie als Menschen auf der Erde weiterleben oder in eine nicht-körperliche, unsterbliche Existenzform transzendieren wollen. Alle entscheiden sich fürs Menschsein. Hund Picasso kläfft vor Freude.
Christoph Sanders, Thalheim
In der Nacht leichte Schauer, milder Tagesbeginn. Sonntagsgefühle. Wenn der Reifenlärm von der Landstraße und die Flugbewegungen fortfallen, wirkt alles unglaublich friedlich. Nach der gestrigen Fahrt eine angenehme Müdigkeit und das typische Ziehen in den Beinen – Zeichen für eine gute Belastung. Inneres Sammeln für die morgige Abreise; es geht für zwei Wochen in die Ebene bei Bad Wilsnack … Pilgerweg und Wunderblut – wovon soll der Prignitzer sonst leben?
Montag, gegen acht, das Haus im tiefen Schlaf – Feriendividende. Nachts angenehm, kaum Mücken. Die Wilderdberen wachsen immer noch nach. Zu meiner Überraschung entdecke ich in dem von uns für verlassen gehaltenen Nest zwei ganz junge Tauben. Diskretes Brüten. Jetzt sitzen sie da Vis-à-vis. Ich höre den elterlichen Ruf beim Anflug – Vater und Mutter kehren kurz zur Fütterung ein. Nach dem Sencha Bohnenkaffee. Den bekam Barlach nur an Feiertagen (lese gerade Fühmanns „Das schlimme Jahr“). Mal sehen, was sich um Wilsnack kulturell finden lässt. Zumindest ein Fahrradbauer kann fest mit meinem Besuch rechnen. Inzwischen ist auch der Rest der Familie erwacht – und verspürt urplötzlich die Dringlichkeit einer Johannisbeerernte. Letzte Mikrometer auf dem Weg zur Abfahrt.
René Schwettge, Lehnitz
Es regnet, sprüht eher sehr fein, legt sich fast unmerklich auf alles, sickert langsam ein und weg und überzieht alles mit Schimmer, Straßen werden Spiegel, die S Bahn fährt nicht. Es ist still für 1 Sonntag mittag. Die Wolkendecke wird schleierig und lässt mehr Sonne durch. Betrachtet man nur 1 Ausschnitt des Waldbodens, siehts nach künstlichem Licht aus. Viel scheint satt und zufrieden. Friedlich hier und langsam. Emma erst recht. Gestern war der Mittlere Weinschwärmer zu Besuch und hielt mir sein hübsches Fellkleid vor die Nase. Was Natur sich so ausdenkt. Gesagt hat er nichts. Wir haben zusammen geschwiegen. Leise lief ne gute Musik. Und paradoxerweise fiel mir „Schlagt sie tot“ von Georg Kreisler ein. Bevor ich ins Bett schlurfte, hab ich den schönen Schwärmer an die Luft gesetzt. Jetzt denk ich an Engel in Fell.
Frank Schott, Leipzig
Freitag, früher Nachmittag. Blutspende an unserer Uniklinik. Meine vierzigste Spende. Die Voruntersuchungen sind abgeschlossen, jetzt warten eine Frau und ich, dass wir zu einer der Liegen gerufen werden. „Auch regelmäßig hier?“, frage ich. „Nein, nicht sehr häufig. Zu niedriger Eisenspiegel“, erklärt sie entschuldigend. „Das Problem habe ich auch“, sage ich. „Als Mann?“, fragt sie verwundert. Ich zucke mit den Schultern. „Deshalb nehme ich ein paar Tage vor dem Spenden sicherheitshalber Eisentabletten“. Sie schüttelt sich. „Die bringen meine ganze Verdauung durcheinander.“ Ich nicke: „Ja, geht mir genauso.“
Ich habe keine Ahnung, warum mein Wert eher niedrig ist. Ich meine, gelesen zu haben, dass es am Sport liegen könnte. Ich nehme Eisen nur wegen der Blutspende und bin jedes Mal froh, wenn ich die Tabletten wieder absetzen kann. Die zerhauen meine Darmflora schlimmer, als es andere von Antibiotika berichten.
Dieser Termin bekommt mir nicht so gut. Sowohl am Freitag als auch am Samstag fühle ich mich schlapp und mir ist leicht schwindelig. Vor der Blutspende war ich glücklicherweise gleich am frühen Morgen joggen. Den Tag darauf setze ich aus. Am Sonntag wage ich mich wieder an die erste Runde. Weil es den ganzen Samstag über geregnet hat, ist der Staub aus der Luft gewaschen. Die Waldwege sind weich, aber auch schlammig. Meine Schuhe und Waden sehen entsprechend aus. Mir egal – ich laufe lieber über matschige Böden, als auf Asphalt oder Pflastersteinen.
Wieder zu Hause, werfe ich einen Blick auf die zwei Königskerzen, die sich vor unseren beiden Lebensbäumen angesiedelt haben. Die sind über 1,50 Meter hoch und blühen kräftig gelb. Mal sehen, ob einige der Samenkapseln Wurzeln schlagen werden. Als er etwa sieben Jahre alt war, grub mein Sohn eine Königskerze aus einem Stück Boden aus, auf dem in Kürze Bauarbeiten beginnen sollten, und pflanzte sie in unserem Vorgarten ein. Seitdem freuen wir uns über jede weitere Nachfolgerin, die hier wild wächst.
Christoph Sanders, Thalheim
Samstags bei milder Bewölkung und ausgesprochen ruhiger Fauna erste Nachbeben aus dem Maschinenraum Berlins – die politische Landkarte hat Probleme bei der Ortsbestimmung. Die Försterin des Jahres heißt Monika Runkel, kommt aus Hachenburg und wird für ihre innovativen Lösungen zur Wiederbewaldung ausgezeichnet. Entgegen des Langzeitrends erleben die Evangelikalen hierzulande gerade regen Zulauf usw. Kuriose Zeiten. Auf der Heuwiese vier junge Störche. Bis zum Abflug Mitte August müssen sie ordentlich Gewicht machen. Ihr Alter erkennt man auch am leicht unsicheren Gang. Haus und Garten in tiefer Ruhe – am Abend zuvor jagte die Familie hier noch die norwegische Wildkatze ums Grundstück.
Sehr zufrieden von der Rhein-Lahnrunde via Koblenz zurück. Hatte mir vorher neue Reifen besorgt und einen direkt aufgezogen. Viele Zufallsgespräche mit anderen Radfahrern – alle genau wie das Wetter: heiter, entpannt, luftig. Im Koblenzer Oxfam gratuliert mir eine Dame zur Wahl eines hellblauen Hemdes; ich nehme außerdem Bruckners Sechste mit Wand und dem NDR Sinfonieorchester mit.
Auf einem Laster der Müllabfuhr lese ich den Spruch: Um etwas für die Umwelt zu tun, würde es genügen, den Müll zu trennen, statt sich an Bäume zu ketten. Das ist doch mal ein praktikabler Ansatz. Nachhaltig wäre es, wenn am Ende gar kein Müll mehr entstünde und Recycling zur verbindlichen Maximalregel würde. Ich sehe zwar positive Entwicklungen, doch die gehen völlig unter angesichts der schieren Masse an Verpackungen jeder Art – oder den nicht enden wollenden Reihen von Gebrauchtwagen auf den Hinterfeldern von Koblenz-Lützel. In der Volkswirtschaftslehre bezeichnet man das als Allokationsproblem und setzt als Lösung auf funktionierende Märkte. Ein großer Schwachpunkt des Kapitalismus ist dessen Ziellosigkeit, weshalb man auch nie sagen kann: Ziel erreicht, jetzt bitte anderes Ziel verfolgen. Angetrieben durch eine stetige Beschleunigung der Verbrauchszyklen ist permanenter Konsum zu unserer obersten Bürgerpflicht geworden. Tendenziell inkommensurable Bereiche bleiben dabei außen vor, oder werden als nachrangig abgetan, ganz gleich, wie wichtig sie auch sein mögen: Gesundheitsprävention, Umweltschutz, das Musische … Die Maschine ist gefräßig, zieht alle Kräfte auf sich, will ständig gefüttert werden. All das sind Probleme, die niemand ernsthaft angeht – solange es keine akuten Krisen gibt.
Die Leber, die ich mir abends zur Pasta mache, vertreibt umgehend alle empfindlichen Nasen aus unserer Küche (lediglich der Sohn hält stand). Danach gehe ich satt und zufrieden ins Musikzimmer, wo ich zur Regeneration Pai Mu Tan trinke. Die Bruckner-Einspielung aus dem Oxfam-Laden ist klar, präzise und irgendwie konstruktivistisch.
Frank Schott, Leipzig
Ich will meine Frau vom Bahnhof abholen. Da noch ausreichend Zeit ist und der Zug zudem Verspätung hat, gehe ich die drei Kilometer zu Fuß.
Vor dem Konsum steht ein Tippelbruder. Ein Passant will ihm eine Freude machen und bietet ihm seine noch halbvolle Wasserflasche an. Der Mann winkt ab. „Nimm ruhig“, sagt der Passant. Der Mann schüttelt energisch den Kopf – wie ein Kleinkind, das eine bittere Medizin verweigert. Dann hebt er die eigene Flasche und verkündet stolz: „Altenburger Bock.“ Da hat Wasser keine Chance.
Am Wilhelm-Leuschner-Platz werfe ich einen Blick auf das Gelände der ehemaligen Bowlingtreffs. Alles ist eingezäunt, verfällt, wuchert zu. Der Platz ist die letzte große Freifläche im Stadtzentrum. Am südöstlichen Ende ragen Baukräne in den Himmel. Da das alte Gebäude in der Lortzingstraße marode und zu klein war, entsteht hier gerade das neue Naturkundemuseum. In die drei oberirdischen Stockwerke kommen Kasse, Garderobe, Museumsshop, Büroräume und eine Restaurationswerkstatt; die Ausstellungen werden auf drei unterirdischen Etagen zu sehen sein. Bereits in der Planungsphase explodierten die Baukosten.
In der Innenstadt herrscht Trubel: Leipziger Weinfest. Warum dort aber eine Blaskapelle mit böhmischen Weisen aufspielt, will sich mir nicht erschließen. Die bedauernswerten Musiker vom „Frischluft Projekt“ werden denn auch von den Weintrinkern komplett ignoriert.
Weiter. Zwei Junggesellenabschiedsgruppen lassen sich gegenseitig Spielchen spielen. Die eine Gruppe trägt selbstgestaltete weiße T-Shirts mit irgendwelchen Sprüchen. Die andere läuft in den Trikots von Lok Leipzig auf. Schräg. Dann bin ich am Bahnhof. Viel zu früh. Also trinke ich zur Überbrückung einen Kaffee und esse dazu ein trockenes Rosinenbrötchen.
Christoph Sanders, Thalheim
Die Kaffeemaschine des Tegut-Markts in Limburg ist von Passanten und Handwerkern umlagert. Es dauert, bis die Angestellte die drei Liter Bio-H-Milch nachgefüllt hat. Was erduldet man nicht alles für einen guten Koffeinshot – und der hier ist um Welten besser als der Ausfallstraßen-Espresso im Aral in Kelsterbach, dem man anmerkt, dass es dort keine Konkurrenz gibt. Donnerstag – um 7:30 Uhr hab ich einen Termin im Radiologiezentrum. Neben dem Aquarium hängt dort eine kleine Version der Graskunstabscheulichkeit, die ich im Frankfurter Flughafen sah – die Leute sollen wohl beruhigt werden, bevor sie ihre vernichtende Diagnose bekommen. Der Weg nach hause ein vollkommen harmonisches Zurückgleiten durch von milder Morgensonne sanft beschienene Baumgruppen und Höhenzüge.
Der Freitagmorgen bewölkt und unglaublich angenehm – nicht zu warm, nicht zu kalt; die Türen stehen offen, während ich die Post erledige. Das Knie ist seit zwei Tagen wieder normal, die rechte Nackenhälfte aber noch leicht verspannt. Ich müsste wohl mehr Kraftübungen machen. Auf der Straße treffe ich später meinen alten Radmechaniker: Diabetes B, Hämatome an den Händen, Rentner. Mit seinem wenigen Geld kommt er kaum jeden Tag auf eine richtige Mahlzeit. Wenn mal ein Laufrad krumm ist, besuche ich ihn (und seine Schildkröte) in der kleinen Wohnung an der alten Lahnbrücke. Immer wieder fragen ihn Leute wegen Reparaturen an – er hätte viel zu tun in einer einfachen Werkstatt. Die letzte im Ort hat schon vor langer Zeit dicht gemacht. Aber mit ungeheizten 30 Quadratmetern in der Altstadt, zieht keiner mehr einen Hering vom Teller. Hier und da beginnt gerade die Ernte – die Strohrollen glänzen in der Sonne.
Die Tour-Etappe mit identischem Wetter wie bei uns: durchziehende Wolken, leichter Wind und mildwarme 24 Grad. Trotzdem packen sich die Fahrer Eisbeutel in den Nacken – die Menschmaschine muss auf optimaler Betriebstemperatur bleiben. Völlig irre, wie bei dieser Sportart der Organismus bis ins Letzte ausgelesen, ausgereizt und ausgepresst wird. Etwas über vier Stunden gings durch bretonische Dörfer. 48 km/h im Schnitt – da führe ein Jan Ullrich hinterher …
Am Abend kehrt Ruhe ein. Der Teenie backt einen Schokokuchen, meine Frau sagt, das sei auch eine Pubertätsmode. Ich will endlich meine Johannisbeertorte – aber das Patriarchat hat hier keine Chance mehr.
Lore Morr, Parchim
Bevor mich morgen mein Sohn abholt und zu sich nach Lüneburg mitnimmt, mach ich die Wohnung und den Balkon sauber. Auch wenn ich nur einen Tag weg bin, muss hier alles in Ordnung sein, wenn ich wiederkomme. Das mach ich schon immer so.
Die ersten Tomaten sind reif. Ganz klein sind die, da hab ich wohl eine Minisorte erwischt. Beim nächsten Mal pass ich besser auf. Mal schauen, wie groß die Tomaten in Lüneburg sind – wir hatten die Pflanzen vor ein paar Monaten gemeinsam in Parchimer OBI gekauft.
Ich war schon ewig nicht mehr in Lüneburg und möchte ein letztes Mal dorthin, ich werde in drei Monaten 80, wer weiß, wie lange es mich noch gibt. Geplant haben wir nichts für morgen, wir machen es uns einfach gemütlich.
Susanne Kasperowski, Gadebusch
Außenkamera Garten, 23:20:45-23:21:15, 09-07-25
Christoph Sanders, Thalheim
Seit Sonntag kühles atlantisches Wetter. Möge es bitte ein Weilchen so bleiben, ich mag das so. Der Garten ist eine feuchte grüne Wand. Die Trompetenblume in voller Pracht. Die bei den Amseln beliebten Früchte der Eberesche verfärben sich bereits – normalerweise sind die erst im August soweit. Die kultivierte Sorbus aucuparia lässt sich von der Wilform gut durch ihre hellere Beerenfarbe unterschieden. Sie ist äußerst vitaminreich, die enthaltende Parasorbinsäure nur in großen Mengen schädlich. In meinem „Urania Naturführer“ wird sie auch als Vogelbeere bezeichnet (im „Kosmos“ jedoch nicht) und als „typisch für Lehmböden und felsige Standorte im Hochgebirge“ beschrieben – womit unser Garten kaum gemeint sein kann.
Während die Teenies ihr Nichtstun kultivieren, geht es für mich mit der silbernen Gazelle in die kleine Stadt, zuvor werden noch die Wünsche für das Mittagessen (à la carte) eingesammelt. Ab 14 Uhr die Übertragung der 4. Etappe der Tour de France von Amiens nach Rouen. Dank der phänomenalen Qualität der Aufnahmen von France Télévisions sieht man jedes Dorf en détail, wird so zum Beifahrer. Man kann den Stream anhalten, vor- und zurückspringen – ein Traum! Pogačar gewinnt den Sprint mit einer Radlänge Vorsprung.
Der Sohn ist hochzufrieden vom Abi-Urlaub mit Kumpels aus Kreta zurückgekehrt und die Juniora müde und glücklich vom Reiterhof – die zickenden Gleichaltrigen ihrer Schule sind vergessen. Für die französische Austauschschülerin gings heute via FRA-Airport wieder nach hause. Wie Girlanden schwebten die Flugzeuge ein und aus. Bei Air Serbia eine lange Schlange. In der Wandelhalle von Terminal 2, der in seiner Bogenkonstruktion an einen primitiveren Bahnhof erinnert, hängt ein riesiger grasartiger Teppich. Vielleicht soll das ja den Grünen Fußabdruck symbolisieren. Jet Fuel ist unsichtbar – die Farbe des Himmels bleibt Azur. Alles ist sauber, denn das Bild ist sauber. Kognitive Dissonanzen in der Umweltzone Frankfurt/Main.
Ein wunderschöner, milder Tag. Arbeite mit dem Sohn ein wenig im Garten. Erdbeeren schrumpfen zu Trockenfrüchten. Kohlweißlinge schwärmen am Lavendel aus. Evenepoel gewinnt das Zeitfahren.
Helko Reschitzki, Moabit
Am Montagabend ein kurzes und heftiges Gewitter mit einer Stunde Starkregen; da ich zuhause bin, eine gute Gelegenheit, meine beiden Palmen mal auf dem Balkon und ohne Wasserwerkhilfe abbrausen zu lassen. Die Fette Henne leistet ihnen dabei gute Gesellschaft.
Nachdem ich mich im April bereits innerlich von meinen geliebten Brombeersträuchern auf der Rehwiese verabschiedet hatte, weil kaum noch ein Fünkchen Leben in ihnen schien, haben Luft, Regen, Sonne und Boden inzwischen deren Selbstheilungskräfte aktiviert, so dass die Hecke wieder sattgrün und voller Blüten dasteht. Mutti Natur hat es einfach drauf, da kann man nur demütig Danke sagen.
Am Schlachtensee das Seil am Tarzanbaum (Nord) nun mit Griffen versehen – da werden die Hormonteufel künftig noch mehr Spaß haben. Der Dienstagmorgen bedeckt – das Temperaturjojo zurrt auf 13 Grad runter. Über dem Wasser immer wieder leichte, nebelartige Feinregenschübe. Schwalbenwetter. Zwischen Schilfgürtel und Buchtbank steht ein Graureiher. Bereits Sekunden vorher erkenne ich an einer ganz bestimmten nervösen Anspannung seines Körpers, dass er gleich losfliegen wird. Die Haubentaucherjungen sieht man nur noch bei der Fütterung etwas länger in der Nähe ihrer Eltern.
Unsere lose, tageszufällige Mitschwimmertruppe vom Vorjahr ist jetzt wieder vollzählig, auch wenn noch nicht jeder jeden gesehen hat. Mir fehlten zuletzt der Ex-Siemensmanager und die Ärztin, die ich nun beide traf – allseitige Freude. Das allmorgendliche Baden und die kleinen Gespräche schaffen eine angenehme Verbindung.
Nach dem Tischtennis am Abend platt. Wir haben früher aufgehört, damit alle zum Anstoß zuhause sind. Die haarsträubende Fehler in der Rückwärtsbewegung und die Strafraumhaken von Ann-Katrin Berger halten mich wach – Deutschland rumpelt gegen die Däninnen ein 2:1 über die Zeit. Das ungewöhnlich lange Warten auf das VAR-Team zerstörte komplett den Spielfluss. Das Nicht-Aufschalten der Zusatz-Kameras auf das TV-Übertragungsignal ist äußerst ärgerlich.
HEL Toussaint, Prenzlauer Berg
Grafik: Helko Reschitzki
Frank Schott, Leipzig
Sonntagmorgen. Am Vorabend ging ich früh ins Bett und bin deshalb bereits um halb sieben munter. Das heißt: Laufschuhe schnüren und auf dem Rückweg Brötchen für das Frühstück mitbringen. 7:15 Uhr, es sind nur sehr wenige Menschen unterwegs: ein paar Radfahrer und Leute mit Hund. Ein Betrunkener stapft wie ein Seemann bei Sturm über die Brücke an der Pferderennbahn. Am Deich steht die Wegwarte in voller Blüte, die blasslila Köpfe Richtung Sonne geneigt. Die Spielplätze sind um diese Zeit noch leer.
Die Klingerbrücke ist gesperrt. Damit ist die zweite wichtige Brücke vom Stadtzentrum in Richtung Westen momentan nicht nutzbar. Gut für mich – so kann ich ohne auf Ampeln oder Autos zu achten, über die Straße huschen. Interessanterweise wird hier, obwohl Sonntag ist, gearbeitet. Da trotz Ferien- und Urlaubszeit im Berufsverkehr nach wie vor großes Chaos herrscht, will man schnell fertigwerden.
Ich laufe weiter in Richtung Stadion. Die Papierkörbe quellen über vor Abfall und leeren Flaschen. Bierflaschen sind keine dabei, die Pfandsammler waren schnell. Dafür jede Menge Sektflaschen. Trinkt man wieder Sekt als Jugendlicher? Keine Ahnung. Ich drehe die Runde um den Festplatz, wo gerade jede Menge Ausschankwagen aufgebaut werden. Nächste Woche ist hier das Konzert von Robbie Williams. Auf den gemauerten Brüstungen, welche die Freifläche umschließen, schlafen zwei junge Männer ihren Rausch aus. Die Fans von Chemie waren auch wieder unterwegs: Alle rot-weiß angestrichenen Lampen und Verteilerkästen leuchten jetzt in grün-weiß. Schön, wenn man ein Hobby hat.
Auf dem Rückweg sehe ich dann etliche Jogger. Ich unterteile sie in „Fanatiker“ und „Schlurfer“. Die Fanatiker sind muskulöse, maximal 30-jährige Kerle (keine dürren Langstreckenläufer), die vermutlich für Hyrox-, Strongman- oder Ninja-Warrior-Wettkämpfe trainieren. Natürlich im Muskelshirt, damit man auch ja jede der Wölbungen sieht. Da kann ich nicht mithalten. Die Schlurfer sind etwas schneller als Fußgänger unterwegs. Mit meinen gut 11 km/h Schnitt überhole ich sie und erfreue mich daran, dass ich es kann.
Am Himmel kreist ein Raubvogel. Ein paar Krähen hüpfen über den Weg. Spatzen zwitschern. Eine Amsel schleppt etwas Großes davon, vielleicht Material zum Nestbau. Nach gut 52 Minuten und knapp 10 Kilometern stehe ich vor unserem Bäcker. Auf der Straßenbaustelle gegenüber liegen bestimmt über hundert Flaschen – einige noch am Stück, die anderen in Scherben.
Christoph Sanders, Thalheim
In der Nacht auf Sonntag erwische ich nach 320 Kilometern und 15 Stunden auf dem Rad um 0:21 Uhr in Speyer die letzte Bahn nach Norden. Wegen einer Prellung am rechten Knie musste ich die Tour nach ungefähr der Hälfte vorzeitig beenden; meine drei Kameraden vom Kontrollpunkt Aral kreuzen nun ohne mich weiter durch die pfälzische Pampa. Nach einem Aufenthalt in Ludwigshafen, wo ich mich eine Stunde auf dem leeren Marmorbahnhof herumtreibe, komme ich um 2:43 Uhr in Mainz an. Jetzt brauche ich noch einen Schlafplatz bis zum Morgengrauen, danach geht es weiter nach Frankfurt, wo um 7:21 Uhr mein nächster Zug abfährt.
Neben der Ausfallstraße nach Wiesbaden werde ich fündig. Dort haben sich am Parkplatz eines Metro-Markts Mitarbeiter in einem ausrangierten Unterstand für Einkaufswagen eine Art Pausenlaube gebaut. Zwei Gartenholzbänke, ein Tisch, den ein Werbeplakat für Wein bedeckt, überall Zigarettenstummel. Entscheidend sind die Bank und etwas Schutz vor dem Wind. Ich liege äußerst unbequem auf den drei Holzplanken. Wegen der Zugluft kreuze ich die Arme, die Beine sind fest aneinander gepresst. Mehr als Dösen ist da nicht drin. Außerdem punktiert der Krach vom nahen Autobahnzubringer alle Schlafversuche: Das Beschleunigen eines Lamborghinis; gefolgt von einem anderen Sportwagen, der mit seinen durchdrehenden Antriebsrädern solange Kreise brennt, bis das Reifenquietschen von Schotterprasseln abgelöst wird – auf Plattreifen rumpelt das Auto an mir Richtung Stadt vorbei. Später dann noch ein paar schreiende Jugendliche, die sich im Vollsuff nichts schenken …
Schon kommt die Morgenbrise auf, der Himmel ist tiefblau. Es wird kühler und kühler, ich wechsle die Liegerichtung, das Zittern bleibt. Ich muss aufstehen und wieder aufs Rad. Arme ausschütteln, eine halbe Tafel Rittersport Mandel. Und weiter: Im allerersten Licht des Tages entlang der Autobahn durch die Felder auf Frankfurt zu. Um kurz nach fünf geht über dem Wiesbadener Kreuz die Sonne auf.
Das Knie schmerzt nach wie vor – weil ich kurz vom Navi abgelenkt war, bin ich am Abend zuvor mitten im Odenwald auf einen, zum Glück stehenden, Transporter geknallt. Die Frauen auf der anderen Straßenseite waren sehr über meinen Zustand besorgt. Die nächsten Tage muss ich die Gabel vom Rad richten lassen, wie es dann mit dem Knie aussieht, wird sich zeigen. Ich bin eine Dreiviertelstunde vor Abfahrt am Bahnhof und kann so noch das wunderliche Treiben in der von der Frühsonne durchfluteten Halle bestaunen: Überall klackernde Rollkoffer, Abschiede, Ankünfte, Pfadfinder …
Am Start- und Zielort Gießen belohne ich mich mit einem Gang über den gewaltigen Flohmarkt. Ich bekomme Audio-Leerkassetten und ein originalverpacktes Rasierwasser. Die durchziehende Regenfront hätte mich auf dem Rad voll erwischt. Am Sonntag Regeneration. Das alte Davidoff vom Trödelstand rundet die Rasur ab.
Frank Schott, Leipzig
Einerseits hatte ich nach den heißen Tagen einfach keine Kraft zum Laufen, andererseits war nach dem Temperaturrückgang Ende der Woche optimales Wetter zum Radfahren. Es wehte ein leichter Wind, die Sonne verschwand immer mal wieder hinter Wolken – perfekt. Mein Ziel war der Hainer See, ein gefluteter Tagebau südlich von Leipzig. Die Entfernung beträgt knapp 20 Kilometer. Auf geht’s.
Zunächst fahre ich die Pleiße entlang, die wegen des hohen Grases am Uferrand kaum zu sehen ist. Im Agra-Park, teils Messegelände der DDR-Landwirtschaftsausstellung „agra“, teils historischer Park, halte ich zum ersten Mal an. Das Weiße Haus mit seinem Teich ist zu jeder Jahreszeit ein Hingucker, und nicht nur das – hier befindet sich auch das Standesamt von Markkleeberg. Heute sehe ich dort aber keine Hochzeitsgesellschaft beim ansonsten üblichen Fotoshooting.
Auf dieser Tour haben es mir die kleinen Dorfkirchen besonders angetan. Als erstes stoppe ich für die Katharinenkirche Großdeuben. Vom Pleißedamm aus blickt man direkt über das Grün auf das 1716 gebaute Gotteshaus. Die Orgel stammt aus der Kirche zu Cröbern, die in den 1960er Jahren dem Tagebau Espenhain weichen musste.
Über die Großbaustelle der B2/A38/A72, die an dieser Stelle nur für Radfahrer zugänglich ist, geht es zunächst nach Böhlen. Ich erinnere mich an den Fußballverein Chemie Böhlen, der zu meiner Jugendzeit in der zweiten DDR-Liga spielte. Und ich muss daran denken, dass viele Mannschaften den Tätigkeitsbereich der Trägerbetriebe im Namen trugen (und manchmal heute noch tragen). Meist selbst erklärend wie Lok Leipzig, Turbine Potsdam, Wismut Aue, Traktor Schwerin, Stahl Riesa, Post Brandenburg oder Hydraulik Parchim.
In Böhlen reizt mich nichts, also fahre ich mit angenehmen 30 km/h bis nach Rötha. Ich kann nicht anders – der kleine Schlossteich am Stadtrand lockt und muss umrundet werden. Auffällig sind die alten Weiden. Mich erinnern sie an drei Mütterchen mit lange Haaren und vom Gram gebeugten Körpern. Oder an Wollhaarmammuts. Ich bin mir nicht sicher. Außer mir ist niemand in diesem kleinen Park.
Nächster Stopp in Rötha ist die Marienkirche, die als Wallfahrtsort errichtet und um 1518 fertiggestellt wurde. Sie hieß zunächst, was ich viel origineller finde, „Kirche zum heiligen Birnbaum“. Benannt nach dem Baum, unter welchem einem Schäfer die Mutter Gottes erschienen sein soll. In der Kirche befindet sich eine der Orgeln Gottfried Silbermanns, einem der bedeutendsten Orgelbauer des Barockzeitalters.
Von Rötha ist es nur noch ein Katzensprung bis zum Hainer See. Mit einer Fläche von 600 Hektar und dem 15 Kilometer langen Rundweg zählt er zu den größten Braunkohleseen im Leipziger Südraum. Das Nordufer ist so dicht mit Eigenheimen und Ferienhäusern bebaut, dass ich den Abzweig zum Strand übersehe, wo ich eigentlich etwas essen wollte. Da ich nicht den gleichen Weg zurück fahren möchte, suche ich online nach einer Imbiss-Alternative. Ich entscheide mich für das 20 Kilometer entfernte Naunho.
Über Espenhain geht es nun also Richtung Störmthaler See. Weil der Verkehr ziemlich heftig ist, nutze ich den Radweg, der einen kleinen Umweg darstellt. Laut Streckenplan würde ich nicht mehr 12:06 Uhr, sondern erst 12:15 Uhr in Naunhof eintreffen. Das hole ich auf, denke ich mir. Aber dann treffe ich eine verhängnisvolle Entscheidung – ich mache einen Abstecher zur 1741 fertiggestellten Kirche in Dreiskau-Muckern, was mich in immer unwegsameres Gelände führen wird.
Vermutlich dachte sich der Navigator, der Typ steht auf Natur und so, und jagte fortan mich über holprige und sandige Nebenstrecken. In Threna habe ich kurzzeitig wieder feste Wege unter den Rädern. Die dortige Kirche steht neben der Freiwilligen Feuerwehr. Teile des Baus sollen bereits im 13. Jahrhundert errichtet worden sein.
Danach wird es wieder ungemütlich. Google schickt mich auf einen steinigen Feldweg, der das gesamte Fahrrad vibrieren lässt. Nach wenigen Metern fegt es mein Handy aus der Halterung. Weil ich Angst habe, dass es mir im Sitzen den Sattel runterfetzt, fahr ich jetzt im Stehen weiter. Eine Mordsgaudi, wenn man wie ich mit einem Gravelbike unterwegs ist, auf normalen Straßenfahrrädern muss das die Hölle sein. Ich bekomme die volle Natur geboten: Pferdeäpfel am Boden, Kornäpfel auf den Bäumen am Wegesrand.
Weiter geht’s – hinein in den Sachsenforst. Hier kapituliert jetzt auch das Gravelbike – die Wege, die der Kartendienst vorschlägt, sind komplett zugewachsen. Keine Chance. Dass es hier aber auch menschliches Leben gibt, erkenne ich an einer Kindergartengruppe, die picknickt. Ich passiere ein Wasserwerk. Dann fahre ich noch über die Betonplatten eine Panzerstrecke, wie wir so etwas früher nannten, und bin am Ortseingang von Naunhof. Links neben dem Wohnhaus kauern drei Kühe und rechts balgen sich zwei Katzen.
Ziel ist der Naundorfer REWE, wo ich auf einen Imbisswagen hoffe. Irgendwo das Fahrrad anzuschließen, darauf habe ich keine Lust. Aber eines muss natürlich noch schnell sein: Der Halt an der Kirche. An der ist interessant, dass niemand genau weiß, von wann der Bau stammt. Es gibt wohl einen Stein, der ins späte Erste Jahrtausend datiert wird. Das Kirchenschiff – man beachte die vage Formulierung auf Wikipedia – soll um 1500 erbaut worden sein. Vermutlich hatten die Naunhofer damals andere Sorgen, als irgendwelche Unterlagen zu verfassen.
Ich bin am REWE. Alles da: Supermarkt, Pizzeria und dm – aber kein Imbiss. Die Suchmaschine rät zum Kaufland in Großpösna. Gut 30 Minuten Fahrzeit von hier. Was soll’s. Erneut werde ich über viele Nebenstraßen geführt. Kurzes Erschrecken: Nur noch 33 Prozent Akkuladung! Das kommt davon, wenn man Freund Google mit mobilen Daten und permanent aktiviertem Bildschirm einfach machen lässt. Also alles ausgeschaltet – GPS muss jetzt reichen.
Über schönste Radwege, die teilweise sogar asphaltiert sind, komme ich nach Fuchshain. Kurzer Blick auf die Kirche. Auch von der weiß man nicht alles: Unterlagen von 1521 verweisen auf Baumaßnahmen, doch Teile sind möglicherweise romanischen Ursprungs und bis zu 300 Jahre älter.
Da das Akku nun endgültig schlapp gemacht hat, verpasse ich in Großpösna den Kaufland und fahre stattdessen über die Ortsteile Liebertwolkwitz, Meusdorf und Probstheida auf dem kürzesten Weg nach hause zurück. Dort gibt’s nach knapp 70 Kilometern Fahrt ein belegtes Brötchen vom Bäcker. Abends belohne ich mich dann mit überbackenen Koteletts und Bandnudeln. Die habe ich mir verdient.
Christoph Sanders, Thalheim
Zündung des Diesels für Fahrdienste: Teenie plus Klappmatratze zur Klassenfahrt, Juniora zum Konzert, zwischendurch einen justierten Renner einladen. Volle Straßen. Morgen ist letzter Schultag, es sind Abreisen geplant, da sorgt der Hesse vor. Leichte und bewegte Luft. Die Blüten der Trompetenblumen schießen nur so aus den neuen Trieben. Und genau so ist für mich auch die Sonne schön! Später ein Gewitter in der Umgegend, bei uns aber nur wenig Niederschlag.
Mentale Vorbereitung auf die samstägliche 600-Kilometer-Tour um Odenwald, Rhein und Westerwald: Streckenstudium. Ich traf neulich den Veranstalter bei seiner Probefahrt und habe mich aufgrund der guten Wetterprognose noch im letzten Moment angemeldet. Mal sehen, wo ich unterwegs eine Bank zum Pennen finde, drei Stunden Schlaf sollten ausreichen, zumindest war es die letzten Male so.
Das kleine Sommervorspiel der Musikschule war wie immer fein – man kennt allmählich das Dutzend Mädchen und die paar Jungs. Besonders der Flötist, der bereits vor Jahren verblüffendes auf der Blockflöte zeigte, war im Duett mit dem Lehrer bei einer Hotteterre von Passacaglia in seinem Element. Ganz nebenbei brachte mir der Papiercontainer (!) der Schule ein Propyläenlexikon über Kunst und Architektur des 19. Jahrhunderts (die gewaltigen Aufgaben, die die Eisenbahn für Gebäude- und Städteplaner stellte!) Am Tonzug aus Italia ein neues Graffiti: Der Soldat, der sich die Hose herunterzieht.
Freitagmorgen. Zurück aus dem sonnendurchfluteten Garten. Neue Erdebeergewächse, die Türkentauben trotz Verlust des Eis weiterhin in ihrem Nest – zweiter Versuch. Man hört sie früh einander grüßen. Kettenwechsel am Langstreckenrad, Befüllung der Verschenkkiste mit Märchen-LPs (das Beste hab ich auf Tape gezogen). Sich klar sein, dass niemand niemand niemand mehr diese Platten auflegen wird, kein Kind mehr mit offenem Mund danebensitzt – irgendwie bitter. Es waren so gute Hörbuchproduktionen, so gut kondensierte Stoffe. Aber vermutlich haben unsere Großmütter und Eltern, die aus Büchern vorlasen, exakt das gleiche gedacht, als die Platten- und Kassettenserien von Benjamin Blümchen erschienen. Töröööööhh.
Dann gabs die typischen Aufgaben eines Vaters von Teenietöchtern, z.B. nach der Wäsche Aufspanndienste für Hotpants plus weitere Fahrdienste (nochmals Musikschule). Ansonsten musste ein verirrter Schmetterling befreit und das sehr gut geschriebene Meyrhoff-Buch zuende gelesen werden – fabelhaft, wie er die eigene kindliche Eindruckswelt auf dem Gelände einer norddeutschen Psychiatrie in den Achtzigern für uns nachvollziehbar macht. Letzte Justagen an Rad und Ausrüstung – es gilt, so wenig wie möglich mitzuführen.
Am Donnerstagmorgen nach zwei heißen Tagen beim Gang aus dem Haus plötzlich die Stimme Robert de Niros in meinem Kopf: „Thank God for the rain to wash the trash off the sidewalk …“ S-Bahnfahrt zum Schlachtensee – Schwimmen im Regen. Beim Vogelnachwuchs kann man weiterhin minimalste, daumenkinoartige Entwicklungen beobachten, was ich sehr spannend finde. Aber auch manch Homo sapiens ist interessant, so zum Beispiel der Mann, der gegen 6 Uhr mit einem Detektorstab das nördliche Ufer nach Geldstücken und Schmuck absucht. Er erzählt, dass er auf so einer Runde ungefähr 20 Euro macht – was mehr sein könnte, wenn er früher aufstehen würde, so ist immer schon einer vor ihm vor Ort. Er schätzt, dass es ungefähr 100.000 Sondengänger in Deutschland gibt – deren Zahl massig zugenommen hat, seit der Goldpreis durch die Decke geht.
Da sie befördert wurde, lädt unsere Bundeswehrkrankenschwester einen Mitspieler und mich nach dem Tischtennis auf ein Eis im Volkspark Wilmersdorf ein. Gelegenheit, ihr alle Fragen zu stellen, die ich schon immer mal jemandem aus dem BWK stellen wollte: Gibts Probleme, wenn der Patient ranghöher ist? Nö, der hat sich einzuordnen. – Tragt ihr Kittel oder Uniform? Kittel mit speziellen Schulterklappen. – Schwierigste Zivilisten? Familien, wo einer was hat, aber dreißig aufgeregte Cousins mit in die Klinik wollen (fliegen raus). Am Parkimbiss Reklame für Hundeeis – überall Parallelwelten!
Am Freitag habe ich wieder in Neukölln zu tun – der Gegensatz Karl-Marx-Straßen-Moloch zum dörflichen Böhmisch-Rixdorf mit seinen alten Stallungen, der Schmiede usw. ist wie immer atemberaubend. Nur ein paar hundert Meter liegen zwischen den unterschiedlichen Welten. Transitzone ist die Richardstraße, wo ich mir aus einem Antiquariat, das nur Biografisches verkauft, drei Bücher mitnehme: den Bericht der Magd Anna Widén, die, nachdem die Hofbesitzer gestorben waren, jahrzehntelang autark in der norwegischen Wildnis lebte, die Erinnerungen des berliner Arztes und Pockenimpfpioniers Ernst Ludwig Heim, sowie die Erfahrungen des englischen Chirurgen Joshua Samuel Horn über seine Zeit als Landarzt und Ausbilder der sogenannten Barfußärzte in der VR China in den 1950er und 1960er Jahren, die Bekämpfung von Infektionskrankheiten, die Verbindung von traditioneller chinesischer und moderner westlicher Medizin, die Kampagnen zur Verbesserung der Hygiene und Prävention und den Aufbau eines kostenlosen staatlichen Gesundheitssystems. Sich links verortende Westler im Gefolge Maos sind eine interessante Spezies; bin sehr gespannt, ob er auch Kritisches geschrieben hat …
Der einzige Mensch, den ich bislang im Trikot unserer Fußballfrauen gesehen habe (und das bereits zwei Tage vor dem ersten deutschen Spiel), ist die Asiatin in der Edeka-Sushibutze – was auf mehreren Ebenen einfach schön ist. Das Match gegen Polen ausgeglichen, unsere östlichen Nachbarinnen hervorragend eingestellt, am Ende entschied wohl die individuelle Klasse – Deutschland gewinnt 2:0. Das Tor von Jule Brand großartig – bei mir als Linksfuß doppelte Freude. Gute Besserung Giulia Gwinn! Nachdem ich den großen Fehler machte, die Partie in der ARD anzuschauen, werde ich nun wieder auf ausländische Sender zurückgreifen – das Niveau hiesiger öffentlich-rechtlicher Fußballreportagen ist immer noch unerträglich.
Frank Schott, Leipzig
Als Baum am Straßenrand muss man sich hier in Leipzig so einiges bieten lassen. Als Stadtbewohner auch. Ein wichtiger Abschnitt der Karl-Liebknecht-Straße ist seit dem 28. Juni wegen umfangreicher Arbeiten an Gleisen, Radweg, Leitungen und der Asphaltdecke gesperrt. Ein Wust aus Schildern und Baustellenzäunen rund um eine der Platanen sorgt dafür, dass der Verkehrsteilnehmer eher verwirrt als geleitet wird. Während Autofahrer frustriert zu wenden versuchen, machen Radfahrer das, was sie in Großstädten sehr oft machen: Durchfahrverbote und die vorgeschriebene Fahrtrichtung eher so als Empfehlung verstehen – also ignorieren …
Es wird noch interessant werden, wenn Müllabfuhr, Lieferfahrzeuge, Fußgänger, Radfahrer, PKWs, Gastronomen, Schienenersatzverkehr, Bauarbeiter und Ordnungshüter das Zusammenleben jeden Tag aufs Neue ausverhandeln …
Und der Baum? Wird’s überstehen.
Susanne Kasperowski, Gadebusch
Außenkamera Garten, 02:02:37, 02-07-25
Christoph Sanders, Thalheim
Der Mittwoch heiß und heißer, Maximaltemperatur bei uns 34° am Nachmittag. Mit dem Rad also piano. Wundervolle Luft auf der alten, von Bäumen gerahmten Bahntraße. Zinnoberrote Schmetterlinge. Bevor die Kaltfront Regen bringt, wird hier jetzt eilig Heu gemacht.
Auf dem Weg zum Geigenunterricht werden später in Limburg sogar 38,4° angezeigt. Das massenhafte Fällen von Alleebäumen unter fadenscheinigen Vorwänden rächt sich in einer Kessellage doppelt. Wohl denen, die noch Platanen haben. Absurd: Bäume werden von vielen gehasst, weil deren Laub die „sauberen“ Wege „verschmutzt“.
Im Funk heute nur Hitze- und Klima-Wording. Ich habe noch nie so oft hintereinander das Wort Asphalt gehört. Absolutalles in diesen Reportagen wird auf die Folgen der bösen hohen Temperaturen geschoben. Das kann man sich dann gruselnd im klimatisierten Auto auf dem Weg zum klimatisierten Supermarkt oder zum klimatisierten Urlaubsflieger anhören. Aber egal, was gesagt wird, ändern wird sich sowieso nichts, da ja die, die wirklich unter der Hitze leiden, keinerlei Lobby besitzen: die Alten, die Kranken, die Armen …
Während der Siesta sehe ich das Interview von Bastian Barucker mit dem Lungenfacharzt Dr. Voshaar. Endlich mal jemand, der ruhig und sehr glaubwürdig die Coronageschichte aus seiner selbst erlebten Kliniksicht erzählt. Sein Vorteil: Er hat kein politisches, sondern ein rein medizinisches Anliegen, redet dort also nicht um Fördermittel oder Wählerstimmen. Bei vielen anderen (v.a. mit Reichweite) muss man sich ja fragen, welche Interessen da tatsächlich im Spiel sind.
Abends lieg ich über eine Stunde unterm Spülabfluss. Fahrradlampe, Speiche, Pinsel und viel Essigreiniger helfen, den schwarzen Schlick zu entfernen und das Wasser wieder zum Ablaufen zu bringen.
Frank Schott, Leipzig
Mord und Totschlag am helllichten Tag – und das mitten in der Stadt! Vier schwarzgewandete Angreifer fielen mit brutaler Aggression über eine etwa zwanzigköpfige Gruppe her, die an einem maroden, teilweise mit Netzen gesicherten Industriebau Schutz gesucht hatte. Da flogen nicht nur sprichwörtlich die Fetzen.
Ich war auf dem Rückweg vom Einkauf, als mich ein Krawall über den Dächern nach oben blicken ließ. Vier Krähen attackierten eine Schar Tauben, stießen aus verschiedenen Richtungen in das wild flatternde Durcheinander. Die Angegriffenen taten dann etwas, das man eher von Beutefischen kennt: Sie formierten sich zu einem Schwarm – synchron bewegend, gefiedert, im Sonnenlicht flirrend. Das machte es den Krähen schwer, einzelne Opfer herauszupicken. Die Attacke schien dennoch erfolgreich gewesen zu sein – denn als sich alles wieder beruhigt hatte, sah ich, wie eine der Krähen auf dem Dach nach etwas pickte. Dabei segelten ganz langsam zwei weißgraue Federn zu Boden …
Christoph Sanders, Thalheim
Bei leichter, nördlicher Strömung hatten wir eine angenehme Nacht. Gerade lüftet das Haus durch. Da der Wind gleich von West neue Hitze bringen wird, schließe ich die Fenster wieder. Dann schnell zur Post. Die Trompetenblumen sind da.
Eine sehr schöne Montagsrunde bei leicht windigen, staubtrockenen 29°. Auf den Feldern hat die Ernte hat begonnen. Unterwegs helfe ich einem Sammler von Mercedes-S-Klassen, ein Cabriolet in die Ecke zu schieben. Ein Transporter aus Chemnitz wartet schon aufs nächste Modell. Das ein Faxgerät hat. Sowas war in den Neunzigern auf Wunsch Teil des „Business-Pakets“. Irre Parallelwelten … Bei Netto ist der gute Apfelsaft ausverkauft. Die Zuckerplörre steht noch tonnenweise herum: diverse Nektare, Schwippschwapp, Fakesäfte. Zitrone mit Minze ist billiger und ergibt eine fantastische Schorle.
Die Nacht auf Dienstag wunderbar frisch und trocken, dadurch keine Mücken. Bei Hitze vermehren die sich in der Dachrinne und dringen ins Haus ein. Gattin und Finanzfacharbeiter-Sohn machen sich auf ihren Rädern auf den Weg – er mit einem Klapprad und einer Art Halskrause, in der sich ein Airbag für den Kopf befindet. Eine Kappe gegen die Sonne hielte ich für sinnvoller. Der Abi-Sohn acht Tage mit Kumpels auf Kreta, die Töchter in der Beschäftigungstherapie – die letzten vierzehn Schultage Allotria, vorher wurden noch drei Klassenarbeiten in eine Woche gepresst. Verstehe das, wer will.
Schön heiß mit Quellwolken – die Wärme gefällt mir sogar auf dem Rad, da ist immer genug Luft. Scheint ein gutes Grasjahr zu sein.
Durch die Hitze entwickeln Wilderdbeeren ein besonders intensives Aroma. Solche Sorten bekommt man nicht im Supermarkt – nur die hellen, aufgespritzten, die kaum Geschmack haben. Die hessischen Selberpflückhöfe klagen zunehmend über Naschdiebe in großem Stil – ab und an sehe ich die niedergetrampelten Zäune. Wohl ein Preis, den man zahlen muss, wenn man auf Saisonarbeitskräfte verzichtet, weil auch diese mittlerweile den Mindestlohn für sich reklamieren …
Ich hatte am Nachmittag gerade einen 28-mm-Mantel auf das neue Hinterrad gezogen, und die gefetteten Konen justiert, als plötzlich ein neongelber Punkt über den Boden wandert. Zuerst denke ich, dass da eine Ameise ein Plastikpistolengeschoss in ihr Nest zieht. Doch die „Ameise“ hat Flügel und entpuppt sich als Raubfliege, die eine Kleinstpinne traktiert. Als ich mich nähere, lässt sie von ihrem reglosen Opfer ab, so dass ich es in Ruhe betrachten kann – was für wunderliche Farben! Gleich daneben liegt eine Taubenfeder – und nicht nur die, so dass mein Kind sogleich ausrief: Das Ei ist aus dem dürren Nest geplumpst!
Höchsttemperatur 34° – die Felder gilben im Stundentakt.
Christoph Sanders, Thalheim
Helko Reschitzki, Moabit
Samstag, high noon, 30°C im Schatten. Ich fahre mit der Ringbahn nach Neukölln. Auf der Hermannstraße fehlen eigentlich nur ein paar tausend wilde Katzen und man könnte sich in Istanbul wähnen. (Die Schultheiß-Nahkampfdielen müsste man sich noch wegdenken.) Der Gehweg flimmert vom grellen Hitzelicht. Die Süpermarketler, Cafés, Wettbuden, Barbiere, Nagelstudios, Shishabars und Bäcker voll. Aus einigen der Läden duftet es nach Gewürzen und Räucherstäbchen. 1-Euro-Shops, Mäc-Geiz, Import-Export … Trashland. Allgemeiner Müßiggang mit kleineren Aktivitätsinterruptionen, ein Geschäftchen hier, ein Geschäftchen dort. Auf den Spätkaufbänken rotgesichtige Almans. Sind überhaupt alle Hautfarben vertreten. Dazu hartflorige Akustikflokatis. Wenn man nur ab und an dort ist, hat das seinen Reiz, ist ein bisschen wie Urlaub. Man darf nur nicht nachdenken. Ist mir insgesamt aber allemal lieber als all die Kollwitzplatz-Bullerbüs.
Mein Ziel ist das Kulturzentrum der Spore Initiative, wo ich mir „Welto and the Sacred Bush – Lernen von karibischen Gärten“ ansehe. Welto kommt aus dem Kreolischen und ist ein poetischer Ausdruck für das Dasein im Schatten, die flüchtigen, nur schwer fassbaren Formen des Lebens, das, was sich dem Auge entzieht. Der heilige Busch verweist auf Pflanzen mit spiritueller Bedeutung, die sowohl medizinisch als auch rituell genutzt werden, auf von Generation zu Generation weitergereichte Heiltraditionen. Soweit der Kontext, von dem ich in guter Traditon erst einmal nichts weiß und somit alles unvoreingenommen auf mich wirken lassen kann.
Ein ornamentales Wandbild aus Zweigen, Blättern, Schoten, Samen. Der schummrige Kühlschrank mit Beuteln, Gläsern und Schalen, die aus Lars von Triers „Riget“ stammen könnten. Geisterwelten. Adern, Flüsse, Kräuterbäder. Mykorrhizafingerchen, die durch das Erdreich schlängeln. Rituale und Mutualismen. Die Hüterinnen der Kreisläufe. Die Netzwerke der Flüsterwurzeln. Das Gesehene spricht mich an, ich höre ihm aufmerksam zu. Mit Werken von Annalee Davis, Aurélie Derard, Françoise Dô, Isambert Duriveau,Mawongany, Kindern der École Clémence Caristan in Martinique, Guy Gabon und Florence Lazar. Werde nochmal hingehen – in die Texte und Filme eintauchen.
Sonntag am See die Wiederbegegnung mit zwei Mitschwimmern aus dem Vorjahr – die sind wie ich seit April im Wasser, da haben wir uns also immer verfehlt. Die Bayerin erzählt, dass sie eigentlich gerade nach Äthiopien wollte, wo ihr Bruder eine Landschule gebaut hat. Wegen des Bürgerkriegs (geschätzt 700.000 Tote und 4,5 Millionen Flüchtlinge seit 2020) riet das Auswärtige Amt davon ab, da man nur in Addis Abeba halbwegs für ihre Sicherheit sorgen könne – wenn überhaupt. Sie verzichtete: „Ich bin ja nicht 77 Jahre alt geworden, um als Geisel zu enden oder erschossen zu werden.“ Wir sprechen darüber, dass manche der großen Katastrophen der Jetztzeit bei uns kaum jemand wahrnimmt – nur was das Fernsehen berichtet, findet den Weg ins Bewußtsein … Freude auf das nächste Wiedersehen.
Unmittelbar danach treff ich den Sachsen – er und seine Frau (noch im Wasser) schwimmen jeden Morgen eine knappe Stunde das Ufer ab und kieken, was los ist. Abgleich unserer Tierjungenzählungen: Die frisch geschlüpften Stockenten sind eine Bucht weitergezogen – mal schauen, wieviele von den zehn Küken überleben werden. Vor der Fischerhütte die jungen Mandarinenten … Haubentaucher und Blässhühner … alle mit Nachwuchs, nur die Schwäne seit bestimmt 15 Jahren ohne – anfangs bauten sie noch Nester. Das war mir neu. Vogelfaunainformationsbörse. Entspannte und lehrreiche Morgen.
Christoph Sanders, Thalheim
Stiller Samstagmorgen. Nord-Nordwestströmung, klarer Himmel ohne Airlines, lautlose Akitvität der Schwalben. Es deutet sich ein für hiesige Verhältnisse echter, heißer Sommertag an. Ich genieße nach dem Aufstehen zwei Blätter Salbei – es ist sehr angenehm, darauf herumzukauen. Danach wilde Erdbeeren zum Sencha. Beim Pflücken en passant ein Dutzend Ahornsetzlinge ausgerissen – wenn ich das nicht mache, ist hier in zwanzig Jahren ein Ahornwald. Im Pfarrheim gegenüber bereits Geschäftigkeit – vermutlich Vorbereitung einer kleinen Hochzeitsfeier. Meine vier Schutzbefohlenen schlafen noch. Da sie die in unmäßigen Mengen vertilgen, werde ich ihnen jetzt Bananen besorgen. Die Dame des Hauses ist zwei Tage abwesend.
Ausgezeichnete fünfeinhalbstündige Sonnenrunde zum Rhein und zurück. Morgens noch ein merkwürdig schwummriges Gefühl mit verschwommenem Sehen und Ziehen im Bein – auf dem Rad ging es dann. Komme nicht aus der Puste, die Form stimmt, das macht Spaß.
Nach Wiederankunft und Duschen zwei Stunden Ballett in der vollen Westerburger Stadthalle. Schöne „Alice in Wonderland“-Aufführung mit Kindern und Jugendlichen im Alter von 8 bis 16 Jahren, darunter unsere Jüngste. Stolz auf mein Kind und die Ballettschulen, die mit siebzig Darstellerinnen so etwas hinbekommen. Abends England vs. Deutschland, zwischendurch Teenieabholdienst aus Limburg. Dort spielt das Finale keine Rolle: Altstadtfest! Durchdrehende Autoreifen, Alkoholströme usw. 3:2 n.V. – England ist U21-Europameister. Ulkig, dass solche Spiele, wenn die entsprechende Medienmassage plus Fanartikelpenetranz nicht stattfindet, kaum Tagesgespräch sind.
B E T T ! ! !
Windstille. Die Türkentaube verharrt auf ihrem lächerlich kleinen Nest. In der Nacht 20 Grad – da werden morgens zuerst einmal die Bäumchen gegossen. Obwohl der staatliche Rundfunk verkündet hat, dass wir Bürger auf das Wässern unserer Gärten verzichten sollen. (Wann kommt die Duschkontrolle?) Autowaschanlagen wird die Lizenz aber nicht entzogen. Von der Industrie ist ohnehin nie die Rede. Ich habe auf all meinen Fahrten der letzten Jahre übrigens nicht eine einzige Baumaßnahme an Wasserbehältern gesehen. Die Glasfaserverlegearmee hingegen verrichtet zuverlässig ihren Dienst.
Erholung von der heiteren Samstagsrunde durch den Westerwald: Maxsain, Bendorf, Stromberg, Ransbach und retour – 100 Kilometer. 28 Grad daheim, in der Ebene plus vier, fünf. Trockener, lebhafter Wind, darum kein so großes Hitzegefühl. Ich musste die Flasche nur einmal mit Medium Classic nachfüllen. Der Rheinpegel sehr niedrig – die Zuläufe führen zu wenig Wasser. Bei km 30 ein Insektenstich am Hals – in vollem Flug kollidiert und trotzdem blitzschnell zugestoßen. Juckreiz, keine Schwellung, nur ein punktueller, scharfer Schmerz.
Ein bukolisch orientierter Tag. Am Steinefrenzer Tonzug das neue Graffiti: „Die Armen haben es göttlich.“