Nach einem böigen, blauen Samtsag, am Sonntag eine hohe, leichte Wolkendecke und nahezu Windstille. Die Tour hat die Beschwerden nicht verstärkt, der Schmerz lässt insgesamt nach. Der Mais ist nun langsam auf der Zielgeraden – in ungefähr zwei Wochen wird das Winterfutter gehäckselt. Alles deutet auf ein sehr gutes Jahr hin.
Am Nachmittag endlich mal wieder ein gelungener Kindergeburstag – entspannte Eltern und Kids auf einer große Wiese in idyllischer Lage. Kein Zickenkrieg, kein Gruppen- oder Erwartungsdruck, null Unsicherheit. Das hast Du selten. Mein großes Mädchen war selig.
Am Abend haben die Frau und eine der Töchter einen Auftritt in der lichtlosen Limburger Kohlmeyer-Halle. Anlass ist der 130. Geburtstag der Marienschule, dargeboten wird Orffs „Carmina Burana“. Dafür wurde der Schüler- mit einem Erwachsenen-Laienchor gemischt, ein Orchester zusammengewürfelt und ein Profi-Tenor verpflichtet. Ich wollte selbstverständlich hin, wurde dann aber auf den Eintrittspreis hingewiesen: 120 Euro die Karte! Die „günstigen“ 50-Euro-Plätze lang schon ausverkauft. Ich verzichte – so viel würde ich nicht mal für die Berliner Symphoniker auf den Tisch legen. Freikarten gibts nicht. Normales Publikum wird dort kaum auftauchen – es geht ums Prestige mittelgroßer Provinzunternehmer, die sich so etwas leisten.
In der Nacht ein gleichmäßig rauschendes Regenband. Ich schneide die langen Gräser und anderes Grünzeug für die Hasen. Sie warten bereits am Gitter. 1. September, ein leichtes Grau und Friede. Unser Teenie in Le Mans heute mit ihrem ersten französischen Schultag. Es hat alles geklappt – Dank whatsapp ist man quasi in Echtzeit dabei.
Die Zeitschrift „agrarheute“ berichtet über den US-Importstopp von mexikanischen Rindern. Ursache ist der dortige Parasitenbefall mit der Neuwelt-Schraubenwurmfliege. Die Viehzüchter beziffern den Schaden seit November 2024 auf umgerechnet 733 Millionen Euro. Auch andere Länder reagierten: Im Juli 2025 hat Mexiko 73 Prozent weniger Kälber exportiert als im Juni. Solche Meldungen erklären, warum Rainer, Özdemir und Co. das Landwirtschaftsministerium so lautlos führen – das sind in der Regel eben internationale Märkte. Deine Stimmen musst Du Dir aber auf simpelste Weise lokal sichern.
Der Tagesverlauf mit schwül-feuchter Atlantikprägung. In Hausnähe tauchen vermehrt kleine Blaumeisen und Rotschwänze auf. Am Nachmittag zum nächsten Kindergeburtstag. Im Auto erzählt die Jüngste schwer beeindruckt von ihrer heutigen Deutschstunde, in der Borchert „Nachts schlafen die Ratten doch“ durchgenommen wurde. Farben als Symbole – das sei ja richtig anspruchsvoll. Sie sagt, dass sie Kurzgeschichten mag und googelt den Autor. Um 18 Uhr der Rossmann-Parkplatz wie leergefegt. Der vom Tedi auch. Die Apotheke daneben sendet über das Werbedisplay trotzdem ihre Botschaften. Bald sieht man darauf wieder Menschen in Pullovern, die nach einem Erkältungsmittel greifen. Ich hatte seit April keinen ernsthaften Infekt. Milder Herbstabend mit ultra-ödem Elternabend.
Helko Reschitzki, Moabit
Mitte der Woche ist es so schwül, dass die knackigen Salzbrezeln, die ich aus der Tüte in eine Schale schütte, innerhalb weniger Stunden weich werden. Klebrige Morgen, klebrige Tage; Schauer kühlen die Luft ab – die ist dann perfekt. Donnerstagfrüh ist es so neblig, dass man die Spitze des Funkturms nicht mehr sehen kann. Die LKW-Fahrer, die unsere Kauf- und Lagerhallen mit Nachschub versorgen, haben aber noch genügend Sicht und fädeln sich wie gewohnt in die Stadtstraßen ein. Vor, hinter und neben ihnen zieht der Rest der Malocherkarawane im motorisierten Individualverkehr – Tagesbusiness, Montag bis Freitag. In meiner Schlachtenseebucht ist vom Rauschen der Güter kaum noch etwas zu hören – hier wird die AVUS ganz leise. Die Automobil-Verkehrs- und Übungsstraße wurde 1921 als weltweit erste reine Autostraße in Betrieb genommen und durchschneidet seitdem den 10.000 Jahre alten Grunewald. „Die Fahrbahn ist ein graues Band / Weiße Streifen, grüner Rand.“
In der Bucht taucht von den drei verbliebenen Stockenten jetzt nur noch eine auf. Monatelang waren viele der Wasservogelbewegungen nachvollziehbar, oft sogar vorhersehbar, seit dem Verschwinden der Blässhühner nicht mehr. Die Lage auf dem Schildkrötenbaum ist hingegen stabil – an sonnigen Tagen zeigt sich mindestens eine der beiden Europäischen Sumpfschildkröten, selten auch das Exemplar der von mir noch nicht identifizierten Art. Die Graureiher und Kormorane halten sich dort vollkommen wetterunabhängig auf. Die Brombeersaison ist nunmehr als abgeschlossen zu betrachten.
Da meine Alepposeife aufgebraucht ist, kaufe ich am Samstag im Besucherzentrum der Museumsinsel neue. Danach durchsuche ich das Internet nach aktuellen Informationen zu den Manufakturen, die während des Krieges fast alle ins Ausland fliehen mussten und dort die Produktion fortsetzten – leider stammen die letzten Berichte, die ich finde, von Ende 2024. Am Sonntag in der Bucht ein interessantes Gespräch mit zwei älteren Damen und einem Herren, die dort jedes Sommerwochenende nach ihrer Schwimmrunde Croissants essen. Sie erzählen, dass sich die Sauberkeit und Sicherheit am See durch die Parkranger, die es seit vier Jahren gibt, sehr verbessert hat. Demnächst sollen die Renaturierungsflächen ausgeweitet werden, was sie (und ich) begrüßen. Für mich ein frappierender Unterschied zum Plötzensee, wo die Behörden so ziemlich alles falsch machen.
Worauf man sich hundertprozentig verlassen kann: Wo auch immer zwei volle Feuerwehrwagenbesatzungen zusammenkommen und Kollegen beim Testen eines neuen Rettungsbootes assistieren, wird wirklich jeder Witz gemacht, der nur denkbar ist: „Wenn du den anderen Knopf drückst, kriegste nen schönen Mittelstrahl.“ „Nicht so dolle! Gehs erst mal langsam an – stell dir einfach vor, das ist deine Frau.“ Das Ganze unabhängig vom Geschlecht der Feuerwehrleute.
Essentielle Lebensverbesserung: Ein vielleicht zehnjähriger, blinder Junge steht mit seiner Mutter auf dem S-Bahnhof Nikolassee. Er bespricht mit einem Chatroboter Zugausfälle, Umleitungen und Anschlüsse. Nebenbei stellt sich raus, dass er irgendwohin möchte, wo seine Mutter auf gar keinen Fall hin will. Daraufhin er: „Können wir uns nicht absichtlich verfahren?“ Beide müssen lachen.
Christoph Sanders, Thalheim
Seit Anfang der Woche versammeln sich die Krähen wieder am Kirchturmkreuz, ihr Ruf ertönt noch vor den Türkentauben. Der Rotschwanz kommt ans Fenster – mal sehen, ob er über den Winter bleibt. Der Samstag startet ruhig – und mit würziger Luft: Es wird gedüngt. Über mir packt unser Teenie rumpelnd den Koffer prallvoll. Der Zug, der sie nach Frankreich zur Gastfamilie bringen wird, geht kurz nach elf. Große Verabschiedung von ihren Geschwistern – ich verlasse diskret die Küche. Die Schwalben fliegen heute sehr hoch.
In der HNA ein Gespräch mit der Hydrogeologin aus dem Landesamt für Naturschutz, Umwelt und Geologie. Sie spricht fachkundig über die Lage in Nordhessen: Die Grundwasserspeicher sind gefüllt. Das Trinkwasser wird seit den 1960ern hauptsächlich aus Tiefenbrunnen gewonnen, da Quellen nach Regenfällen Krankheitserreger enthalten können. Ob die Grundwasserneubildung stockt, kann man nicht sagen, da die Messzeiträume zu kurz sind. Aus Südhessen ergänze ich, dass wir eine andere Wasserinfrastruktur nutzen: Frankfurt bezieht, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten, einen Großteil seines Trinkwassers von Gemeinden im Vogelsberg, und in Ried infiltriert man künstlich aufbereitetes Rheinwasser. Mal sehen, wie sich das alles entwickelt. Wenn ich an die Pegeltiefstände des Rheins denke, befürchte ich, dass die Schifffahrt irgendwann nur noch eingeschränkt oder gar nicht mehr möglich sein wird – nicht auszudenken, aber es muss gedacht werden. Der Rhein ist die deutsche Lebensader schlechthin: Hier konzentrierten sich seit Ende des neunzehnten Jahrhunderts Industriezentren, Handelsrouten und Logistikdrehscheiben. Die Wasserfachfrau ist angenehm sachlich, was heutzutage Seltenheitswert hat – im DLF wurde am Morgen allen Ernstes behauptet, dass eine Neuvernässung der Moore notwendig sei, damitdort keine russischen Panzer durchkommen.
Ich bin sehr zufrieden über die geglückte Runde nach Hachenburg, eine stille Bergstadt mitten in der tiefen Provinz. Die Wälder glitten in mildes Herbstilcht über, die Seenplatte war gut besucht, irgendwo lief eine Campingdisco an. Es gibt schon Herbstzeitlose, aber die Äpfel brauchen noch ein paar Wochen. Da für den tiefen Zug die Prellung doch zu stark schmerzte, fuhr ich zwar ohne Punch, konnte aber alle meine Berggänge treten. Nachricht vom Teenie: Sie ist gut angekommen. Vier Stunden Zugfahrt bis Paris – das geht mit dem Flieger (inklusive Flug, Security, Boarding, Transfer) nicht so schnell (und auch nicht so günstig). Mehr Platz ist in der Bahn sowieso – bei Bedarf kann man sich die Beine vertreten (ihr Zug war 20 Wagen lang). Unser Mädchen ist glücklich – zu Nikolaus ist sie wieder hier.
Bin am Spätabend immer noch berauscht von der Radrunde – diese Luft, diese weite Sicht! Zu Bett mit Kamillentee und Nabokov.
Susanne Kasperowski, Gadebusch
Außenkamera Garten, 21:46:29-21:46:58, 25-08-2025
Christoph Sanders, Thalheim
I was the shadow of the waxwing slain / By the false azure in the windowpane / I was the smudge of ashen fluff – and I / Lived on, flew on, in the reflected sky. / And from the inside, too, I’d duplicate / Myself, my lamp, an apple on a plate: / Uncurtaining the night, I’d let dark glass / Hang all the furniture above the grass.
Vor dem Einschlafen lese ich das lange Gedicht, mit dem Nabokovs „Pale Fire“ einsetzt. Ich lese es drei Mal. Es ist Aufhänger und Zentrum des 1962 erschienenen Romans und ein sehr dichter Text voller starker Bilder. Gleich zu Beginn prallt ein Seidenschwanz gegen eine Fensterscheibe; der Abdruck einer Feder ist das Einzige, was vom toten Vogel bleibt. Im Internet findet man unzählige Blogs voller großartiger Fotografien von Federn mitsamt geistreichen Abhandlungen darüber – dennoch werde ich all meine guten, alten Vogelbücher behalten, diese Almanache der bunten Gefährten.
Der Dienstag mit klassischem Septemberwetter: Der sternenklaren Nacht folgt ein kalter Morgen, der in einen warmen Tag übergeht, mit einer Sonne jener Art, die einen nicht mehr verbrennt. Die letzten Brombeeren wandern noch im Garten ins Müsli; die Sträucher haben wir selbst gepflanzt. Der Finanzfacharbeitersohn ist für ein paar Tage bei uns. Er kam gegen 23 Uhr und hat sich vor 6:30 Uhr in den Hauptstrom der Pendler eingereiht. Um acht erwartet ihn in den Bürotürmen ein Call – und mich der Höhenkamm, einmal hin, einmal her, jeweils 13 Kilometer. Dort kann ich bei stetem Rhythmus ganz in mich gehen, den Takt halten und Tritt üben. Zwischendurch mache ich ausgiebige Dehnübungen. Am Rennlenker sind die Beschwerden konstant und erträglich, erst nach dem Absteigen, in der Vertikalen, drückt sich das frische Blut durchs Hämatom. Im soliden Lehnstuhl halte ich draußen eine Siesta. Nach einer schmerzfreien Stunde bringe ich die Jüngste nach Westerburg – heute ist Ballerina-Tag.
Am Mittwoch ist die Wende geschafft: Das Hämatom bildet sich zurück, dominiert nicht mehr die Gedanken. Auch der Körper muss sich immer weniger dem Schmerz anpassen – gestern gab es die hoffentlich letzte Ibuprofen. Der Finanzfacharbeiter ist, nachdem er das Geschäftsabendessen durch Ausschlafen kompensierte, mit dem Klapprad Richtung Arbeitsplatz los. Ohne Frühstück! Alle anderen verließen bereits kurz vor sieben das Haus. Südwestwind, schwülwarmes Wetter. Urlaubssaisonende. Verhaltene Vogelwelt. Ich falte Handtücher und freue mich über die neue Schmerzfreiheit.
Später Windböen und Gewitterwolken. Die Wäsche und Räder sind in Sicherheit, alle Besorgungen erledigt. Auf den Milchtüten kleben Rabattaufkleber – es ist der 27. Den Typen hinter mir betrifft das nicht, er legt wie üblich seine Palette No-Name-Energydrinks aufs Band. Der Teenie ist nach drei Tagen Klassenfahrt wieder zuhause. Sie berichtet von den grupendynamischen Spielen. Übers Phishing von 15 Millionen Paypal-Adressen waren sie alle bereits informiert, hatten ihre Passwörter längst geändert. (Deutsche Banken hielten Zahlungen in zweistelliger Millardenhöhe zurück – die Dino-Medien meldeten es mit Verspätung.) Jetzt werden die neuen Sneaker von Zalando imprägniert, die Schnürsenkel hat sie schon ausgetauscht.
Ein nebeliger Donnerstagsmorgen. Das Wanderhämatom gibt keine Ruhe. Ich musste doch wieder zur Ibuprofen greifen. Am Nachmittag bekomme ich eine kleine Regendusche ab, danach schwülwarm und herbstlich duftend. Meine Jüngste singt beim Spülmaschinenräumen Weihnachtslieder. Vor dem nächsten Schauer hinauf zu Rossmann, um für die vielen vielen Bilder des Jahres einen Stick zu kaufen. Ich baue ganz fest darauf, dass der USB-Standard auch in fünfzig Jahren noch da und somit auslesbar für die nächste Generation ist.
Während sich der Teenie auf die drei Monate als Austauschschülerin in Le Mans vorbereitet, überlegt unser Finanzfacharbeiter, wie man eine Stadt wie Wolfsburg retten kann, ohne dass sie zum Detroit 2.0 wird. Um Substanz zu erhalten, braucht es Rückbauingenieure und Dekonstruktionsarchitekten. Wo werden da die Debatten geführt, wo wird der Bürger aufgeklärt und miteinbezogen? Das hinterhältigste Narrativ ist, dass man dem Volk nicht alles „zumuten“ kann. Und so glauben die einen eben noch ans sichere Häuschen, während die anderen schon mal ihr Kapital in Sicherheit bringen. Nur eine der vielen Transformationswellen, die unsere zentraleuropäische Gesellschaft gerade durchziehen.
Der Blick in die Sonne schmerzt. Lang schon ist der warme gelbe Glanz, an den ich mich noch aus meinen Kindertagen erinnere, verschwunden. Dafür sind irgendwann die Streifen dazugekommen, die auch jetzt das Himmelsblau durchziehen. Ich bin auf dem Weg zum Türnentalsee. Die Wanderung wurde mir von Einheimischen empfohlen. Ein abgemähtes Maisfeld ermöglicht einen weiten Blick. Mir fällt auf, dass der Himmel inzwischen geteilt ist – hinter mir sehe ich die Streifen und vor mir Schäfchenwolken. Was passiert da?
Auf einer Bank unter einer Linde genieße ich die Wärme und Ruhe. Der weitere Weg geht bergab über Wiesen und Felder. Dann erreiche ich den See. Eigentümer und Bewirtschafter ist der Angelsportverein Dornhan-Fürnsal, der ihn zu einem schönen Ausflugsziel gemacht hat. Eine kleine, sehr einladende Holzhütte ist das Vereinsheim. Wer weiß, wie viel Anglerlatein dort schon zum Besten gegeben wurde.
Ich setze mich dicht ans Wasser in die Sonne, beobachte Libellen und erfreue mich an den Seerosen. Unter der Oberfläche sind ganz deutlich Fische zu erkennen. Ab und zu springt ein Karpfen oder eine Forelle hoch, um herumschwirrende Insekten zu fangen.
Zeit und Muße zum Lesen. Stifters „Bunte Steine“ versetzt mich in eine andere Zeit und an einen anderen Ort. Dann reißt mich ein lautes Platschen wieder an den Weiher zurück. Ich sehe gerade noch, wie ein riesiger Fisch in der Tiefe des Sees verschwindet. Der Gedanke an das Ungeheuer von Loch Ness wirbelt mir durch den Kopf. Kurz überlege ich, vom Uferrand zurückzutreten. Dann muss ich über mich selbst lachen: Maria, Du und Deine Phantasie!
Zeit, zurückzugehen. Nun führt der Rundweg bergauf. Ich kann mich nicht sattsehen an der bezaubernden Landschaft, die hinter jeder Biegung anders aussieht. Ich entdecke am Himmel ein lärmendes Flugzeug. Es hinterlässt keinen Streifen.
Inzwischen spüre ich die Anstrengung des Aufstiegs in meinen Beinen. Als Mecklenburger bin ich das nicht gewöhnt. Von ganz oben blicke ich ins Tal. Ein herrlicher Anblick. Freude über das Erreichte und Erlebte erfüllt mich. Es ist schön in den Bergen.
Frank Schott, Leipzig
Tag 9. Abschließende Etappe meiner Tour auf dem Elberadweg. Die endet früher als vorgesehen – da es ab morgen regnen soll, haben unsere Nachbarn für den Abend eine Grillparty angesetzt. Statt um 18 Uhr in den Zug zu steigen, habe ich auf 13 Uhr umgebucht.
Ich lasse den Schlenker nach Jerichow aus und nehme den direkten Weg nach Magdeburg über die Schartau‑Rogätz‑Fähre. Nach einem trüben Tagesbeginn wird es doch noch ein sonniger Vormittag. Der aufkommende Wind kündigt aber bereits das Tiefdruckgebiet an.
Heute meide ich die holprigen Radwege und fahre stattdessen auf gepflegten Straßen. Es sind kaum Autos unterwegs. Ein Corsa vom Pflegedienst schafft es dennoch, mir die Vorfahrt zu nehmen. Staub steigt in der Ferne auf – Traktoren bestellen die Äcker. Der Mais steht noch in Reih und Glied – aber nicht mehr lange! Ich entdecke eine gut erhaltene Windmühle und schaue sie mir an.
In Rogätz besteigen neben mir zwei Motorradfahrer die Fähre. Der eine hat eine Yamaha, der andere eine gut erhaltene MZ ETZ 250. In der DDR hatte man es bei der Benennung von Dingen nicht so mit der Phantasie. So steht MZ für Motorradwerk Zschopau, ETZ für Einheitstyp Zschopau und die 250 für den Hubraum, aufgerundet von 243 cm³. Ähnlich war es bei der Tontechnik: KR hieß der Kassettenrekorder (mono) und SKR der Stereokassettenrekorder.
Die Fähre Rogätz ist die einzige auf meiner Tour, die mit Motorkraft betrieben wird. Alle anderen waren Gierseilfähren und nutzten die Strömung, um zwischen den Ufern zu pendeln. Das dahinter liegende Prinzip wird seit fast vierhundert Jahren angewendet.
Bei Niegripp biege ich zum Mittellandkanal ab und sehe zum zweiten Mal Schiffe auf der Reise. Gegen 12 Uhr bin ich am Magdeburger Hauptbahnhof. Nach 998,1 Kilometern beende ich meine Tour. Ich habe nur ganz knapp die 1000 verpasst – es sei denn, ich zähle die 2,5 Kilometer in Leipzig zum und vom Bahnhof einfach dazu.
Was bleibt: atemberaubende Landschaften, viele Tierbegegnungen, alte Städte und verlorene Dörfer, einige interessante Gespräche (so wenig, wie in diesen neun Tagen, habe ich lange nicht gesprochen), ein Elberadweg mit mysteriösen Verläufen und natürlich der Fluss selbst: Lebensader, Kulturraum, Biotop.
Großartig war es.
Frank Schott, Leipzig
Seit ein paar Tagen gehen mir bei Fahren alte Volkslieder durch den Kopf. Wir mussten sie noch lernen, die heutigen Kinder und jungen Erwachsenen nicht mehr. Dichter Nebel hängt in der Elbniederung, als ich um 6:45 Uhr aus dem Fenster sehe:
Und aus den Wiesen steiget / der weiße Nebel wunderbar.
Eine halbe Stunde später ist das Schauspiel bereits vorbei. Dass es überhaupt neblig wurde, liegt daran, dass heute nahezu kein Wind weht. Nicht von vorn, nicht von hinten, nicht von Seite. Ideal für alle, die Richtung Norden fahren – aber mich zieht es ja in den Süden.
Ich habe mir eine lange Etappe vorgenommen: 130 Kilometer, von Dömitz bis nach Tangermünde. Dieses Mal fahre ich zunächst am Ostufer entlang – die Strecke ist einfach reizvoller. Weil ich das nie in Betrieb gegangene Kernkraftwerk Stendal sehen möchte, wechsel ich dann ab Sandau auf die andere Seite. Stendal gehörte zu den wenigen Städten der DDR, die westlich des Grenzflusses Elbe lagen.
Ein ruhiger Tag. Kein Hauch kräuselt das Wasser der Nebenarme und Teiche. Alte Menschen sitzen auf Bänken und lassen sich die Morgensonne ins Gesicht scheinen. Bauern ziehen Zäune, um neue Weideflächen abzugrenzen. Die Deichschafe wissen was kommt – sie dösen im Schatten und warten geduldig, bis ihr Umzug ansteht.
Ich mache einen Schlenker nach Lenzen. Hier steht jedes dritte Haus leer und ist somit wohl dem endgültigen Verfall preisgegeben. Es gibt ein Schlosshotel – wer mag dort außerhalb der Urlaubssaison wohnen? Weiter geht es durch Wittenberge und das Storchendorf Rühstädt, dann auf meine kleine Insel zwischen Elbe und Havel.
Auf Räbeler Fähre treffe ich einen jungen Aschaffenburger, der von Hamburg nach Dresden radelt. Da er auf seinem Bike keine Taschen befestigen kann, schleppt er alles im Rucksack mit sich. Wieder an Land, überholen wir einander mehrfach, weil der jeweils andere gerade ein Foto- oder Trinkpause macht, bei Arneburg verlieren wir uns dann aus den Augen. Noch 15 Kilometer bis zum Tagesziel.
Matthäus Merian „Tangermund”, Kupferstich, 1652
Tangermünde ist eine wunderschöne mittelalterliche Stadt mit gut erhaltener historischer Architektur: Stadttore und Stadtmauern, eine Festung, liebevoll restaurierte Fachwerkhäuser, Kopfsteinpflaster, Kirchen. Ich checke ein, springe samt der verstaubten Klamotten unter die Dusche und gönne mir danach ein Bier in der hotelnahen Bauerei. Für einen längeren Stadtrundgang bin ich zu erschöpft – für eine Pizza und eine Kugel Eis reicht es noch. Ich habe jetzt über 900 Kilometer in den Knochen – morgen ist in Magdeburg Endstation.
Frank Schott, Leipzig
Geesthacht hat, als Folge der Bombardierungen gegen Ende des Zweiten Weltkriegs, eine dieser genormten Innenstädte mit wenig Charme. Es gibt drei Döner-Läden, die den Bedarf an Drehspieß, Pizza und Burger abdecken, einen Eisladen und einen Italiener. Die Stadt im Landkreis Herzogtum Lauenburg ist der nördlichste Punkt meiner Reise. Hier werde ich auf das andere Ufer wechseln, um Richtung Südosten zurück zu fahren. Es ist kein Regen angesagt – aber Rückenwind! Bevor es richtig losgeht, sehe eines dieser großen Elbeschiffe, die ich bislang so vermisst habe. Ein gutes Zeichen.
Am Anfang stehen ein paar Tierbegegnungen. Die unbestrittenen Herrscherinnen der Elbebrücke sind die Möwen. Alle Augen und Schnäbel sind auf den Fluss gerichtet – Vögel, die aufs Frühstück starren. Danach belauert mich, aus der sicheren Höhe ihres Baums, eine Katze. Gefolgt von Staren, die auf Schafen reiten. Faszinierend.
In Neu Darchau stoße ich auf ein Schild, das auf eine Wassermühle verweist. Ich stoppe, kehre um und biege in den Nebenweg ein. Links und rechts stehen große alte Gebäude aus roten Ziegelsteinen. Vor dem Laden im rechten Bau stapeln sich 50-Liter-Säcke voller Erde, Mulch und Dünger. Dahinter ist ein großer Teich. An diesem sitzt eine alte Frau. Ihr rechter Arm ist großflächig aufgeschürft, mit einem Handtuch tupft sie Blut ab. Ich frage, ob sie Hilfe braucht: „Ich habe eine Reiseapotheke mit Pflaster dabei.“ Die Frau möchte keine Hilfe. „Es ist schön hier“, sage ich. „Hier leben zwei Schwäne“, sagt sie. „Die haben fünf Kinder, die sind schon ausgewachsen. Heute sind die beiden nicht da, vielleicht sind sie runtergeschwommen.“ Es sieht so aus, als ob es aufgehört hat zu bluten. Aber am Arm ist ein sehr langer Striemen zu sehen, den auch mein Großpflaster nicht abdecken würde. „Brauchen Sie wirklich keine Hilfe?“, frage ich nach. „Ich wohne hier“, sie zeigt auf die offene Tür des linken Gebäudes. „Ich habe gestrichen. Es ist so viel Arbeit. Ich bin über die Kette gestürzt.“ „Sie sollten die Wunde reinigen.“ Die Frau wirkt unschlüssig: „Meine Tochter wird mir schimpfen, sie ist da drin.“ Deswegen sitzt sie also hier und grübelt. Ja, das kenne ich. Meine Schwiegermutter ist ihrer 95-jährigen Mutter gegenüber genauso eingestellt. Die Alten haben mehr Angst vor ihren Kindern als vor physischen Verletzungen. Ich wünsche der Frau alles Gute. Sie denkt noch einen Moment nach und geht dann Richtung Tür.
Auf der westdeutschen Seite der Elbe gibt es viel mehr Dörfer und Städte als auf der ostdeutschen, auf der ich zuletzt unterwegs war. Im Zuge der Grenzschließung wurden ab Mai 1961 Sperrgebiet-Bewohner, die als „politisch unzuverlässigen“ galten, in andere Teile der DDR zwangsausgesiedelt. Die Betroffenen wurden rechtswidrig und ohne jegliche Vorwarnung aus ihren Häusern geholt und durften lediglich das Nötigste mitnehmen. Nach 1990 kehrten nur wenige zurück – viele der Gebäude waren verfallen oder verschwunden, die Rückübertragungen oft schwierig, die alten Wunden nie verheilt.
In vielen der Dörfer und Städte, die ich passiere, hängen Plakate und Banner. Für Frieden. Gegen mehr Vorschriften in der Schweinezucht. Für eine Umleitung. Gegen Windräder. Für mehr Toleranz. Gegen die AfD. In Neu Darchau wird gerade gestritten, ob die Fähre durch eine Brücke ersetzt werden soll. An Tagen wie heute scheint die Antwort ziemlich eindeutig: Es ist Niedrigwasser; die Fähre verkehrt nicht; die nächsten Brücken sind weit weg. Nur bedeutet eine Brücke eben auch deutlich mehr Verkehr und somit Lärm. Egal, wie am Ende die Entscheidung ausfällt – einige Einwohner werden unzufrieden sein.
Nach einer Berg- und Talfahrt mit abwechselnd 7 oder 13 Prozent Steigung oder Gefälle führt der Radweg vor Hitzacker wieder in den Wald. Dort steht ein Rennradfahrer neben seiner Maschine. Ich frage ihn, ob alles okay ist oder ich ihm irgendwie helfen kann. „Hast du zufällig eine Pumpe dabei, die auf 5 bar kommt? Wenn ich meine nehme, geht mehr Luft raus als rein.“ Meine Teleskopluftpumpe hilft ihm leider auch nicht weiter. Aber Hitzacker ist maximal 15 Minuten zu Fuß entfernt, also laufen wir, quatschen und schieben unsere Räder. Er ist mit einer Gruppe unterwegs, aktuell vier Mann, das scheint Tag zu Tag zu wechseln. „Derjenige, der die heutige Etappe geplant hat, meinte, die Strecke sei für Rennräder geeignet. Aber das stimmt offenbar nicht“, berichtet er. Ich erkundige mich, wo die anderen sind. „Ich habe gesagt, sie sollen weiterfahren, ich hole sie sowieso wieder ein.“ Wir schwatzen noch bisschen über die Vor- und Nachteile der verschiedenen Fahrradtypen, über den Wind und übers Laufen. Er überlegt, am Frankfurt-Marathon teilzunehmen, ich liebäugele mit einem Halbmarathon in Leipzig. Am Ortseingang trennen sich unsere Wege. Er wird nach einer Werkstatt suchen, ich will kurz durch das Städtchen schlendern und dann weiterradeln.
In der Spitze erreiche ich 30 km/h – es fährt sich fast wie von allein. Gegen Mittag kommt dann sogar die Sonne raus. Ich bummle durch Bleckede, Hitzacker und Dannenberg, kehre immer wieder zur Elbe zurück. Unterwegs geht mir ein Gedanke durch den Kopf: Solange es in einer Stadt einen Buchladen gibt, ist sie noch am leben.
Gegen 15 Uhr bin ich zurück in Dömitz. Heute würde es von der Zeit her passen, dass ich noch die Festung besichtige. Doch die ist leider montags geschlossen. Und am Dienstag auch.
Christoph Sanders, Thalheim
Der Sonnabend ist ein vollkommen ereignisloser Haustag mit CD-Aussortierungen und Wohnzimmerputz. Ich kann den Staubsauger schieben und mich dabei darauf abstützen. Zwischendurch immer wieder hinsetzen, entspannen, dem Hämatom gut zusprechen, dann zurück zu den Wollmäusen und Spinnweben. Anschließend in die Badewanne. Am Abend lese ich Gogols „Der Mantel“ – was für eine böse Erzählung! Man bekommt eine Ahnung von der Bürokratie, der Willkür und der erbarmungslosen Hierarchie in Russland. Bevor man bei uns Fähnchen schwenkt und von Demokratie redet, sollte man in der zehnten Klasse Gogol gelesen haben – 30 Seiten, das ist schnell abgehandelt. Mit Kurzeck zu Bett, dann kommen andere Bilder.
Lithographie: Walter Gramatte, Schutzumschlag: Artur Liebig. Kiepenheuer Verlag, 1919. Nachdruck.
Ruhiger Sonntagmorgen nach unruhigem Schlaf – das Hämatom wandert und es dauert, bis die schmerzarme Position gefunden ist -jeden Tag ein wenig anders. Dafür konnte ich vor dem Frühstück unbeschwert die Teekanne vom Schrank heben. Unter 10 Grad, kühler Tagesbeginn. Die Meisen pulen in den Obstbäumen herum. Viel wildes Brombeergestrüpp. Damit alle wisen, wo sie sind, rufen die Türkentauben laut aus all ihren Eckchen. Die letzten Ferienflieger trudeln ein. In Gruppen ziehen kleine Schäfchenwolken vorüber.
Nach zwei Tagen auf dem virtuellen Rhein‑Main‑Flughafenz kommen mir viele Gedanken. Wenn man sieht, wieviel US-Material da bewegt wird, ahnt man, was die aktuelle Zoll- und Handelspolitik anrichtet. Riesige Airports, die finanziert werden wie früher die Luxusdampfer: ohne die Fernreise-Urlauber würde alles zusammenbrechen. Die streamenden Planespotter von One and More Aviation komplett auf Spezialsachen fixiert: Sonderflüge, ungewöhnliche Lackierungen – da flippen sie aus, die sekundären Beobachter in ihrer Kerosinwolke. 2024 hat der Hessische Rundfunk zu einem der letzten Flüge einer Boeing 767 eine ganze Sendung gemacht. Für die Stewardessen und die Mechaniker ist die Maschine wie eine Wohnung. Die Liebe der Piloten zu ihren Instrumenten … Seltsame, sympathische Symbiosen.
Im DLF ein angenehmes Interview mit der Ex-Tagesschaufrau Aline Abboud. Geboren in der DDR, Tochter einer libanesisch-deutschen Beziehung. Ostbeliner Akademikermilieu, Arabistikstudium Leipzig. Sie erklärt nachvollziehbar die Unterschiede zwischen West und Ost, und warum diese auch für die nach der Wende Geborenen gälten – die Familienbiographien sind immer noch präsent. Gut, dass es eine so klar beschreibende Frau in den West-Mainstream geschafft hat. Seit einer Woche ist sie Pressesprecherin des Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Das Tagesschau-Kapitel hat sie ohne Bedauern beendet – man ahnt, warum.
Mathehausaufgaben mit der Jüngsten. Graphen, Sorgfalt. Lernen ist schön, man muss nur die Ruhe bewahren. Später backt der Teenie Bananenbrot, der Sohn verlangte die Verwendung hochprozentiger Schokolade – in Teilen Berlins könnte man 5 Euro das Stück nehmen. Dann noch mal Arnika-Salbe. Der heutige Tag besser als gestern. Precht im Podcast: Leidvermeidung ist die Mentalität von Rentnern.
Am Montag steigt das Thermometer von 4 auf 25 Grad. Die Bauern säen ein, trockenes Geläuf, daher staubig. Dann doch zum Arzt. Der sagt, dass der Hämatomschmerz an der Stelle circa 14 Tage dauert, der Körper baut ungern das gute rote Blut ab. Die Schulter ist voll funktionsfähig, auch an den Rippen ist nichts zu ertasten. Ich soll weiterhin bei Bedarf Ibuprofen nehmen, die Stellen mit Arnika-Salbe einreiben und geduldig bleiben. Meine Familie ist nun beruhigt.
Gute, normale Besorgungsrunde, nur ohne Tiefenatmung. Schwache Nordwestströmung, sehr angenehm in der Sonne. Der Tankstellen-Espresso wieder bei 1 Euro. Preiskampf. Ich bekomme die Nachricht, dass einer meiner Englischlehrer an Hirnblutung verstorben ist, zum Glück ging alles sehr schnell. Er wurde 81. Er vermachte mir mal eine ganze Kiste des englischen Punch-Magazins – ich hüte sie wie einen Schatz. Für mich war das die Einführung in eine völlig neue Welt des Humors. Eine völlig neue Welt überhaupt: die besten Zeichner, Geist, Witz, Schärfe, tolle Werbung. Fünf Umzüge liegen bereits hinter ihr – ich werde die Kiste auch unter meinem letzten Bett aufbewahren.
Frank Schott, Leipzig
Dömitz hat für mich leider wenig zu bieten: Die Festung ist lediglich zwischen 10:30 und 15:30 Uhr zu besichtigen – nicht unbedingt tauglich für Radtouristen. Es gibt zwei Kirchen, von denen die 1999 geweihte, kleine katholische, bereits wieder entweiht ist. Ein Mann erzählt, dass das Gebäude in ein Kulturzentrum umgebaut werden soll. Nur noch die Buntglasfenster und die aufsteigende Decke erinnern an die frühere Nutzung. „Das war aber eine katholische Kirche?“, frage ich nach. Was er bestätigt. „Das ist ungewöhnlich“, merke ich an, „das ist doch hier klassisches Protestantenland.“ Er erklärt, dass viele Flüchtlinge Ende des Zweiten Weltkriegs ihren katholischen Glauben mithergebracht hätten – „inzwischen sind die aber alle verstorben, so dass es die Gemeinde nicht mehr gibt“.
Zu den wenigen Läden in Dömitz gehören eine Kunstwerkstatt, eine Galerie und ein Kreativtreff. Vielleicht ist es ja die Kultur, die den Ort am Leben hält, ihn für Touristen interessant macht. Ein Highlight hat diese kleine Stadt dann aber doch für mich parat: Dort wo die Elde in die Elbe mündet, sehe ich einen spektakulären Sonnenuntergang.
Nach einem kräftigenden Frühstück breche ich kurz nach 9 Uhr auf – die Festung leuchtet in der Morgensonne. Dann nimmt alles seinen üblichen Lauf: An einer Kreuzung ohne Wegweiser entscheide ich mich für den besser ausgebauten Weg – und lande natürlich wieder in einer Sackgasse. Korrekt wäre die andere Abzweigung gewesen. Der Weg ist das, was der gelernte Ossi eine Panzerfahrstrecke nennt – ein zweispuriger, mit gelochten Betonplatten befestigter Pfad. Nur fuhren hier seinerzeit keine Panzer, sondern DDR-Grenzpatrouillen.
Später tauchen auch gut erhaltene Wachtürme auf. Zur Sicherung ihrer Macht ließ die DDR-Führung Grenzanlagen errichten, schuf ein Klima der Angst, setzte auf Überwachung und Denunziation und bekämpfte gnadenlos jeden ihrer Kritiker. Ich wünschte, all jene Regierungen, die heute wieder dem Volk misstrauen und unliebsame Meinungen mit aller Härte durch die Staatsorgane verfolgen lassen, würden wenigstens ab und an in ein Geschichtsbuch schauen.
Erst auf dieser letzten Etappe gen Norden wird mir bewußt, dass ich der Kultur kaum Aufmerksamkeit geschenkt habe. Ich erkundete zwar zu Fuß die jeweiligen Zielorte, machte aber keinen Schlenker zu Museen oder Denkmälern abseits der Route. Ich wollte einfach nur viele Kilometer schrubben, mir den Wind um die Nase pfeifen lassen, die bezaubernden Elblandschaften genießen – die blühenden Wiesen und Wälder, die üppig vollen Maisfelder, neben mir Schafe, Rinder und Pferde, am Himmel Schwalben, Spatzen und Adler …
… oder die Krähe, die über mir in der Luft steht, bevor sie abdreht und mit dem Luftstrom elegant davon schwebt. Wovon ich mich etwas veralbert fühle, denn auch heute komme ich im heftigen Gegenwind nur äußerst mühsam voran. Was mich aber nicht daran hindert, weiterhin meinen Blick schweifen zu lassen. 2025 können sich die hiesigen Obstbauern wohl nicht beklagen – ihre Bäume sind übervoll. Ich probiere einen der Äpfel. Der Geschmack ist mit dem der genormten aus dem Supermarkt nicht zu vergleichen: Bissfest, fein säuerlich, ein Genuss. Warum kommen die nicht in die Läden?
Ungefähr zwanzig Kilometer vor Boizenburg bläst mir der immer stärker werdende Wind regenschwere Wolken entgegen. Aber ich habe Glück und bekomme am Ende nur ein paar Tropfen ab.
Dann stellt sich die Frage, wo ich übernachten will – ich buche ein Zimmer in Geesthacht. Der empfohlene Radweg führt direkt durch Lauenburg, sonst wird man meist um die Orte herum geleitet. Die Altstadtstraße besteht aus historischem Kopfsteinpflaster. Das ist schick, romantisch – und dermaßen authentisch, dass ich schieben muss. Ich erreiche Geesthacht und habe 40 Minuten zu warten, bis die Rezeption geöffnet wird. Mein Zimmer gehört zu der Sorte, in der man den Abend am besten in Gesellschaft von zwei Dosen Bier verbringt. Zum Duschen und Schlafen reicht es. Seit Tagen schmerzt mein Hintern, aber ich sage ihm: „Reiß dich zusammen, du bist nicht der einzige Körperteil, der schmerzt.“ Doch in diesen Worten steckt auch Freude: Ich habe in sechs Tagen 672 Kilometer zurückgelegt – für den Rückweg kommen dann noch 300 Kilometer hinzu. Schon beeindruckend, was man leisten kann- wenn man es versucht.
Helko Reschitzki, Moabit
Eine vergleichsweise ruhige Woche, in der das Flügelschlagen eines vorbeifliegenden Schwanes manchmal das lauteste Geräusch des Tages ist, sein Anblick die größte Action. Ein unspektakulärer Alltag wird gemeinhin unterschätzt. Nach einem strauchvollen Monat neigt sich die Brombeersaison ihrem Ende zu – man muss schon sehr genau hinschauen, um noch reife Früchte zu entdecken. Auf deren Schwarzviolett folgt das Orangerot der Hagebutten. Eicheln ploppen auf den regenfeuchten Grunewaldboden. Samstagnacht sinkt die Lufttemperatur auf 10 Grad. Es geht langsam Richtung Herbst.
Nach gut fünf Wochen hat sich die durch den Starkregen in den Schlachtensee geschwämmte Muttererde so verteilt, dass der Grund nun wieder hell ist. So kann ich wie zuvor das schnelle Licht-und-Schatten-Spiel der Rotfedern in all seiner Schönheit bewundern.
Viele gute Buchtbankgespräche: Eine Literaturwissenschaftlerin, die mir erzählt, wie sie, ein renitentes Pfarrerskind, 1974 mit 18 Jahren die DDR verlässt. Erst im Westen konnte sie dann die Bücher aus der alten Heimat ertragen, später sogar wertschätzen. (Wir einigen uns auf Strittmatters „Der Wundertäter“ als großen DDR-Wurf.) Jegliche Nostalgie ist ihr, so wie mir, zuwider. Sie empfiehlt mir Christoph Heins neues Buch „Das Narrenschiff“ – bin gespannt. Dann ein Mann, der im Technikbereicharbeitet. Um ihn herum wird gerade eine Abteilung nach der anderen von KI-Tools ersetzt. Wir reden darüber, wie das Thema hierzulande komplett verschlafen wurde – statt vorausschauend über smarte soziale Lösungen nachzudenken, floss die Energie in kollektive Verdrängung. Dann kommen auch wir auf DDR und BRD zu sprechen. Er stammt aus dem Westen, und hat für seine Cousins immer Musikkassetten in den Osten geschmuggelt – „in einem Anorak mit Spezialfächern, uns Kinder hat man ja nicht so genau gefilzt“. Er wuchs in einer armen Familie auf, konnte sich wenig leisten: „Im Osten waren die Läden ja von vornherein leer. Aber wenn du das alles vor der Nase hängen hast und dann nichts kaufen kannst, ist das auch ziemlich blöd.“ Wir stellen fest, dass wir beide tief in der Nacht aus dem Radio Musik aufgenommen haben, weil da nicht auf die Titel gequatscht wurde. So etwas verbindet.
Der Schlachtensee hat am Wochenende dieses Glitzern, das wirklich alle lächeln lässt. In der Bucht schwimmen jetzt regelmäßig zwei junge Stockenten umher, seit Samstag auch wieder ein Blässhuhn. Das sammelt Material für ein neues Nest. Davor sah ich tagelang gar keine Wasservögel – den einen Morgen dafür einen Aufblasflamingo. Den hatten drei Bolivianerinnen mitgebracht. Sie berichten, dass in ihrer Heimat eine Fabrik nach der anderen schließt, überhaupt vieles zusammenbricht, und fast jeder, der die Möglichkeit hat, das Land verlässt, um in Florida oder Europa sein Glück suchen. … und genau die bilden dann die Schattenkolonnen der Reinigungskräfte, Haus- und Hotelangestellten, Lagerarbeiter, Fahrer, Küchenhilfen, Gärtner oder Bauarbeiter, ohne die der westliche Schlaraffia-Lebensstil nicht aufrecht zu erhalten ist. Für uns stechen sie mit ihren Kollegen aus Nordafrika in Navarra Spargel, pflücken in Huelva Erdbeeren, lesen in La Rioja Trauben, verpacken in den Hallen von Almería Obst und Gemüse – die LKW-Flotten der Logistikfirmen übernehmen dann. Sie putzen nachts deutsche Büros und Supermärkte und am Tage die Krankenhäuser und Hintern unserer siechen Angehörigen. Da bringt so ein Flamingo etwas Farbe ins Leben. Ihren daheim gebliebenen Kindern schicken sie fröhliche Videos aufs Phone der Abuelita.
Das mit Abstand fieseste Geräusch der Woche: Der Aufprall des Mannes, der auf dem S-Bahnhof Nikolassee direkt neben mir von der beinebaumelhohen Streusandkiste abschmiert. Icke: „Brauchen Sie Hilfe?“ Er: „Ne, lass ma, geht schon.“ E rappelt sich hoch, nach zwanzig Sekunden ist er voller Blut – er tastet, ich kieke: Platzwunde am Kopf. Ich hole mein Erste-Hilfe-Päckchen aus dem Rucksack, biete ihm an, die Wunde zu desinfizieren. „Muss nich, das brennt immer so.“ Ich sprühe trotzdem etwas aufs Klopapier, dass ich ebenso dabeihabe, biete ihm das als Kompromiss an: „Das brennt dann nicht so doll.“ Damit ist er einverstanden – wir laden noch ein paar mal nach. Ich: „Wohnen Sie hier in der Nähe?“ Er, zeigend: „Ja, is nich weit.“ Ich biete an, ihn nach hause zu bringen. „Das schaff ich schon allein. Ist aber lieb von dir.“ Da er nicht lallt, nicht taumelt, nicht aussieht, als ob er krank oder druff ist oder schnell neuen Stoff braucht, wird ers wohl tatsächlich packen. Ich gebe ihm eine volle Packung Papiertaschentücher, worüber er sich freut. Meine Bahn fährt ein. Er: „Danke für alles und alles Gute.“ Ich: „Das wünsch ich auch – vor allem gute Besserung.“ Wir nicken uns zu, ich steige ein.
Zlatomir Popovic, Moabit
Mein alter griechischer Freund Manolis hat auf seinem Balkon einen kleinen Apfelbaum in einen Topf gesetzt und ihn fünf Jahre lang gepflegt. Nun zeigen sich die ersten Früchte. Es sind sechs Stück. Wenn sie reif sind, will er seinen Freunden je einen Apfel schenken. Stolz hat er uns das Bild des fruchttragenden Baumes gemailt.
Darauf bekam er von mir die Antwort: Wenn man in Geschäften Äpfel kauft, sind sie nur so viel wert, wie man bezahlt und wie sie einem schmecken. Doch wenn man sich um einen Baum kümmert, mit der Knospe beginnend, und dann eines Tages ernten kann, ändert sich der Wert der Früchte. Man misst sie nicht in Geld, sondern in der Zeit, die man zusammen mit dem Bäumchen verbracht hat, in der Liebe, die ihm geschenkt wurde, der Freude über sein Wachsen. Diese Äpfel tragen all die Hoffnungen, dass der Baum gut gedeiht, das Glück, dass man auf dem Weg hatte, die Belohnung der Mühen. Der Apfel wird zu etwas Lebendigem, fast zu einem Freund.
Ich erinnere mich: In meiner Kindheit sagten wir, wenn im Frühling die ersten Früchte aus dem Garten zu Tisch getragen wurden: „Na zivot i zdravlje!“
Das Wohl auf das Leben und die Gesundheit kauft man nicht in einem Warenhaus. Da gibt es nichts Persönliches.
Maria Leonhard, Spornitz
Laut Navi soll die 850-Kilometer-Fahrt ins baden-württembergische Fürnsal neun Stunden dauern. Als Flachländer habe ich einen Heidenrespekt vor Serpentinen, schmalen Straßen und versteckten Blitzern in verwinkelten Ortschaften. Deshalb benötige ich 10,5 Stunden. Es kommt mir so vor, als läge der 450-Seelen-Ort hinter den sieben Bergen, bei den sieben Zwergen. Ich will mich dort für ein paar Tage erholen, und in der Tat, streift dieses Fleckchen mit seiner Ruhe ganz schnell all‘ meine Hektik und Unruhe ab.
Mein helles Hotelzimmer mit seiner himmelblauen Tapete und der Rosenbordüre gefällt mir sofort. Durch die große Fensterfront habe ich einen wundervollen Blick auf das Grün der Bäume und einen weinroten Schmetterlingsflieder. Eigentlich müssten sich darin, so kenne ich es aus meiner Kindheit, Schmetterlinge tummeln – nicht einer ist zu sehen! Beim Rundgang durch das sehr gepflegte, in den fünfziger Jahren erbaute Hotel fallen mir die schön gearbeiteten Möbel auf. Ich habe Freude daran, die Details dieser ehrwürdigen Zeugen alter Handwerkskunst zu entdecken. Auf meiner Terrasse ist es still, richtig still. Am blauen Himmel löst sich in ganz kurzer Zeit die einzige Wolke auf. Faszinierend. Ich genieße die Ruhe, bis die Mücken kommen und die Sterne blinken.
Am nächsten Morgen drehe ich meine erste Runde durch das Dorf. Ich begegne niemandem. Alles ist ruhig, nur meine Schritte sind zu hören. Über einen Zaun hängende Himbeeren verleiten mich zum Naschen. Ich gehe über abgemähte Felder und Wiesen, vorbei an Obstbäumen, scheinbar verwilderten Gärten, und erreiche den Wald. Jetzt begleitet mich Vogelgezwitscher. An einem Brombeerbusch stille ich meinen Hunger. Er ist wie eine Waldgaststätte. Im Stillen danke ich der Natur.
Während des Mittagessens auf der Terasse blicke ich auf einen weiteren Schmetterlingsflieder. Nur zwei Kohlweißlinge, ein paar Bienen und Schwebfliegen suchen eifrig nach Nektar. Doch dann entdecke ich ein Taubenschwänzchen! An seinem Schwirrflug und der Art der Nahrungsaufnahme kann ich ihn leicht erkennen – er ist der Kolibri unter den Schmetterlingen. Der Schwärmer saust so schnell von einer Blüte zur nächsten, dass ich ihn nicht fotografieren kann. Schade! Die Ruhe der Mittagspause wird nur vom Lärm am Himmel unterbrochen. Es ist ein Flugzeug mit einem ganz kurzen Kondensstreifen. Inzwischen ein seltener Anblick.
Am Nachmittag unternehme ich erneut einen Streifzug durchs Dorf. Es ist heiß und immer noch ruhig. Ein für das Taubenschwänzchen typisches Brummen weckt meine Aufmerksamkeit. In einem der Vorgärten nutzen mehrere dieser Schwärmer einen Phlox und einen weißen Schmetterlingsflieder als Nahrungsquelle. Dieses Mal gelingt es mir, gleich zwei Falter zu fotografieren. Schade nur, dass sich mein Handy als ungeeignet erweist und sie unscharf sind. Ich tröste mich damit, dass die Taubenschwänzchen in warmen Sommern bis zu uns in den Norden wandern. Vielleicht ist ja bereits eines da, wenn ich heimkomme.
Frank Schott, Leipzig
Das Schöne am Wohnen im Eigenheim ist, dass der Lärm anderer Mieter entfällt. Na gut, wir haben Kater, von denen der eine halb fünf an der Tür zum Schlafzimmer kratzt und herzerweichend jault, aber das ist was anderes. Worauf ich hinaus will: ein superschickes, komfortables Hotelzimmer nützt dir nichts, wenn der Gast über dir ab vier Uhr früh durch sein Zimmer stampft …
Tag 5 der Elberadtour. Es ist Regen angesagt. Ich beschließe, es langsam anzugehen. Ich mache einen kleinen Fünf-Kilometer-Lauf vom Hotel, über den Campingplatz, um die Altstadtinsel herum und mit einem kleinen Umweg zurück. Havelberg heißt nicht umsonst so – es geht kräftig auf und ab. Unter die Dusche, einen Kaffee aus der Kapselmaschine, ein paar Nüsse und einen Energieriegel – seit ich unterwegs bin, habe ich morgens keinen allzu großen Appetit. Ich verstaue den viel zu üppig bemessenen Krempel in die Radtaschen, pumpe Luft nach – und bin on the road again. Auf nach Dömitz!
Ich verlasse die Stadt in Richtung Kaserne. Hinter dem Ortsausgang tauchen Warnschilder auf. Links geht es zum PiübPl. Die Armee liebt Abkürzungen. Diese steht für Pionierübungsplatz. Im Wald rechts von mir üben die anderen Truppenteile. Plötzlich knallen in der Nähe Schüsse – die sich dann aber als PKW-Anhänger mit klappriger Luke entpuppen. Metall schlägt auf Metall.
Hinter Quitzöbel will ich unbedingt auf die Insel zwischen Elbe und Havel. Ich verpasse den Abzweig und muss einen Waldweg nutzen. Dadurch erfahre ich aus erster Hand, warum von der Eiszeit geprägte Landschaften auch Sander heißen: Ich bleibe stecken.
Während ich mein Fahrrad schiebe, springt vor mir ein Rudel Rehe über den Weg. Jedes zweite Tier schaut mich an. Dann bin auf der schmalen Insel. Links ein Fluss, rechts ein Fluss – und direkt von vorn heftige Böen. Die Wolkendecke reißt immer wieder auf. Die Sonne taucht das Land in ein güldenes Licht. Wiesenkräuter und Äste wiegen sich im Wind. Schmetterlinge und Schwalben tanzen. Das vollkommene Glück. Und niemand außer mir ist hier. Mir geht eine plattdütsche Liedzeile durch den Kopf, die meine Empfindungen trefflich beschreibt: „Dor is mine Heimat, dor bün ick to Hus“.
An der Stelle, wo die Havel in die Elbe mündet und ich über eine Schleusenbrücke die Insel verlasse, treffe ich auf eine etwas über sechzigjährige Radfahrerin. Wir fotografieren uns gegenseitig. Sie hat eine kleine Havelrundfahrt gemacht. Ihr Fahrrad ist schwer bepackt: „Ich habe mein Zelt dabei, aber es war viel zu kalt zum Zelten.“ Kalt ist es immer noch, maximal 15 Grad, aber durch den Wind fühlt es sich weitaus kühler an.
Ich fahre weiter nach Rühstädt, dem berühmten Dorf der Störche. Die Vögel selbst sehe ich nicht, aber ihre gewaltigen Nester auf den Dächern. Rühstädt ist eines der schmucksten und aufgeräumtesten Dörfer, die ich je kennengelernt habe. Ein Idyll, das von der niedrig stehenden Morgensonne perfekt ausgeleuchtet wird.
Die gewaltige Eisenbahnbrücke vor Wittenberge ist tot. Seit Anfang des Monats ist in weiten Teilen von Brandenburg und Mecklenburg, dem Norden von Sachsen-Anhalt und den Regionen westlich von Hamburg wegen einer Generalsanierung der Zugverkehr komplett gesperrt. Eine unendliche Belastung für Menschen ohne Auto. Bis April 2026 hat die Bahn alles stillgelegt, aber wenn ich zum Beispiel an Stuttgart 21 denke, könnte daraus auch April 2027 werden.
Der Wind kommt permanent seitlich oder direkt von vorne, es ist weiterhin eisig kalt. Ich muss in Wittenberge unbedingt meinen Energiespeicher auffüllen! Die Straße ins Stadtzentrum ist von mehreren Feuerwehrfahrzeugen blockiert. Rauch sehe ich keinen. Stattdessen höre ich laute Musik. Ich schlängele mich zwischen einem Löschzug und einem roten Zelt durch und bin: auf dem Stadtfest von Wittenberge! Und genau neben mir schenken die Kameraden direkt aus ihrer Gulaschkanone Erbsensuppe mit Bockwurst aus. Ein Traum!!! Warm, nahrhaft, lecker.
Nach diesem perfekten Mahl gehts zurück auf den Deich – noch gut 40 Kilometer bis Dömitz. Wieder kämpfe ich gegen den Wind. Eine Frau mit Hund kommt mir entgegen. Es ist, kein Witz, ein Windhund.
Plötzlich riecht es nach Schaf, aber erst nach zwei Biegungen sehe ich die Herde – an diesem Tag trägt der Wind Gerüche weit. Schafe tragen mit ihren Tritten auf den Hängen mehr zur Pflege der Deiche bei, als es sich manche Gemeinde finanziell leisten kann. Es ärgert mich zutiefst, wenn ich lese, dass Schäfer wegen der Wolfattacken, der teuren Schutzmaßnahmen, einer überbordenden Bürokratie und der ständigen Sorge um ihre Tiere aufgeben müssen. Wer den Wolf willkommen heißt, macht dies oft nur, weil er selbst in der Stadt lebt und sein Fleisch aus der Supermarktkühltheke kommt.
Nach einer Pause mit Radler und Pflaumenkuchen komme ich in Schwierigkeiten: Es ist weiterhin kalt. Es herrscht weiterhin kräftiger Gegenwind. Und nun ziehen von rechts bedrohlich dunkle Wolken auf. Die haben mir gerade noch gefehlt. 20 Kilometer vor Dömitz, durchgefroren – und bald auch noch pitschnass? Ich trete wie ein Berserker in die Pedalen. Wenn mir die Böen ins Gesicht pfeifen, muss ich die Gänge sehr weit runterschalten. Mit 13 bis 14 km/h laut Tacho habe ich dabei fast das Gefühl, stehenzubleiben. Hinter einer Biegung greift der Wind von der Seite an, so dass ich ins Schleudern gerate und fast vom Deich geblasen werde. Aber dann habe ich das Glück auf meiner Seite – der Fluss verläuft jetzt so, dass der Wind von hinten kommt. Mit knapp 30 km/h fliege ich über den Schotter. Hier zu stürzen, wäre echt unangenehm. Es geht alles gut – nach 91 Kilometern erreiche ich Dömitz. Auf den letzten Metern erwischt mich doch noch der Regen. Egal – nichts, was eine warme Dusche nicht beheben könnte.
Mir ist jetzt endgültig klar, dass ich es nicht bis Hamburg schaffen werde – der Westwind ist eine Qual. Morgen kann ich noch weiter Richtung Nordwesten fahren, doch am Montag muss ich mich auf den Rückweg machen, da ich für Mittwochabend in Magdeburg Zugplätze für mich und mein Fahrrad reserviert habe.
Christoph Sanders, Thalheim
Obwohl ich ganz gut geschlafen habe, ist der Schmerz hinter dem Schulterblatt auch am Donnerstag ein äußerst unangenehmer und hartnäckiger Begleiter. Tiefes Einatmen tut sehr weh, mehr als die kleinen Prellungen rundherum. Ferndiagnose der fachkompetenten Schwägerin: Das hört sich nach einer Rippenprellung an. Zum Glück ist so eine Prellung am Rücken nicht ganz so hinderlich – die letzte war vorne, da war Schwimmen die einzige halbwegs aushaltbare Fortbewegungsart. Diesmal kann ich sogar Radfahren: Nachdem mein übliches Einkausfsrad nun von mir defintiv als unreparierbar eingestuft werden musste, geht es mit einer alternativen Maschine vorsichtig den Berg hinauf. Später loben die Kinder meine Auswahl reifer Nektarinen sowie die Champignons, die mit Roter Beete und Zwiebeln in Weißweinsauce samt Petersilie auf den Tisch kommen.
Unser Sohn holt das wieder hergerichtete Familienauto ab. Um den Chef des Kfz-Services zu erwischen, musste er diesem zwischen Hof, Schrottplatz und Werkstatt mehrfach hinterherfahren – der Meister ist nur selten im Büro. Mein Sohn traf bei der Suche auf diverse Nationalitäten, einige identifizierte er dank seiner youtube-Kenntnisse im Ringen/Martial Arts unzweifelhaft als Tschetschenen. Die Firma gehört einem Aserbaidschaner – wir sind seit gut zehn Jahren Kunde. Inzwischen ist er auch Teilhaber des benachbarten Schrottplatzes. Die genaue Zahl der Geschäftszweige ist unbekannt, es stehen aber immer jede Menge Kunden Schlange bei ihm.
Insel Verlag, Leipzig, 1971
Zur Erholung von der sehr präzisen und dichten Sprache Nabokovs lese ich Jack Londons „Südseegeschichten“. Die Menschenfresser werden Kanaken genannt. Man darf sie als Weißer nicht umbringen – darauf steht die Verbannung auf die Fidschi-Inseln. Trotzdem kommt es immer wieder zu Zwischenfällen auf den Schonern, sodass die Besatzungsmitglieder vor Racheakten auf der Hut sein müssen. Zur Vertuschung werden die umgebrachten Einheimischen als „an der Ruhr verstorben“ oder „ertrunken“ vermerkt. Die Südsee ist neben den dort Geborenen von Abenteurern, Missionaren, desertierten Walfängern, Kaufleuten und Spekulanten bevölkert. Man schachert um Kopra, Palmöl und Perlen. Immer wieder machen Hurrikane die Investitionen zunichte. Am Abend frischer Kopfsalat aus der Pfalz.
Gegen fünf kann ich mich endlich schmerzfrei auf die Unfallseite drehen. Ich falle sofort in den Tiefschlaf. Nach einer guten Stunde stehe ich auf und bringe die Kinder zur Schule. Zwei Stunden später sitze ich auf dem Rad. Es fährt sich allmählich besser, nur bei den steileren Passagen muss ich auf das kleine 30er Blatt umschalten – das Ziehen am Lenker und die Tiefenatmung wären zu schmerzhaft.
Ein Nieser ist momentan wie ein Dolchstoß; das Hämatom wandert langsam; die Schulter ist vorn gelbgrün. Schonhaltung des Tages: Gegen das große Kissen gelehnt schaue ich Beigbeders exzellente Interviews mit Eric Neuhoff (über einen Verkehrsunfall) und Christine Angot (über den Machtmissbrauch im Literatur- und Kunstbetrieb). Beigbeider zitiert Balzac – die ganze Comédie Humaine sei nur eine Geschichte der Volksdrogen: Tee, Kaffee, Zucker, Alkohol, Kakao!
Ein kühler Freitagbend. Die Kinder sind zufrieden mit der ersten Schulwoche. Die Jüngste brauchte etwas Anlauf, um sich in der vollkommen neuen Klasse zu orientieren. Jetzt sitzt sie vorne.
Später tauche ich in die Parallelwelt der Planespotter ein. Die Seite One and More Aviation zeigt Airport-Livestreams und hat zigtausend Abonnementen. Jedes Flugzeug, das ankommt und abfliegt, wird stundenlang gefilmt und alle Vorgänge drumherum minutiös und kenntnisreich kommentiert. Ich sehe einem Fäkalien-LKW-Fahrer dabei zu, wie er per Schlauch den Abwassertank eines Fliegers leersaugt. Sehr interessant.
Nun langsam bettwärts und schnell gesund werden – schon, um den Sohn zu beruhigen, der sauer ist, weil ich partout nicht zum Arzt will. Auch der Teenie schrie: Vater, noch sechs Tage nach einem Unfall kann man eine Thrombose bekommen!
Drinnen wie draußen ist es heiter bis wolkig.
Frank Schott, Leipzig
Etappe 4. Morgenstund hat Gold im Mund – also steige ich wieder kurz nach 8 Uhr aufs Rad. Über den Magdeburger Hafen geht es nordwärts. Nur wenig ist so trostlos wie ein abgewirtschaftetes Industriegebiet – abgesehen von einem Schiff auf dem Trockenen.
Über die Elbwiesen verlasse ich die Stadt. An einer Weggabelung halte ich neben einem älteren Ehepaar, das wie ich den Elberadweg sucht. Sie haben das Handbuch dabei – ich die App. Der Mann wirft einen Blick auf mein Smartphone und vertraut ihr: „Es geht rechts rum, der andere Weg ist eine Sackgasse.“ Wir fahren nach rechts.
Ich lasse die beiden rasch hinter mir. Dann muss ich halten. Es ist empfindlich kalt und das liegt nicht nur am Westwind. Ich hole mein Untershirt raus und ziehe es inmitten von Kühen und Krähen an.
Ich glaube, der Elberadweg ist ein Mythos. Wie Fairplay im Fußball oder Sockenpaare, die solange zusammen bleiben, bis die Löcher sie scheiden. Manchmal ist der Weg da, manchmal umgeleitet, manchmal weg und manchmal allgegenwärtig – das heißt, es gibt Kreuzungen, wo in jede Richtung ein Elberadweg führt. Vermutlich wollte jeder Bürgermeister oder Gemeinderat ein Stück des Ruhmes.
Ab und an kommt es einem dann wieder so vor, als hätten sich die Stadtoberen und Gemeinderäte kurz daran erinnert, dass es nicht um ihre Orte, sondern um die Elbe geht, so dass der Elberadweg einen Schlenker zurück zum Fluss macht.
Ich fahre durch Städte, wo lediglich die Post, der Amazon-Fahrer oder durchziehende Radtouristen die Stille durchbrechen. In den Dörfern sind nicht einmal Hunde oder Hühner zu hören. Sämtliche Gasthäuser sind verriegelt. Deutschlandfahnen knattern im Wind.
Teilweise ist der Radweg in schlechterem Zustand als die Straße daneben. Wurzeln haben den Asphalt aufbrechen lassen, Gras nagt an den Rändern. Einige Stellen sind geflickt, viele nicht.
Bei Rogätz nehme ich heute zum ersten Mal die Fähre. Gleich am Ortsrand ist ein Bäcker. Ich darf am Glücksrad drehen und gewinne 10% Rabatt – im Endeffekt die Differenz zwischen „essen im Café“ (19% Mehrwertsteuer) und „mitnehmen“ (7%). Ich entscheide mich für ein belegtes Brötchen und einen großen Kaffee zum Aufwärmen.
Rückenwind bei Tangermünde! Und das Beste: Ich entdecke eine riesige Kolonie von Wildgänsen. Alle schnattern wild durcheinander – wie der Bundestag bei der Rede eines Oppositionspolitikers.
In Arneburg folgt die zweite Flussquerung per Fähre. Überhaupt steht die Etappe im Zeichen des Wassers: Bei Hohenwarte fahre ich unter der Kanalbrücke durch, die den Mittellandkanal über die Elbe führt. Eine unglaubliche ingenieurtechnische Leistung.
Hinter Arneburg wechsel ich vom Radweg auf den menschenleeren Damm. Die Schwalben tanzen im Wind wie die Mücken über einen sommerlichen Weiher. Ich sehe Schafe und Kühe. Ein Polizeiauto kommt mir entgegen. Es erinnert mich an die Krimiserien in ARD und ZDF, deren Namen ich nicht kenne, weil ich sie nicht gucke.
Der kräftige Wind bläst meist von der Seite oder leicht von hinten, so dass ich trotz der gerade erreichten 100 Kilometer in den Beinen mühelos eine Geschwindigkeit von 27 km/h erreiche. Auf dem Damm blühen Wiesenkräuter in allen möglichen Farben.
In Havelberg mache ich Schluss. Das Hotel ist perfekt ausgestattet. Nicht nur gibt es eine Fahrradgarage, diese hat auch einen Ständer und Werkzeug für Reparaturen, große Luftpumpen sowieso.
Die Ordnung muss gewahrt werden, weshalb ich zuerst die Taschen säubere und erst danach unter die Dusche springe. Ich beschließe den heutigen Etappentag beim Griechen – die 3.000 verbrauchten Kalorien wollen aufgefüllt werden.
Frank Schott, Leipzig
Etappe 3. Kurz nach 8 Uhr geht es von Wittenberg aus Richtung Magdeburg. Der Elberadweg führt nach Norden, Osten und Westen, manchmal auch nach Süden, grundsätzlich aber nordwärts – von der Quelle im tschechischen Teil des Riesengebirges bis zur Mündung in die Nordsee. Meine Mission: Die Antwort auf die Frage eines Freundes: Wohin verschwinden eigentlich die ganzen Radwege?
Wenn ein Banker mit dir über deine Verluste spricht, heißt es: Dein Geld ist nicht weg, es hat nur ein anderer. Das gleiche gilt für die Radwege. Sie sind nicht weg, sondern halt irgendwo anders, sprich: du hast eines der kleinen Schilder übersehen oder von einer der zahlreichen, oft verwirrenden Umleitungen nicht zurückgefunden.
Obwohl ich extra langsam und hoch konzentriert fahre, komme ich auch heute immer wieder von meiner Strecke ab oder muss bei einer Gabelung rätseln, welche der Geradeausspuren denn nun gemeint ist. So verliere ich im Dessauer Straßengewirr komplett die Richtung – und als ich endlich wieder ein Elberadwegschild mitsamt Pfeil entdecke, weiß ich nicht, ob der mich ins Stadtzentrum, zurück nach Wittenberg oder, wo ich ja hin möchte, gen Norden schicken wird.
Ich mache das Naheliegende und orientiere mich an der Elbe. Zwar ist hier nicht die offizielle Strecke, aber ein Wald- und Feldweg verläuft parallel zum Fluss. Besser geht es nicht. Ich werde auch nur einmal aufgehalten – von einer querenden Schafherde, die auf dem Weg zur neuen Weide ist. Ein einziger Hütehund sorgt für Ordnung.
In Stadt an der Elbe mir vier Buchstaben, der erste ist ein A finde ich dann zum Elberadweg zurück. Die Ausweichstrecke war staubiger, aber malerischer. Nach Coswig nehme ich in Aken (= der gesuchte Kreuzworträtselbegriff) zum zweiten, in Barby dann zum dritten Mal die Fähre. Ich sehe zauberhafte Dorf- und Stadtkirchen und wieder jede Menge Tiere, unter anderem zwei Störche, Ponys, Großpferde und anderes Nutzvieh – und selbstverständlich Vögel aller Art.
In Priesteritz trifft man auf das, was einige Leute gerade am liebsten für immer zerstören würden: große Industriebetriebe. Mindestens zwei der Unternehmen, die ich dort sehe, betreiben vor Ort eigene Kindergärten. Ohne diese Arbeitgeber bräche hier nahezu alles zusammen – es gibt in der Region kaum andere Arbeitsplätze. Bei Werksschließung würden die Gemeinden die fehlenden Einnahmen äußerst schmerzlich zu spüren bekommen. Aus den Schornsteinen steigt ein so feiner, sauberer Rauch, dass ich ihn beinahe übersehe.
Was aus den in Betrieb befindlichen Fabriken eines Tages werden könnte, sehe ich dann an riesigen leerstehenden Industriekomplexen inmitten der Wildnis: Stillgelegt und verfallen – möglicherweise ja ein Ausblick auf eine gar nicht allzu ferne Zukunft? Ebenso unvermittelt wie die korrodierenden Fabriksruinen tauchen zig Kilometer weiter grellweiße Statuen auf, die den Radweg ins Nirgendwo flankieren.
Kurz vor 17 Uhr erreiche ich Magdeburg. Gut 120 Kilometer an einem Tag – das reicht. Die Herberge nahe des Bahnhofs ist eher rustikal, alles läuft über PIN-Codes. Einen für uns Gäste zugänglichen Keller oder ähnliches gibt es nicht, also übernachtet mein Rad im Zimmer. Rad und Gepäck sind komplett eingestaubt – da ist Putzen angesagt. Dank der im Bad bereitgelegten Einwegwaschlappen geht das gut von der Hand. Danach springe auch ich unter die Dusche.
Frank Schott, Leipzig
Tag 2. Um 8 Uhr verlasse ich Riesa, Ziel ist Lutherstadt Wittenberg. Zunächst geht es links der Elbe Richtung Torgau. Vor Belgern ist der Radweg gesperrt, die Ausweichfahrt über die Dörfer verlängert die Strecke um 7 bis 8 Kilometer. Bei Torgau zieht sich der Himmel zu, es wird windig. Neben einer grasenden Kuhherde steigt ein Pärchen auf einen Damm und sucht die Elbe. Sie werden nicht fündig.
Plötzlich geht es auch hier nicht weiter. Der Navi rät mir nach links auf die Bundesstraße zu fahren. Die hat leider keine Radwege – aber was bleibt mir übrig. Die Dörfer, die ich passiere, sind eine Mischung aus verfallen und schick. Irgendwann kommt wieder die Sonne raus.
Der letzte Apfel hat nur kurz vorgehalten. Ich bin auch schon wieder durstig. Aber hier ist alles tot. Gasthäuser: geschlossen. Bäcker: stillgelegt. Einkaufsmärkte: Ruinen mit zerstörter Außenwerbung. Schließlich sehe ich in einem Dorf zwei Verkaufswagen: Backwaren und Fleisch. Beide bieten keine Getränke an, nicht einmal Kaffee. Sie versorgen die immobilen Alten mit Brot, Gebäck, Fleisch und Wurst.
Kurz vor Wittenberg dann ein Supermarkt, der noch in Betrieb ist. Ich bekomme endlich etwas zu trinken. Über Schleichwege gelange ich auf die Elbebrücke; kurz nach 14 Uhr bin ich in der Lutherstadt.
Die heutige Etappe stand im Zeichen der Tiere: Die erwähnten Kühe, ein paar Ziegen. Immer wieder kreuzten Katzen meinen Weg – eine war so winzig, dass ich im ersten Moment glaubte, mich verguckt zu haben und bremse. Ich sehe das Kätzchen zur Mutter zurück laufen – ihr Frühstück lockt. Neben Meisen oder Schwalben kreisten ab und an Raubvögel über mir. Größte Überraschung: eine Straußenfarm.
Beim Schlendern durch die Innentadt lese ich, dass am Abend in der Stadtkirche St. Marien ein Konzert mit einem gregorianischen Chor stattfindet. Ich beschließe, hinzugehen. Vorher gibt es noch ein deftiges Abendessen – und danach werde ich müde ins Bett fallen.
Christoph Sanders, Thalheim
Der Tag nach einem Sturz ist immer der schwerste. Nach einer 600er Ibuprofen und zwei Stunden Anlauf beschränkt sich mein Radius auf das Haus und den Garten. Beste Position: sitzend vor dem Laptop, beide Arme auf den Tisch gelegt, dazu ab und an die Beine vertreten. Ich streame viel: Beigbeder, Biopics über Yves Saint Laurent, eine Doku übers Jazzfest in Montreux. (Der Blick von Nina Simone!) Frederic Beigbeder ist Gastgeber des Videopodcastes „Conversations chez Lapérouse“, in dem er sich jede Woche mit Kollegen unterhält, manchmal sind auch Verleger oder Philosophen zu Gast. Der beidseitige Respekt ist immer zu spüren. Das ist sehr agenehm, vor allem, weil das so anders ist als in den deutschen Literatursalons, die ja eher selbstreferenziellen Kuschelgruppen ähneln, in denen man die Fördergeldschläue der anderen observiert.
Beigbeder dans „Conversations chez Lapérouse“, une émission hébergée par Ausha.
Die Kartoffeln und Möhren köcheln. Warten auf die Jüngste, damit sie mir die Schnitzelmaschine vom Schrank holt – so schnell wird man zum Invaliden. Auf dem Sonnenstuhl sitzend lese ich Nabokovs Analyse von Kafkas „Die Verwandlung“. Er greift dabei auf Proust und Stevenson zurück, vergleicht anschaulich, macht klar, dass er über seinen persönlichen Standpunkt spricht. Ein herrlicher Tag.
Trotz des wieder einsetzenden Schmerzes konnte ich die Nacht ohne Tablette schlafen. Ich habe mich dann aber sogleich an der eigentlich superleichten Hausarbeit übernommen – verdammtes Schleudertrauma! Es ist gar nicht die Aufprallstelle, sondern das Randgebiet im Innern der Schulter, das weh tut – ein Bluterguss zwischen Bindegewebe und Zwerchfell. Gartenrunde: Die Morgen werden wieder kühler. Um mich herum hunderte Mehlschwalben im Tiefflug – was überhaupt nicht unangenehm ist, so wie das ja einige Rustikalpsychologen gern mal behaupten. Ich entdecke das neue Zebraspinnennetz. Ob es die vom Vorjahr ist – oder eines ihrer fünftausend Eier? Dann die allerletzte Erdbeere der Saison: 20. August – man könnte das Ende dieses Sommers exakt datieren.
Langsam gehts aufwärts. Die Schulter ist nun gelbgrün, im Rücken wandert der Bluterguss. Positionen die gestern ohne Einschränkung möglich waren, sind heute mühsam – aber es wird alles beweglicher. Da ich auf dem Rad keinerlei Schmerzen verspüre, wage ich eine winzige Besorgungsfahrt. Der Test ist erfolgreich. Schwüle Wärme, man sieht zum Taunus hin sehr schön die Wetterscheide – unsere Seite bleibt klar mit nördlichem Wind. Die Felder nehmen rasch die fahle, herbstliche Tönung an.
Nabokov seziert „Ulysses“ – Präzisionsarbeit.
Vladimir Nabokov „Lectures on Literature“, Harcourt Brace Jovanovich, New York, 1980
Frank Schott, Leipzig
Unser Familienurlaub ist vorbei, für mich geht es nun solo weiter. Um 6:30 Uhr klingelt der Wecker. Die zwei Fahrradtaschen sind prall gefüllt, vermutlich habe ich viel zu viel dabei, aber die elektronische Zahnbürste passt gerade so noch hinein – ein bisschen Komfort. Bevor meine Elbe-Tour richtig beginnt, muss ich zum Bahnhof.
Die Bahn macht Bahndinge: Auf der einstündigen Fahrt nach Dresden sammeln wir zwölf Minuten Verspätung. Umsteigen in Neustadt. Der Lokführer erlaubt sich wohl einen kleinen Scherz: Die Türen öffnen sich nicht. Blick in den Nachbarwagon – auch dort irritierte Gesichter. Dann fährt der IC etwa 20 Zentimeter und ist nun offenbar vorschriftsmäßig eingeparkt. Die Türen öffnen sich. Im letzten Moment reicht mir ein aufmerksamer Herr meine Trinkflasche zu – die hatte ich am Platz vergessen.
Es ist meine erste Reise dieser Art. Die Routine fehlt noch.
Im anderen Zug treffe ich zwei weitere Radtouristen. Sie wollen von Bad Schandau nach Roßlau, eine Zwei-Tage-Tour. Sie waren gerade in der Gegend um Hamburg unterwegs: „Fährt sich gut. Du darfst halt keinen Gegenwind haben.“ Der andere ergänzt: „Regen ist auch Scheiße.“ „Aber dafür gibt es viele Schafe.“ Drei E-Bikefahrer stoßen zu uns. Ihre Räder sind zu groß, um sie im Wagon einzuhängen, also sie lehnen sie diese ans Fenster. Wenn man mit solchen Vehikeln eine Treppe hoch muss, ist das bestimmt eine elende Schlepperei.
Bad Schandau. Endlich aufs Rad. Los gehts! Von meiner Elbseite aus habe ich einen großartigen Blick auf die Festung Königstein. Die Orte, die ich durchfahre, sind anheimelnd und kompakt.
Weil ich eine Abbiegung verpasse, stehe ich plötzlich mitten in einem Wald. Da es über Stock und Stein geht, muss ich das Rad mindestens die Hälfte der Strecke schieben oder gar tragen, was mit den beiden schweren Gepäcktaschen kein Vergnügen ist. Zwischen den Bäumen entdecke ich Hütten. Wenn diese bewohnt sein sollten, müsste man Lebensmittel und anderes mühsam herschleppen. Es sei denn, es gibt Schleichwege für Autos, die ich übersehen habe.
Nach zwanzig Minuten kann ich wieder regulär fahren. Wehlen, Pirna und schließlich wieder Dresden. Nun aber per Rad. Ich bin so ausgedörrt, dass die Flasche Wasser, die ich im Aldi kaufe und sofort trinke, umgehend verdampft. Wo einst die Carolabrücke die Elbe überquerte, stehen Baufahrzeuge. Es gibt viele Umleitungen.
Hinter Dresden sehe ich die beiden Radfahrer aus dem Zug wieder, kurz vor Meißen verlieren wir uns aus den Augen. Um 14:15 Uhr esse ich eine Kugel Eis und trinke ein Radler. An den Sandsteinfelsen am linken Elbufer wächst Wein. Ich fahre weiter Richtung Riesa. Das sind nur knapp 30 Kilometer – ich überlege, ob ich es heute noch bis Torgau schaffe. Daraus wird allerdings nichts – denn nun beginnt meine Pechsträne: Erst rutscht die Kette ab, dann bekommt das Schaltwerk einen Schlag. Die Folge: Der hintere Zahnkranz läuft nur auf dem kleinsten Rad. Ich muss permanent im höchsten Gang fahren. Zwar kann ich die beiden vorderen Zahnräder benutzen, aber das strapaziert die Kette. Der Navi sagt mir, dass die nächste Werkstatt in Riesa ist. 11 Kilometer – machbar. Ich fahre los. Bis auf einmal der Weg gesperrt ist. Ich muss hoch auf die Bundesstraße. Ich befrage nochmals das Internet: Im nur 2,5 Kilometer entfernten Nünchritz gibt es eine Zweiradwerkstatt, die geöffnet ist. Meine Rettung? Mal schauen. Denkste – geschlossen. Durch das Fenster sehe ich, dass dort sowieso nur Mopeds repariert werden. Weiter.
Im Ort sind zwei Supermärkte, die ich trotz meines mörderischen Dursts ignoriere. Ich muss einen Weg nach Riesa finden. Rauf auf die Bundesstraße. Das ist der kürzeste Weg. Der wird dann aber zur Schnellstraße – nichts für mich. Der Navi schlägt einen Feld- und Waldweg vor. Der ist total zugewachsen – kein Vergnügen mit defekter Gangschaltung. Irgenwann sehe ich andere Radfahrer – ich muss hier richtig sein! Schließlich bin ich in der Werkstatt. Innerhalb weniger Minuten wird alles gerichtet und neu eingestellt. Ich fülle in der Toilette zweimal meine Trinkflasche auf und leere sie sofort wieder. Am Ende ist der Service sogar gratis, was mich zusammen mit dem frischen Wasser Mut für die weitere Reise schöpfen lässt.
Doch für heute war es das. 116 Kilometer zeigt meine Fitnessuhr an. Übers Internet buche ich ein Zimmer, springe schnell unter die Dusche und gönne mir anschließend einen großen Döner-Teller.
Das Ziel für morgen lautet Lutherstadt Wittenberg.
Christoph Sanders, Thalheim
Eigentlich ein klarer, super sunny, heiterer Montag – der dann aber eine herbe Note bekommt: Als ich im Vorbeifahren einen Traktor fotografieren will, übersehe ich den Poller direkt auf dem Feldweg – Überschlag! Schwere Schulterprellung, leichte Schürfungen (Kamera Totalschaden, Rad heile, Armbanduhr mit Kratzer). Das Schulterblatt hat die Rippe mitgeprellt – Wahnsinnsschmerzen, Atemprobleme. Zum Glück hatte ich den Rucksack voller Plastikpfandflaschen, die wie ein Protektor für die Wirbelsäule wirkten. Der Helm schützte den Kopf, der absolut klar ist. Der junge Bauer eilte mir sofort zur Hilfe, richtete den Lenker, zog die Kette auf. Zuhause Erstverarztung mit 400er Ibuprofen. Während langsam die Betäubung einsetzt, läuft lauwarmes Wasser in die Wanne. Ich werde vorsichtig hineinsteigen.
Das Bad grandios – im Wasser verflog aller Schmerz, ich döste vor mich hin. Dass ein gesetzter Herr wie ich noch Kurzarmhemden mit Knopfleiste besitzt, erwies sich als äußerst hilfreich – ein Shirt über den Kopf zu ziehen hätte eine Stunde gedauert. Nach ihrer Rückkehr aus der Schule salbte die Jüngste die betreffenden Stellen rund um die rechte Schulter mit Voltaren aus der Apotheke ein und berichtete von ihrem ersten Tag nach den Ferien: „Die Talahinas haben sich gleich in eine Reihe gesetzt.“ Dann pflückte sie unserem Garten ein paar Brombeeren und machte mit der fünfzig Jahre alten Krups-Aufsatzmixmaschine einen Bananen-Brombeer-Milch-Smoothie – was wurden damals für gute Geräte gebaut! Jetzt, wo auch ihre Schwestern da sind, übernehmen die Damen gemeinsam meine Pflege und die Essensversorgung. (Bald ist der Salat fertig.) Sie schimpfen mit mir wie mit einem kleinen Kind und lachen dabei.
Nach einer Erholungsrunde im Bett gabs die zweite Ibu 400. Bei mir war es das dritte Mal, dass der Kopfschutz Schlimmeres verhindert hat. Beim ersten Crash ist der Helm frontal geborsten, dieser hier hat nur Kratzer. Es kommt auf den entscheidenden Verzögerungseffekt an – früher nannte man das so schön Knautschzone. Trotz alledem ein wundervoller Abend, an dem ich Nabokovs Analysen zu Prousts Methodik inhaliere: Die Wirklichkeit ist eine Maske, und eine Person entsteht nur als Mehrfachbild der Betrachter, die sie beschreiben – dazu die Vor- und Rückblenden. Das ist schon klasse. Nabokov bewundert Flaubert und erkennt dessen Einfluss auf Proust und auch Tschechow. Vom Realismus hält er wenig – noch viel weniger vom Naturalismus. Alles sehr scharfsichtig.
Frank Schott, Leipzig
Die Gegend rund um das Schloss Fleesensee sieht ein wenig aus wie Hobbingen im Auenland: Sanft gewellte Hügel, kleine Fähnchen im Wind, alles ist einladend grün – aber statt Gandalf auf seinem Pferdekarren sind hier Golfer mit ihren kleinen Elektrowägelchen unterwegs. Schilder warnen: Zutritt verboten. Lebensgefahr!
In Gefahr sind natürlich nur wir Zaungäste. Man solle vor Golfbällen auf der Hut sein. Wobei: Wie warnen sich die Golfer eigentlich gegenseitig vor herumfliegenden Bällen? Gilt rechts vor links? Oder wer zuerst kommt, mahlt zuerst? Rufen sie lauthals „Bahne frei, Kartoffelbrei?“ Fragen über Fragen.
Fraglos viel ist hier geregelt. Nachdem ich bewusst auf das häufig wiederkehrende Hinweisschild an den verschiedenen Plätzen achte, entdecke ich plötzlich überall Verbote und Gebote. Ohne aktiv gesucht zu haben, stoße ich schnell auf vierzehn verschiedene Anweisungen, welchen sich Anwohner und Gäste zu unterwerfen hätten. Da wundert man sich, dass Gott bei Moses mit nur zehn Geboten auskam.
Immerhin bieten die Schilder und Tafeln eine gewisse Vielfalt: Einige sind illustriert, andere schlicht im nüchternen Beamtendeutsch gehalten, manche wiederum gereimt – ob es da eine Arbeitsgruppe gab, die Knittelverse kreieren musste? Mitunter sind die Texte mit einem Augenzwinkern formuliert, meist aber bierernst: Tu dies nicht, tu das nicht. Geh hier nicht lang. Lass die Weidetiere in Ruh. Fass das nicht an. Respektiere die Natur und das Privateigentum.
Wobei man ja feststellen muss, dass sich immer mehr Menschen gedankenlos – um nicht zu sagen verantwortungslos – benehmen, gerade im Wald und gegenüber Tieren. Eigentlich sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, dass die oft schlecht erzogenen Hunde angeleint werden, man nur ausgewiesene Wege betritt und offenes Feuer vermeidet. Das Füttern der Nutztiere ist eine weitere Unsitte. Vielleicht hilft so ein Schild am Ende doch, um das eine oder andere Fehlverhalten zu verhindern. Meine persönlichen Favoriten waren übrigens: Gib Acht auf die Kätzchen! sowie Hör nicht auf Google!
Aufgefallen ist mir außerdem, dass die Schilder nur der Witterung, nicht aber dem in Großstädten alltäglichen Vandalismus zum Opfer fallen – keine mutwilligen Zerstörungen, kein Beschmieren mit Tags und Sprüchen, kein Zukleben mit Stickern. Da hebt sich die Provinz wohltuend von Leipzig ab, wo einige Verkehrsschilder vor lauter Aufklebern nicht mehr zu erkennen sind.
Ach ja, nur der Vollständigkeit halber erwähnt: Diverse Schilder zur Regelung des ruhenden und fließenden Verkehrs gibt es in einem so kleinen Örtchen wie Göhren-Lebbin auch reichlich.
Deutschland, ein Schildermärchen.
Christoph Sanders, Thalheim
Zurück von der Südseite des Taunus, wo ich zusammen mit meinem mannheimer Freund im Rhein-Main-Delta unterwegs war. Zwei Tage auf dem Rad bei 35 Grad – den Wert grüner Alleebäume kann man nicht hoch genug schätzen! Mit uns auf der Straße 90% Pendler, die jeden Morgen und Nachmittag in den PKW steigen und einfach ihren Job machen. Hinter Mainz die Weinlagen der Rheinpfalz voller reifer Reben. In Worms bereitet man sich auf die Nibelungenfestspiele vor. Im Nordteil der Stadt marode Arbeitersiedlungen aus den 1920ern und ehemalige Kasernen, die zu einer Fachhochschule umgewidmet wurden. Ein Geflecht aus alten Versorgungslinien und moderner Infrastruktur. Die weite Ebene bis zum Odenwald sonnenverwöhnt, trocken, fruchtbar – bestens geeignet für Gemüse und Feldfrüchte. In der Ferne sieht man die blassblaue Höhenlinie des Mittelgebirges. Kurzhalt an den ehemaligen Fissan-Werken in Zwingenberg – ich erinnere mich noch an deren Wundpulver auf Milcheiweißbasis.
Ankunft in Mannheim. Angenehme Gespräche bei Pizza und Pils im Stadtwald. Viele der Wege sind wegen der Schweinepest gesperrt. Die Stadt befindet sich vollständig in der Infizierten Zone (Zone II) – große Banner warnen. Das alte US-Army-Veranstaltungszentrum ist jetzt eine Boulderhalle. Über die Siedlungen ziehen grüne Papageien – ausgewilderte Halsbandsittiche. Das im 50 Kilometer entfernten Darmstadt ansässige Werkstoff- und Biotechnologieunternehmen Merck hat inzwischen eine nahezu mythische Strahlkraft – Ausbau in Zeiten des schrumpfenden Wandels, sichere Arbeitsplätze, während überall im Lande über Nacht ganze Berufszweige verschwinden.
Die brutalste Hitzephase des Freitags durchlebe ich unter heißem Gegenwind auf einer Art Radautobahn, die parallel zur Bahnlinie Darmstadt-Frankfurt verläuft. Pralle Sonne über dem asphaltierten, glatten Fahrstreifen, der dann in Langen in den Zickzack einer Stadtrandbebauung übergeht. Die Erschließung neuer Flächen ist dort im vollen Gange – Nachverdichtung für Wohnungen. Ganz in der Nähe befindet sich das Bundesaufsichtsamt für Flugsicherung. Die Gigatransportmaschine Fraport, 15 Kilometer weiter, wird getragen von den Alltagsfluchtbuchungen der oben erwähnten 90 Prozent.
Die Hitze laugt völlig aus. Schatten im Frankfurter Stadtwald. Gerade so entkomme ich dem Hungerast. Bin froh, dass der Körper die 200 Gramm Feta aufnimmt: tierische Fette gehen bei den Temperaturen kaum – die kann der Magen während der Fahrt nicht verarbeiten.
Am Samstag Regeneration von der Hitzereise mit erfrischendem Nordwind und vorüberfliegendem Gewölk. Der Temperaturknick von 10 Grad kommt mir fast unwirklich kühl vor. Ich kann wieder Büsche beschneiden, ohne zu zerfließen. Wilde Brombeeren dazwischen. Erst essen, dann beschneiden. Überschießende Rosensträucher, 3 Meter hoch. Für das Laub werden wir zwei Grüntonnen benötigen. Die ersten Hagebutten leuchten orangefarbig herüber – Pastoureau schreibt, dass es einige Zeit dauerte, bis diese Zwischenfarbe im europäischen Raum Fuß fasste. Das Wort bezeichnete zunächst nur die Südfrucht im Wappen der Oranier und ein Weihnachtsgeschenk für Kinder nördlich der Alpen. Das Reiserennrad ist abgerüstet, die Taschen lüften aus, die Waschmaschine läuft. Am Montag geht die Schule los. Meine Kinder haben sich jetzt digital mit ihren Klassen bekannt gemacht, auch das Menu des Caterers wurde studiert. Dieser ist neu und verspricht gleich einmal Wunder nach all den Gruselgerichten seines Vorgängers.
Helko Reschitzki, Moabit
Den gesamten Mittwoch über zersäbeln Helikopterrotoren den moabiter Himmel – auch ohne Nachrichtencheck ist klar, dass der israelische, der us-amerikanische oder der ukrainische Präsident in der Stadt ist. (Es ist Letzterer.) Das heißt höchste Sicherheitsstufe – LKA, BKA und andere Dienste sind per Hubschrauber, Jetskis und Booten, zu Fuß und mit Scharfschützen auf Dächern präsent. Mitte und Tiergarten werden zum Teil abgesperrt, es kommt zu Störungen im Nahverkehr. Warum solche Treffen im Zentrum einer Großstadt abgehalten werden, verstehen zunehmend weniger Leute – genau dafür gibt es abgeschirmte Landresidenzen wie Schloss Meseberg. Aber so nervig diese Einschränkungen auch sein mögen, nach zwei, drei Tagen sind sie vorbei – im Gegensatz zur permanenten Gain-of-Function-Forschung: Im S4-Labor des RKI wird mitten in Berlin an Pocken-, Zika-, Corona-, Influenzaviren und Milzbranderregern experimentiert – ein kleiner Unfall und unsere 4-Millionen-Stadt ist das Epizentrum einer biologischen Katastrophe. Wofür haben wir eigentlich das Siegfried-Loeffler-Institut auf der Insel Riems, das auf hochpathogene Viren, Bakterien und Parasiten spezialisiert ist und aus gutem Grund weit entfernt von menschlichen Siedlungen liegt?
Am Schlachtensee ist dann vom Drumherum des Staatsbesuchs nichts zu spüren. Ich treffe zwei meiner Lieblingsmitschwimmer: Ein nettes Ehepaar, das auf die 90 zugeht. Gebürtige Friedenauer, leben nun aber in Lichterfelde. Haben den Krieg und die Nachkriegszeit in Berlin erlebt, das Zerschneiden der Stadt und ihrer Familien: „Zum Glück wohnten wir so weit ab, dass wir die Mauer nicht auch noch jeden Tag sehen mussten.“ Der 9. November 1989 war auch für sie ein Tag der Befreiung. Beide sind Umweltschützer und besuchen regelmäßig die jeweiligen Stadtteilversammlungen. Kürzlich nahmen sie an einer Uferinspektion mit dem Bezirksbürgermeister teil, bei der es darum ging, wie weitere Hügelabgänge nach Starkregen verhindert werden können. Wir reden über tiefwurzelnde Pflanzen, Drainagen, Terrassierung und Wasserumleitungen – sie stehen voll im Stoff, lassen sich „immer alle Unterlagen schicken“. Wenn sie eine Frage oder Ideen haben, wenden sie sich an die entsprechende Stelle – ich habe den Eindruck, dass sie jeden Amtsleiter und Förster der letzten 60 Jahre namentlich kennen. Sind alle gesetzlichen Mittel ausgeschöpft, muss man sich „aber auch manchmal wie ein Partisan verhalten“, so der Mann. Wer wäre ich, dem zu widersprechen. In der Bucht haben sich nun vier Stockenten niedergelassen. Ab und an gesellt sich eine fünfte dazu, eine sechste sucht noch Anschluss.
Am Montagabend sitze ich fünf Stunden mit dem Guerillagärtner im Biergarten. Er berichtet, dass der Großteil der im Frühjahr geretteten Gehölze gut angewachsen ist. Wo die Sträucher nicht wurzelten, hat er Rosen gepflanzt. Weil Kinder und Betrunkene ihn an der einen oder anderen Stelle kaputt balanciert bzw. zu Boden geschlurft haben, muss der Flechtzaun repariert werden. Wir sprechen viel über Sprache – ein zentrales Thema in Zeiten, in denen Begriffe nicht mehr für alle dasselbe bedeuten, Verständigung zunehmend schwieriger wird. Wir tauschen uns über unsere Erfahrungen mit KI-Werkzeugen aus und gute Strategien, mit denen man Informationen filtert. Wir überlegen, wie man sich und die Seinen am besten vor all dem Psychomüll schützen kann, ohne dabei zum Außenseiter zu werden. Spannend ist der kleine Diskurs über das unterschiedliche Empfinden von Zeit in unterschiedlichen Kulturkreisen und Milieus, was sich bis ins eigene Umfeld zieht: Manche „haben“ einfach „nie Zeit“ – und das sind nicht unbedingt die Selbständigen mit den vier Kindern. Das Schöne an unseren raren Gesprächen ist, dass wir öfter mal komplett konträrer Ansicht sind, worüber sich dann trefflich streiten lässt. Es ist gut, jemanden zu treffen, der den Austausch von Argumenten, das Verlassen der eigenen Filterblase, das beidseitige Dazulernen zu schätzen weiß – und bei alledem Dissenz aushält.
Am Freitag 35 Grad im Schatten – als die letzten Schlüpfer auf dem Wäscheständer landen, sind die ersten Hemden bereits getrocknet. Über die Washington Post verbreitet sich die Meldung, dass vor kurzem in einer stillgelegten Atomwaffenfabrik in South Carolina radioaktive Wespennester gefunden wurden – exakt so fingen in den Fünfzigern und Sechzigern einige dieser fantastischen B-Movies an.
Räucherstäbchengroßkauf in der maoabiter Filiale der chinesischen Supermarktkette Go Asia – zu meiner Freude entdecke ich viele mir noch unbekannte Sorten. Die erste, die ich zuhause entglimme, heißt „Seven african powers“. Diese sieben Kräfte, so recherchiere ich, werden in Ritualen angerufen, um Schutz für die Familie, auf dem eigenen spirituellen und beruflichen Weg und in Zeiten des Wandels zu erbitten. Sie stehen für Führung, Gerechtigkeit, Weisheit, Liebe, innere Stärke, Heilung und Schutz.
Shine on!
Maria Leonhard, Spornitz
Sieh mal, wie schön, die Blumen halten immer noch, stand gerade in einer Fotonachricht von Anne. Ich hatte sie vor drei Wochen besucht und ihr einen Blumenstrauß aus meinem Garten geschenkt. Ich freue mich über diese Rückmeldung.
Es gibt einen Satz, den ich nicht vergessen kann, weil er bis heute Auswirkungen auf mein Handeln hat: Ich stand vor vielen Jahren an einem Gartenzaun und fragte die Frau, die gerade in den Beeten arbeitete, ob sie mir ein paar ihrer Zinnien verkaufen würde. Es war 11:30 Uhr. Sie sah mich ernst an und schlug meine Bitte aus: Blumen schneidet man maximal bis 10 Uhr morgens! An diese Worte halte ich mich seitdem. Danke, denke im Stillen, während ich einen neuen Strauß binde. Dieser heute ist für eine kranke Freundin. Möge die Freude daran zu ihrer Genesung beitragen.
Frank Schott, Leipzig
Der Donnerstag war ein sehr heißer Tag. Selbst die Enten, die sonst immer am Imbiss rumlungern und auf Krümel hoffen, hatten sich in den nahen Teich zurückgezogen.
Da es am frühen Morgen noch angenehm kühl war, schnürte ich die Laufschuhe. Zunächst ging es wieder durch den Wald, dann an den Nebenstraßen entlang. Die am Montag noch stoppeligen Felder waren umgegraben, die Bauern bereiten die Aussaat vor.
Was mich freute: die beiden Störche waren wieder da. Wir hatten im Ort zwei Nester entdeckt, eines dürfte ihr Zuhause sein. Die Rehe, die auf einer nahen Wiese nach Nahrung suchten, beäugten mich skeptisch und sprangen davon, als mich mit stampfenden Schritten und lauten Atemgeräuschen näherte.
Nach dem Frühstück schlug ich vor, Fahrräder auszuleihen und die Umgebung zu erkunden, aber der Familie war es dafür zu heiß. Sie wollten lieber kleine Spaziergänge machen oder die Hitze in der kühlen Ferienwohnung aussitzen.
Ich fuhr alleine. Zuerst nach Malchow, von dort weiter nach Lenz. Spontan umrundete ich auch noch den Plauer See. Ich hatte kein Proviant und nichts zu trinken dabei, also erntete ich Brombeeren, die in Hülle und Fülle am Wegesrand wuchsen.
Als Fremder muss man großes Vertrauen in die Navigationssoftware haben, die einen durchs unbekannte Gebiet lotst. Die Waldwege waren teilweise unbefestigt, dafür bekommt man dann die Natur in ihrer ganzen Fülle: Schmetterlinge, Vögel – und Mücken. Immer wieder tauchten kleine Ortschaften mit Villen direkt am Ufer auf.
An den Plauer Zeltplätzen vorbei ging es über die Elde auf der anderen Seite des Sees zurück. Das Wasser rund um die Stadt war fest in der Hand von Sportbooten aller Größen und Bauarten. Hausboote tuckerten gemächlich auf die Eldebrücke zu.
Der Rückweg führte stellenweise direkt an den Bundesstraßen entlang. Glücklicherweise gab es gut ausgebaute Radwege, so dass ich nicht gezwungen war, die dicht befahrenen Straßen zu nutzen. Aus der Ferne grüßten keine Kirchtürme, sondern Winräder, unsere Kathedralen des Fortschritts. Immerhin drehten sich die meisten, auch wenn an einem sonnigen Tag wie diesem der überschüssige Strom sicher wieder ins Ausland verschenkt wird. Der Mais stand üppig auf den Feldern.
Nach knapp vier Stunden war ich zurück in Göhren-Lebbin. Ein schöner Ausflug, auch wenn ein paar Grad weniger nett gewesen wären – die drei Radler, die ich nebenbei auf Campingplätzen getrunken hatte, waren sofort wieder ausgeschwitzt. Ich konnte es kaum erwarten, mich unter die Dusche zu stellen.
Christoph Sanders, Thalheim
Von Dienstag auf Mittwoch Venus und Jupiter auf einer Senkrechten – um drei am nachtdunklen Horizont erheblich besser auszumachen als am zartblauen Morgenhimmel. Ich glaube, dass in der Bibliothek von Alexandria bereits ein Großteil des astronomischen Wissens versammelt war – so zum Beispiel die Erkenntnis, dass es sich bei Planeten um Kugeln handelt, die sich um Sonnen bewegen. Das geriet dann für einige Jahrhunderte in Vergessenheit. Die Idee, Sternenkonstellationen wären mit unseren Individualschicksalen verknüpft, kann nur einer haben, der die wahren Größenverhältnisse komplett verkennt. Schön ist, wie das Unbegreifliche, Unbekannte die Phantasie anregt und Mythen erzeugt. Castor und Pollux.
Um 8:30 Uhr im SWR eine gute Sendung aus der Reihe „Wissen. Nachgefragt“. Die Themen: Mikroplastik in Gewässern und unseren Körpern; die verschärften Tabakverbote in GB und Frankreich; der Kokainkonsum und -handel, unsere davon überforderten Kommunen. Erfurt spielt seit den Neunzigern eine bedeutende Rolle im Netzwerk der Mafiaorganisation ’Ndrangheta und ist eine große Drehscheibe für Geldwäsche und Koks. Der Deutsche Städte- und Gemeindetag hat das Thema immer noch nicht auf dem Schirm, dabei wird lange schon bis ins kleinste Dorf geliefert. Dass die Umwelt zunehmend von Mikroplastik durchsetzt ist, ist auch bei meinen Töchtern ein Thema – sie machen sich zurecht Sorgen um die eigene Gesundheit.
Schwül-heiß mit ein wenig Wind; zwei Wäscheladungen rapidissimo trocken. Rundum sind die Fenster beschattet, der Sonnenschirm ist aufgespannt. Die Hasen strecken sich in ihrer ganzen Länge aus. Die Jüngste überrascht uns mit einem sehr schönen Familienporträt – eine Filzstiftarbeit auf Papier. Der Mannheimer Freund hat sturmfrei und Zeit – wir planen spontan für Donnerstag und Freitag eine Tour. Spannend, wo dann die Wetterfront verlaufen wird – der Taunus ist die große Scheide, südlich beginnt das Klimakatastrophengebiet.
Das Radio meldet, dass in Frankreich wegen einer Qualleninvasion ein Atomkraftwerk abgeschaltet werden musste. Das Unbehagen über den Zustand der Deutschen Autobahnen wächst: Da die alten 20 Zentimeter dicken Betonprofile nicht mehr ausreichend der Hitze widerstehen, müssen jetzt 30 Zentimeter her, für den Asphalt werden polymere Beimischungen geprüft. Räder müssen rollen – meins auch.
Frank Schott, Leipzig
Ausflug nach Ivenack. Dort stehen die Ivenacker Eichen, die ältesten Eichen Deutschlands, möglicherweise die ältesten in ganz Europa. Vom Fleesensee ist das Örtchen eine Stunde mit dem Auto entfernt.
Bereits die Romantiker oder der mecklenburgische Heimatdichter Fritz Reuter waren von den mächtigen Bäumen entzückt. Was diese Riesen wohl alles im Laufe ihres Lebens gesehen haben … Wobei – was sollen sie schon gesehen haben, hier im tiefsten Mecklenburg?
Zumindest einmal muss aber richtig was los gewesen sein: Einer Überlieferung zufolge sollen Napoleons Truppen während der Besetzung Mecklenburgs von einem adeligen Gestüt in Ivenack den berühmten Deckhengst Herodot beschlagnahmt haben. Es heißt, der französische Kaiser selbst habe den stattlichen Apfelschimmel eine Zeit lang geritten – bis schließlich General Blücher die Rückgabe veranlasste. Wenn die alten Bäume heute miteinander flüstern, mögen sie sich vielleicht fragen, ob das edle Pferd noch lebt.
Die älteste Eiche, Methusalem genannt, soll über eintausend Jahre alt sein. Sie ist 35,50 Meter hoch, hat am Stamm einen Durchmesser von 3,49 Metern und einen Umfang von 10,96 Metern.
Im 75 Hektar großen Park kann man freilaufendes Dammwild und in einem abgezäunten Areal Konik-Wildpferde beobachten. Auch von einer Streuobstwiese war die Rede – ob damit ironisch auf die riesigen und zahlreichen Haufen von Pferdeäpfeln angespielt wird, habe ich nicht in Erfahrung bringen können.
Ebenfalls sehenswert ist der Baumwipfelpfad, der zwischen Eichen, Erlen und Buchen hindurchführt. Von dort oben hat man einen guten Blick auf den Ivenacker See und das Schloss. Am Ende haben wir sehr viele alte Eichen gesehen, darunter auch – verglichen mit Methusalem – einige Jungspunde von gerade mal 600 bis 800 Jahren. Und die sahen teilweise gerupfter aus als der große alte Mann des Waldes.
Christoph Sanders, Thalheim
Montag der zweite Versuch, diesmal erfolgreich: Um 5:45 Uhr sehe ich auf Nordost deutlich die Planetenreihung: Jupiter nähert sich der Venus von links. Mit einem Teleskop ließen sich vermutlich auch die Monde gut erkennen – ich habe nur ein Zehnfach-Glas. Ich bin sehr gespannt, ob Venus morgen einen Schatten auf Jupiter werfen wird.
Der Dienstagmorgen diesiger. Allmählich nähert sich Jupiter von Norden her der Venus. Erste kleine Taugespinste im Gras, jetzt fehlt nur noch die Zebraspinne. Die verrät ihren Standort durch große, unübersehbare Netze. Aus der Nachbarschaft hört man das Jaulen des DHL-Elektroautos, Kinderrufe und Hauswerkergeräusche. Der Mirabellenberg, den wir geschenkt bekamen, wird rege abgetragen – ich befülle eine Schale nach der anderen; das äußerst schmackhafte Steinobst verschwindet wie von Zauberhand. Meine jungen Damen bereiten sich (und ihre Frisuren) auf einen Stadtbesuch vor. Dort werden sie Steingut bemalen und das dann glasieren lassen. Blauer Himmel, die Schwüle nimmt zu – gut, dass der Wind auf Ost steht.
Während die Teenies in der Stadt sind, länge ich sehr mühsam eine Kette. Dazu muss man zwei Nieten vorsichtig und nicht vollständig austreiben, dann die Verlängerungsglieder einsetzen und die Nieten wieder eintreiben. Das passende Werkzeug, ein Kettennieter, kostet 20 Euro. Zum Vergleich: Die „Inspektion“ eines E-Bikes schlägt mit rund 120 Euro zu Buche, Material und Ersatzteile nicht eingerechnet. Die Kundenbindung erfolgt durch sogenannte Garantien – was den Käufern entgegenkommt, da kaum noch jemand in der Lage ist, selbst Hand anzulegen. Kein einziges unserer Familienräder ist jünger als 25 Jahre – keines hatte je „Garantie“. Alle sind gepflegt, nur ab und an muss ein Verschleißteil ausgetauscht oder etwas geflickt werden. Es braucht sehr wenig, damit sie quasi ewig halten.
Im Laufe des Tages sehr heiß. Trotzdem gutes Training. Bringe der Familie vom Metzger fette Bratwürste mit. Eigene Schlachtung. Alle sagen: „Die riechen sehr gut!“ Und ratzfatz sind die Würste weg.
Kurzecks „Der vorige Sommer“ einfach nur wunderbar.
Susanne Kasperowski, Gadebusch
Außenkamera Garten, 23:09:57, 12-08-2025
Helko Reschitzki, Moabit
Am Mittwoch zwei scheinbar widersprüchliche Wettervorhersagen: Einerseits drei Schildkröten auf dem Sonnenbaum, andererseits sehr viele Schwalben direkt über dem Schlachtenseewasser. Letztendlich haben beide recht: Vormittags regnet es, am Nachmittag reißt die Wolkendecke auf. Am Donnerstag um 6 Uhr 12 Grad Lufttemperatur, um 7 Uhr 14°, um 8 Uhr 16°, um 9 Uhr 18°, um 10 Uhr 20°, um 11 Uhr 22° und um 12 Uhr 24° – zum Glück bin ich kein Zahlenmystiker. Ab da ist es nach einer langen, etwas kühlen, Regenzeit wieder trocken und sommerlich warm; am Samstag steigt das Thermometer auf 29°.
Es mag Zufall sein, doch seit dem Tod eines der Blässhuhnküken hat sich die Dynamik in unserer Bucht verändert. Über Tage hinweg ließen sich von den zuvor regelmäßig auftauchenden siebzehn Wasservögeln nur ein oder zwei, manchmal gar keine blicken. Erst am Sonntag wurde es wieder voller: Fünf Stockenten und zwei Schwäne gründelten und putzten sich. Von den Rallen bekam ich, aus der Ferne, nur noch ein Alttier zu Gesicht. Ornithologische Buchtkonstante sind die Schilfrohrsänger, die unermüdlich ihren Namen bestätigen und dabei sanft ihr Habitat hin und her wiegen.
Am Donnerstagnachmittag entdecke ich im wilmersdorfer Schoeler-Park inmitten der dort ansässigen, zahlreichen Wildkaninchen einen Rotfuchs. Die Tiere beachten einander nicht. Der Fuchs und ich schlagen zufällig denselben Weg ein. Nach kurzer gegenseitiger Einschätzung ignorieren dann auch wir uns weitgehend und trotten nebeneinander über das Pflaster der Wilhelmsaue. Mein Gefährte hebt zwischendurch das Bein, um sich an einem Fiat zu erleichtern – ich hatte zuvor im Urinal des Nachbarschaftshauses, in dem ich regelmäßig Tischtennis spiele, das Wasser abgeschlagen. Dortselbst erfreute mich ein Plakat neben dem Hofeingang, auf dem namentlich jedem Helfer gedankt wird, der zum Gelingen des Sommerfestes beitrug – eine kleine, feine Geste. Mit einem meiner Mitspieler rede ich über die Herkunft unserer Namen, die wir mit der Geburtsregion abgleichen. Mit einem anderen unterhalte ich mich über Chanelling.
Am Samstag kommen zeitgleich mit mir zwei andere Männer an der Buchtbank an, wir sind uns noch nie begegnet. Wir setzen uns hin, sagen kurz „Hallo“, dann weiter nichts, schauen aufs Wasser, atmen tief die Sommermorgenluft ein. Der ganz links fängt auf einmal an zu lachen: „Kiek ma, wir drei auf der Bank!“ Darauf der in der Mitte: „Herrlich, oder!“ Und ich: „Der beste Ort, an dem wir gerade sein können.“ Wir kommen ins Gespräch, lobpreisen den See und das Drumherum. Die beiden sind gebürtige Westberliner, der eine etwa so alt wie ich, der andere vielleicht 70. Sie erzählen vom Mauerfall, wie schön es ist, dass nun alle in Freiheit leben können und die Stadt wieder eins ist. Dabei ordnen sie sich und ihr Leben, bis hin zur Gegenwart, in den großen Jahrhundertbogen ein, jammern dabei nicht, sind demütig. Das begegnet mir sehr oft bei diesen alten Frontstadtbewohnern. Icke: „Ihr wart ja genauso eingemauert.“ Sie erzählen, garniert mit dem ortstypischen fatalistischen Humor, ein paar großartige Storys von damals. Dann muss der Jüngere los – herzliche Verabschiebung. Der Alte und ich bleiben noch ein wenig. Er sagt, dass er jeden Sonnabend um die Zeit da ist, da dann seine alte Laufgruppe ihre Seerunden dreht. Er selbst darf wegen seiner Herzerkrankungen leider keinen Sport mehr treiben, komme aber wie gewohnt zum Treffpunkt. Während die anderen joggen, geht er zur Bucht. Anschließend treffen sich alle in der „Fischerhütte“. So nähme er noch Anteil, kriege seinen Hintern hoch: „Watt willste machen, wenn dit Herz nich mehr mispielt … Aber die janze Zeit nur rumliejen jeht nich! Man muss sein Schicksal annehmen, so schwer es eenem ooch fallen mag.“ Ich berichte ein wenig von meinem Krankheitskram – wir sehen Parallelen. Auch wir verabschieden uns herzlich – wär schön, wenn man sich mal wieder sieht … Ich muss öfter an die junge Schönebergerin Rabea Rogge denken, die im April als erste Deutsche im Weltall war und auf dem Flug eine Kopie der Freiheitsglocke aus ihrem Rathaus mitnahm. Die Trümmerfrauen und Rosinenbomber, 17. Juni und 13. August, JFK, der 9. November 1989, Love Parade, Reichstagsverhüllung und das Sommermärchen – all das steckt ja ganz tief in der DNA der Stadt und ihrer Bewohner.
Seit Montag sind auch auf der Rehwiese die ersten Brombeeren reif. Sie schmecken ganz anders als die am Bahndamm; insgesamt sind viele verfault. Zwei Kilometer Luftlinie, andere Bedingungen. Das Gras taufrisch, ich lasse meine Socken auf der Buchtbank trocknen.
Frank Schott, Leipzig
Morgendlicher Lauf in Mecklenburg. Wir sind in Göhren-Lebbin, einem 800-Seelen-Dorf mit einem Schloss, mehreren Golfplätzen, einem Feriendorf, einem Spaßbad und sicher über zweihundert Ferienwohnungen. Der Grund für all das: der Fleesensee und die nur zwölf Kilometer entfernte Müritz.
Kurz nach sieben Uhr laufe ich los. Rauhreif steht auf den Wiesen und den bereits abgeernteten, stoppeligen Feldern, auf denen sich Stare und Krähen um Körner und Regenwürmer balgen. Zwei Störche haben sich ebenfalls zum Frühstück eingefunden.
Ein Teil der Laufroute besteht aus diesem lockeren, weichen Sand, der auch Fahrräder ausbremst. Einige Stellen sind feucht und von tiefen Spurrillen durchzogen. Nach einem Regenguss ist das hier vermutlich eine einzige Schlammwüste. Weiter geht es über eine alte Pflasterstraße, wo ich versuche, auf dem schmalen Randstreifen zu laufen. Das letzte Stück ist wieder ein Feldweg, der hauptsächlich von Eichen gesäumt ist. Fast alle Blätter sind braun – vermutlich eine Folge der Rosskastanienminiermotte. Zwischendurch schimmert immer mal wieder das Schlossdach zwischen den Äckern und Bäumen hindurch. Auf der gesamten Strecke begegnet mir keine einzige Menschenseele.
Ich beende meine knapp 7,5 Kilometer lange Runde am Markt und kaufe frische Brötchen für die Familie. Mit Landluft in der Lunge und ein paar Kilometern in den Beinen sind die Brötchen der perfekte Start in den Tag.
Christoph Sanders, Thalheim
Freitag vor dem Einschlafen Kurzeck gelesen – hypnotisch … Am Morgen darauf wundere ich mich, warum ich auf der Landstraße keine Fahrzeuggirlanden sehe. Es ist ja Samstag! Von der weiter entfernten Bundesstraße dringen aber wie gewohnt gedämpft Rollgeräusche herüber. Schwüle Gesamtwetterlage, die Kinder im Ferienmodus. Bevor die Wespenflut einsetzt, lesen wir die restlichen Äpfel von der Wiese. Dabei werden auch gleich die abgefallenen Äste entfernt, dann geht noch kurz der Mäher drüber. Letzte Arbeit am Wolfsburg-Text. Ich muss dabei unbedingt diesen inzwischen üblichen Katastrophenton vermeiden – der generiert zwar Klicks, ist aber ansonsten zu rein gar nichts zu gebrauchen. (Eine reelle Katastrophe ist, dass wir Reichen es nicht einmal schaffen, unsere Lebensmittelabfälle zu den Hungernden zu bringen – wo doch sonst jedes Schräubchen zielsicher den Globus umrundet.) Bevor es auf den Feldberg geht, teste ich meine neue Kamera; Fertigungsjahr 2014 – das waren die letzten, bevor das Smartphone übernahm.
Gelungene, aber sehr warme Feldbergrunde. Die Erntefahrzeuge auf Hochtouren – der Wind bläst das Korn trocken, da muss es ruckzuck gehen; an der Mühle stehen die vollen Anhänger Schlange. Auf der Strecke, besonders am Samstag, eine extrem hohe Rennraddichte – der sportliche Teil des Rhein-Main-Ballungsraums fährt dort seine Maschinen aus. Der Großteil der Geräte ist unter drei Jahre alt; auch die Trikotmode wechselt immer wieder mal. (Ich bin heute im weißen Négligé unterwegs.) Am Hang geben sich gebieterische Kradfahrer ebenfalls ein Stelldichein, präsentieren in Reih und Glied, was sie haben. Dann kommt der Sonntagsferrari und dreht die Ehrenrunde.
15 Kilometer vor dem Ziel der große Moment an der Brombeerhecke: Durch die unterschiedlichen Reifestadien variiert der Geschmack. Eine der Beeren ist so perfekt, dass mir wohlige Schauer durch das durchgeschwitzte Dress laufen. Nach Nummer 28 ist aber Schluss. (Eine Brombeer-Käsetorte – in Schichten! – mit meringuiertem Baiser obendrauf, dazu Darjeeling, das wärs …) Gegen den aufkommenden Nordwind beißend, fahre ich das letzte Stück nach hause. Durst!!!!!!
Sonntag um 5:45 wegen der Planeten-Konjunktion kurz hoch – trotz klaren Himmels ist nichts zu sehen. 8:30 Uhr Frühstück. Obwohl der Schachtelhalm zur Neige geht, werden die Hasen satt – es ist noch reichlich Löwenzahn vorhanden. Nordströmung mit einer unglaublich angenehmen Sonne, fast wie an der Ostsee. 9:30 Uhr steigen die ersten Sportflugzeuge auf. Am langsamen Motor erkennt man den Fallschirmspringertransporter. Der muss nun seine Passagiere punktgenau loswerden, was sich über den Tag ein dutzend Mal wiederholen wird. Von der Tour habe ich mich bestens erholt – kein Muskelschmerz, keine Müdigkeit, die Lunge ist frei. Dank meiner Tiefenatmung wurde jede Kapillare optimal mit Sauerstoff versorgt.
Als ich die Zwölfjährige von der Freundin abhole, neben der Straße stapelweise Quaderballen aus Stroh. Die kubische Form spart Platz – und doch haben sich die Rundballen durchgesetzt. Vermutlich, weil die Pressen günstiger, robuster und schneller arbeiten. Von einem Tag auf den anderen sieht man überall Stoppelfelder – teilweise fährt sofort die Egge darüber, danach folgt die Kalkung. Neue Kette an ein altes Rad, die Schaltungen mit Rostlösern und Feinöl besprühen. Wenn wieder alles gängig ist, ist eine neuerliche Laufleistung von bis zu 10.000 Kilometern möglich. Maschinen leiden durch Stillstand. Den Familienausflug ins Schwimmbad lasse ich zugunsten eines Ruhetags sausen. Auch in den schönsten Schwimmbädern fühle ich mich nie wohl. An Wildbadestellen eher – trotzdem bin ich kein Wassertier. (Ich kann aber schwimmen!) Ein schöner Sommertag.
Frank Schott, Leipzig
Was schenkt man seinem Vater zum 85. Geburtstag?
Natürlich gemeinsame Zeit – Familienerlebnisse statt Dinge.
Wir waren in Slate in der Gaststätte „Zum Fährhaus“ essen, als wir entdeckten, dass die dort auch Floßboote verleihen. Dabei handelt es sich quasi um kleine Hausboote mit einer überdachten Holzhütte, einer Veranda mit Zäunen backbord und steuerbord sowie einer offenen Bugseite. Ein kleiner Dieselmotor sorgt für den Antrieb.
Spontan buchten wir so ein Floßboot. Es trug denselben Namen wie die Schwiegermutter meines Vaters: Lotte. Die Fahrt ging die Elde aufwärts bis nach Neuburg und von dort wieder zurück. Insgesamt waren wir zwei Stunden unterwegs.
Die Elde ist mit über 180 Kilometer der längste Fluss in Mecklenburg. Sie führt von der Elbe bis in die Müritz und kann durchgehend mit Sportbooten befahren werden. Unser Teilstück führte durch Wälder, vorbei an schilfbewachsenen Ufern, vereinzelt sahen wir Seerosen.
Mein Vater genoss es sichtlich, das Boot zu steuern. An den für ihn zu hohen Sitz gelehnt, lenkte er unseren Kahn entspannt über das Wasser – bis er sich wegen des aufkommenden Gegenverkehrs kurz ablösen ließ. Nachdem dieser vorbeigezogen war, kehrte er ans Steuerrad zurück. Zusammen mit der erholsamen Umgebung war es tatsächlich das perfekte Geschenk.
Und für mich gab es die Erkenntnis, dass ich die Elde unbedingt einmal mit einem Kanu befahren werde.
Maria Leonhard, Spornitz
„Das ist des Jägers Ehrenschild, daß er beschützt und hegt sein Wild, waidmännisch jagd, wie sich’s gehört, den Schöpfer im Geschöpfe ehrt.“ (Oskar von Riesenthal, königlicher Oberförster)
Mein Mann, Jäger und Jagdhornbläser, hat eine Einladung von Kameraden eines benachbarten Reviers erhalten – und ich darf mit! In einem schönen Hof, mitten im Wald, ist eine waidmännisch dekorierte Tafel aufgebaut. Die Jägerinnen und Jäger, die daran sitzen, sind in Gespräche vertieft. Es ist eine sehr angenehme Atmosphäre. Das Plätschern des kleinen, liebevoll gestalteten Teichs verstärkt die besondere Stimmung.
Unter einem Baum entdecke ich das in Eichenlaub platzierte Haupt des Hirsches, dem dieses feierliche Treffen gilt. Die Jägerin, die ihn erlegt hat, erzählt mir, er wäre ungefähr fünfzehn Jahre alt gewesen. Erste deutliche Altersmerkmale seien die starke Zurückbildung des Geweihes und die Nähe der Rosen zum Schädel. Um das genaue Alter festzustellen, müsste man den Kiefer in ein Labor einschicken und untersuchen lassen. Dafür wird dort ein Zahn aufgesägt.
Der Hirsch hatte sich mehrere Tage an der gleichen Stelle ihres Reviers gezeigt. Sie sah seine stark geschwollenen Gelenke und dass er einseitig erblindet war. Die einst aufrechte, stolze Haltung hatte er verloren. Er war krank – bald würde er sich niederlegen und langsam verenden. Diese Qual wollte sie ihm ersparen. Sie wartete eine ganze Nacht, bis sie ihn von seinem Leid erlösen konnte.
Ihm zu Ehren haben sich also die Jäger und Freunde versammelt. Für ihn blasen sie das letzte Mal die traditionellen Signale: „Jagd vorbei“, „Hirschtod“ und das „Halali“. Ein wunderschöner Brauch. Respektvoll und besinnlich. Für mich eine eindrucksvolle Erfahrung.
Walter Kintzel, Parchim
Stinsenpflanzen
Als Stinsenpflanzen bezeichnet man krautige Arten, die ab dem 16. Jahrhundert in gärtnerischen Anlagen des nördlichen Mitteleuropas angesiedelt wurden. Dort verwilderten sie im Laufe der Zeit und breiteten sich nach und nach in benachbarte Bereiche wie Kirch- und Friedhöfe, Landsitze, Guts- und Pfarrgärten, Schlossparks, Burghügel oder Stadtwälle aus.
Der Begriff „Stinsenpflanzen“ stammt aus dem niederdeutschen Sprachraum und leitet sich von stins („steinernes“ oder „befestigtes Haus“) ab. Im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit waren solche Häuser nur den reichen Schichten vorbehalten und stellten eher die Ausnahme dar. Zu ihnen zählten beispielsweise Kirchen, Pastorate, Klöster, Burgen, Gutshöfe, Adels- und Bischofssitze und Stadtvillen. Diese verfügten zumeist über Garten- oder Parkanlagen, in denen aus den unterschiedlichsten internationalen Regionen eingeführte Gewächse angesiedelt wurden – die heutigen Stinsenpflanzen. Obwohl die Anwesen oft längst verschwunden sind, haben sich die Arten bis in die Gegenwart erhalten. In meinem heimatlichen Altkreis Parchim findet man sie insbesondere auf Kirch- und Friedhöfen.
Elfenkrokus in Burow
Als lebendige Zeugnisse der Kulturgeschichte verweisen Stinsen auf die vielfältigen Verwendungen als Arznei-, Futter-, Gewürz-, Zier- oder Genusspflanze und als Nahrungsmittel. Allen gemeinsam ist, dass sie einst vom Menschen kultiviert wurden und nach ihrer Anpflanzung ohne weitere Pflege dauerhaft gedeihen, verwildern, sich verbreiten und ganz natürlich in die örtliche Flora einbürgern konnten. So entstanden Populationen, die zu einem Bestandteil der einheimischen Vegetation und unseres botanischen Erbes wurden.
„Deutsche Schul-Flora“ von Wilhelm Müller & Friedrich Otto Pilling, Verlag Theodor Hofmann, Gera, 1894
Ältere Stinsenpflanzen sind unter anderem:
Gewöhnliche Akelei (ursprünglich Heilpflanze, dann Zierpflanze, in Gartenkultur mindestens seit 1410), März-Veilchen (ursprünglich Heilpflanze, mindestens seit 1410), Nachtviole (mindestens seit 1542), – Weiße Narzisse (mindestens seit 1552), Garten-Tulpe (eingeführt 1554), Weiße Narzisse (mindestens seit 1552), Dolden-Milchstern (mindestens seit 1559), Frühlings-Krokus (mindestens seit 1561), Osterglocke (ursprünglich Heilpflanze, mindestens seit 1561), Kleines Schneeglöckchen (1568), Garten-Stiefmütterchen (erst Heilpflanze, mindestens seit 1588), Winterling (bereits 1588 kultiviert), Bastard-Aurikel (Zierpflanze, mindestens seit 1601), Orangerotes Habichtskraut (erst Heilpflanze, mindestens seit 1613).
Ohne genaueres Kultivierungsdatum sind der Weiße Mauerpfeffer (auch Weiße Fetthenne), der Gefingerte Lerchensporn, das Horn-Veilchen, das Großblütige Hornkraut, der Russische Blaustern, die Herbstzeitlose, die Kriechende Gämswurz, das Tausendschönchen, das Kaukasus-Mauerpfeffer (auch Speckkraut), der Elfenkrokus, die Kleine Traubenhyazinthe oder das Elwes-Schneeglöckchen – die bis ins 19. Jahrhundert eingeführt wurden.
Interessant ist der Gewöhnliche Schneestolz (Chionodoxa luciliae), der erstmals 1764 nach Deutschland gebracht wurde, dann jedoch wieder in Vergessenheit geriet. Erst 1877 gelang ein erneuter Import; seither ist er fest in der mitteleuropäischen Gartenkultur verwurzelt.
Schneestolz in Dütschow
Die Ritter und ihre Mannen brachten Stinsenpflanzen von den Feld- und Kreuzzügen aus Süd- und Südosteuropa mit. Auch Ärzte, die in Italien oder Südfrankreich studierten und dort botanische Gärten kennengelernt hatten, trugen zur Einführung mancher Art bei. Nicht wenige Kaufleute verbreiteten Gewürzpflanzen und andere seltene Gewächse als Freundschafts- oder Werbegeschenke.
Als türkische Stämme im Mittelalter aus ihrer zentralasiatischen Urheimat westwärts zogen, begegneten sie den blühenden Gartenkulturen jener Völker, die sie auf ihrem Weg unterwarfen. Als begeisterte Blumenfreunde übernahmen sie, etwa von den Arabern, Byzantinern oder Persern, zahlreiche der dort kultivierten Arten.
Besonders prägend für die mitteleuropäische Gartenkunst war die Orientalische Periode zwischen 1560 und 1620, in der viele, meist exotische, Zierpflanzen eingeführt wurden, welche die Parkanlagen und Gärten mit neuen Formen und Farben nachhaltig bereicherten.
Zahlreiche Arten wurden ursprünglich als Heil- oder Zauberpflanzen verwendet, etwa die Christrose oder die Dach-Hauswurz, welche der Volksglaube schützende Kräfte gegen Blitzeinschläge zuschrieb – vorausgesetzt, man pflanzte sie auf das Dach.
Elwes-Schneeglöckchen (auch Türkisches Schneeglöckchen) in Lübz
Heutzutage sind die meisten Stinsenpflanzen vor allem auf Kirch- und Friedhöfen zu finden. Wird ein solcher Standort entwidmet, führt die nachfolgende Vergrasung zu einem Rückgang der Vielfalt.
Im mecklenburgischen Altkreis Lübz fand die letzte systematische Zählung im Jahre 2015 statt – die am häufigsten anzutreffenden Arten waren: Kleines Schneeglöckchen, März-Veilchen, Frühlings-Krokus, Elfen-Krokus und Sibirischer Blaustern.
Erwähnenswert sind die Verbreitungsweisen einiger der dabei erfassten Stinsenpflanzen:
Selbstaussaat (Pflanzen werfen Samen selbstständig aus)
Regenschleuderausbreitung (Samen werden durch Regen an andere Orte geschleudert)
Gänseblümchen, Kleine Traubenhyazinthe, Weißer Mauerpfeffer, Winterling
Ameisenverbreitung (Ameisen transportieren den Nährkörper des Samens zu ihrem Bau)
Doldiger Milchstern, Gefingerter Lerchensporn, Gewöhnlicher und Wuchernder Schneestolz, Herbstzeitlose, Kleines und Großes Schneeglöckchen, Märzveilchen, Pfingstrose, Winterling
Windverbreitung (Samen werden vom Wind davongetragen)
Akelei, Dach-Hauswurz, Gänseblümchen, Herbstzeitlose, Hornkraut, Kleine Traubenhyazinthe, Nachtviole, Wolliger Ziest
Auf dem Kirchhof Granzin hat der Gärtner die Pfingstrosen vorbildlich vor dem Rasenmäher geschont.
Wie kann ich Stinsenpflanzen aktiv schützen?
Damit die Stinsenpflanzen uns auch in Zukunft erhalten bleiben, sind folgende praktische Maßnahmen empfehlenswert (diese beziehen sich nicht auf Grabstellen, Neuanlagen und Blumenrabatten):
Natürliche Verbreitung sichern
Die wichtigste Schutzmaßnahme auf Kirch- und Friedhöfen ist es, die natürliche Ausbreitung der Stinsenpflanzen zu fördern und nicht zu stören.
Wiedereinbürgerung früherer Arten
Arten, die früher vor Ort genutzt wurden, können durch gezielte Pflanzungen wieder angesiedelt werden.
Auf übertriebene Ordnung verzichten
Zu intensive Pflege- und Aufräumarbeiten sind zu vermeiden, da sie die Pflanzen und deren Standorte gefährden können.
Späte und portionsweise Mahd
Das Mähen sollte erst nach dem Abblühen der Frühblüher erfolgen. Ideal ist eine Portionsmahd, bei der nicht die gesamte Fläche auf einmal, sondern in Abschnitten gemäht wird – das schützt Tier- und Pflanzenvielfalt.
Verzicht auf Biozide und Dünger
Der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln (Bioziden) und Düngemitteln ist vollständig zu unterlassen, da sie die empfindliche Flora stören.
Kein Schreddermaterial verwenden
Zerkleinertes Holz- oder Strauchmaterial sollte nicht als Mulch aufgebracht werden, da es die natürliche Vegetation unterdrückt.
Stockausschläge entfernen
Jungtriebe („Stockausschläge“) an den Baumstämmen sind zu entfernen, um den Lichtbedarf der Stinsenpflanzen zu sichern.
Lichtraum schaffen
Durch gezielten Rückschnitt kann ausreichend Licht für bodennahe Pflanzenarten wie Stinsenpflanzen gewährleistet werden.
Gezielte Narbenverletzung der Bodenvegetation
Leichte Bodenanritzungen wie zum Beispiel das Aufrauen der Grasnarbe können konkurrenzschwächeren Arten helfen, sich anzusiedeln.
Abfallhaufen pflanzlichen Materials vor Ort belassen
Pflanzliche Abfälle sollten nicht außerhalb des Friedhofs entsorgt werden, um die Ausbreitung von Samen vor Ort zu ermöglichen.
Die zugrundeliegende sowie weiterführende Literatur und andere Quellen können gern beim Autor angefragt werden. (botaniktrommel@posteo.de)
Maria Leonhard, Spornitz
Ich wache mit Kopfweh auf und ein unerklärlicher Seelenschmerz lastet auf mir. Ist es die kranke Freundin oder sind es die toten Mandarinenten, über die ich gestern etwas las, oder, oder, oder …
Pico, unser Hund, unterbricht meine Gedanken. Er will mit mir draußen spielen. Okay. Er würde doch keine Ruhe geben. Beim Toben mit ihm wird meine Seele wieder ein bisschen lichter. Dann, per Anruf, eine spontane Einladung zum Frühstück bei Freunden.
Eine Baustelle stoppt meine Fahrt. Vier Arbeiter aus Magdeburg stehen mit drei großen Autos neben unserem Bahnübergang. Weil dort demnächst Gleisbauarbeiten durchgeführt werden sollen, errichten sie um das Überlaufbecken einen Froschschutzzaun. Wenn die Schienenerneuerung beendet ist, kommen sie wieder, um den Zaun abzubauen. Man darf über die Kosten, die der Steuerzahler trägt, nicht nachdenken, sagt einer der Arbeiter. Und manchmal, fügt er hinzu, sind nicht mal Frösche da.
Beim Frühstück blicken wir auf einen riesigen, idyllischen Garten. Die eine Freundin erzählt etwas Kompliziertes über Teflongiftstoffe, mit denen sie auf Arbeit zu tun hat; die andere sagt, dass die Russen nun kurz vor dem Einmarsch stehen. Aus der großen Politik gibt es derzeit wohl so gar nichts Positives zu berichten – aber auf die habe ich sowieso keinen Einfluss! Mir ist viel wichtiger, wie ich Brot ohne Zusatzstoffe backen kann, wo es wirklich gutes Getreide gibt und wie man das richtig lagert. Wir sprechen dann zum Glück noch über die aktuellen Phasen des Mondkalenders und vieles andere mehr, das unser Leben ausmacht und uns alle miteinander verbindet.
Nachmittags will mein Mann mit Pico in den Wald fahren. Ich möchte ihm schnell ein paar Wasserflaschen für die kleine Ulme befüllen, die wir vor ein paar Tagen eingesetzt haben. Die Plastikflaschen sind alle voll, also nehme ich welche aus Glas. Mein Mann, der Jäger, sagt: Glas gehört nicht in den Wald! Ich antworte: Aber das Bäumchen! Bitte, bitte, bitte. Nachdem er die Flaschen bruchsicher verstaut hat, macht er sich auf den Weg. Später sendet er mir ein Foto: Der Ulme ist ein neues Blatt gewachsen! Mein Herz hüpft vor Freude. Der Seelenschmerz ist nun verschwunden.
Christoph Sanders, Thalheim
Milder, verschleierter Donnerstagsbeginn. Ab 5 Uhr unterwandert das Rollgeräusch der Landstraße meinen Schlaf. Bin jetzt wieder im 7-Stunden-Rhythmus, das heißt Dämmererwachen ab 6:30 Uhr. Der Grünschnitt wurde soeben piepend verklappt – die Tonne darf nun neu befüllt werden. Mit dem Rad gehts auf den Hügel – Stielkotelett oder Putenschnitzel, das ist hier die Frage. Im Vorbeifahren gehe ich mal das lokale Bevölkerungsample durch: Gieriger Kleinunternehmer – check. Entspannter Villenbesitzer mit Unternehmen in Frankfurt – check. Frühere Bauern als Land- und Immobilienbesitzer – check. Haus- und Grundeigentümer mit Sportpferden – check. Facharbeiter in leitender Funktion – check. Facharbeiter mit eigener Autowerkstatt zum Nebenverdienst – check. Bundeswehr- und andere Staatsdiener – check. Rumäne mit Schrott- und Lumpenhandel – check. Dorfprolls mit kleiner Mopedwerkstatt – check. Die scheinheiligen Moralapostel im Dienste der Kirche – check. Eine multiproblematische und sozial komplett desintegrierte Alkoholikerfamilie, wo die Kinder nicht mehr in die Schule gebracht werden – check. Türkische Kleinunternehmer – check. Ein kurdisch-türkischer Geldwäscher – check. Russische Autodealer – check. Der fahrende Händler Hassan mit Wohnmobil und Hühnerwiese – check. Zwei Asylantenheime – check. Integrierte Sri-Lanker – check. Nicht-integrierte, oft kriegstraumatisierte Syrer, Sudanesen, Afghanen – check. Gibt es größere Konflikte? Eigentlich nicht. Achtzig Prozent der Genannten bewegen sich morgens hurtig an ihre Wirkungsstätten im Umland der A3. Deutsches Hinterland.
Im Hintergrund gestalten größere Kräfte das Land. Es wird schriller, seitdem die chinesische und us-amerikanische Nachfrage nach deutschen Waren gekippt ist. Unser Wohlstand stammt aus den Exporten, nicht aus der Binnennachfrage. Alles verschärft sich, wird teurer und unsicherer, weil Billigenergielieferant Russland wegfiel. In der gesamten Mobilitätsbranche (inklusive Autoindustrie) gibt es nun zu große Produktionskapazitäten, also mehr Fabriken, Maschinen und Arbeiter, als benötigt werden. Die USA hatten diese Krise 1973 – in den zentralen Autostädten Detroit und Flint wurden massenhaft Mitarbeiter entlassen, die Werke geschlossen und Fertigungsstätten verlegt. Von diesem brutalen Niedergang haben sich die Regionen bis heute nicht erholt, sind Umwelt- und Sozialwüsten geblieben. Was Leute wie Poschardt oft übersehen: Schwere Armut führt häufig eben nicht zu mehr Eigeninitiative oder Mobilität, wirkt im Gegenteil lähmend und immobilisierend. Menschen in prekären Verhältnissen konzentrieren sich auf das unmittelbare Überleben, das Dach überm Kopf, die Handvoll Kartoffeln. Armut schränkt Handlungsspielräume massiv ein … Das alles kann man hierzulande in Ansätzen bereits in Orten wie Wolfsburg oder den großen Chemiedreiecken beobachten.
Die Hitzeglocke führte zu einem Schub warmer, angenehmer Luft. Die ersten Staubwolken steigen von den Kornfeldern auf – nun gehts mit der Ernte los. Unsere Eberesche steht kurz vor der Vollreife – die Amseln sind so wild nach den Beeren, dass sie fast zahm werden.
Silke Galla, Prenzlauer Berg
Ich sitze im uckermärkischen Garten unter einem Apfelbaum. Vier Schafe leisten mir Gesellschaft oder ich ihnen. Gundermann wächst um mich herum. Ein Holunderbaum. Hinten auf der Weide stehen Rinder.
Schätze, ich passe hier gut ins Bild. Warum wieder rauskommen aus einem Schafgarten?
Die Gastgeber schenken mir Mirabellen. Im Gemüsegarten wachsen so viele Ringelblumen, dass sie schon ausgedünnt wurden.
Hier ist wenig Netz. So gerade reicht es zum Radiohören übers Handy. Top 100 Reggaesongs, was sonst im Garten hören?
Eigentlich könnte ich hier sitzen und liegen bleiben und in zehn Jahren erfahre ich, ob die Welt inzwischen untergegangen ist.
Einen Tag später: Ein Schaf hat mich in den Zeh gebissen. Jetzt chillen die in der Sonne.
Ich fahre ein paar Dörfer weiter Freunde besuchen. Einige sind ausgezogen, andere ein. Es wird weiter gebaut und an Autos geschraubt. Man wartet auf den Weltuntergang, der sicher kommt, es ist nur noch nicht klar, wann. Wir fahren ein Auto zur Probe Richtung Dorfladen, Blick über die Felder gen Polen, alles beim Alten und doch nicht. Der Kuchen, Käse-Mohn und Apfel, ist zuverlässig gut wie eh und je. Wir essen ihn an den Bierzelttischen auf dem Hof, die soliden Bänke und Tische wurden dieses Jahr nicht aufgebaut.
Später fahre ich wieder zurück zu den Schafen, Abstecher zum See, wo ich nochmal Leute treffe, die wir vorhin auf der Fahrt zum Dorfladen schon getroffen haben:
Ich: Ihr schon wieder! Sie: Du schon wieder!
Ich tauche im See ab. Für ein paar Minuten gehe ich selbst unter.
Nachdem ich mich wieder von den Schafen verabschiedet hatte, aß ich noch am Angermünder Marktplatz indisch zu Mittag und machte ein Foto von der Umgebung. Für Aufnahmen von uckermärkischen Weidetieren wären wohl deren Persönlichkeitsrechte zu wahren und das Einverständnis der Besitzer einzuholen – das scheint mir zu kompliziert.
Mein Osteopath meint, es wäre das Beste für mich, für immer im Bauwagen auf einer Schafswiese zu leben.
Christoph Sanders, Thalheim
Was am Dienstag wichtig ist: Swing Kitchen ist insolvent. Hertha hat ein gelbes Trikot. Atari spaltete in den 80ern die Computerwelt. KI soll keine Kriege führen. So die Zeitungsschau. Was wirklich wichtig ist: Es regnet, ist windstill und der Kindergarten hat wieder geöffnet. Mit dem Rad Besorgungen, wobei Tiefkühlschränke zu verweigern sind. Damit befinde ich mich zeitlebens in einer Minderheit. Die unverfälschte Realität des Kassenbandes: Nestlé-Dreck, Streichfett, Aufbackzeug. Überall blüht der blaue Hibiskus. Ich habe nun meine Traumbrombeerhecke gefunden. Nabokovs Einleitung zu Dickens ist genau mein Fall! Ulf Poschardt bei Hielscher gut, wenn er über den Urknall redet; der pseudo-objektive Habitus der DLF-Moderatoren perfekt getroffen. Bei der Ungleichheitserregung bin ich allerdings raus, auch ist er viel zu stark auf Klischees und Äußerlichkeiten fixiert. Er sollte sich mal morgens um 7 mit seinem Ferrari auf der A3 in den Stau einreihen … Gegen Abend kommt Wind auf – vermutlich der südliche Rand des atlantischen Sturmtiefs, das in Schottland für Stromausfälle gesorgt hat. Unsere Büsche sind jetzt alle beschnitten.
Am Mittwoch Arbeit am Wolfsburg-Text – entweder befindet sich dort das Auge im Zentrum des Hurrikans oder es ist der Ort, wo bereits jetzt die deutschen Gesellschaftsprobleme der nächsten zwanzig Jahre sichtbar sind. Wir träumen von der Altmark, müssen aber Wolfsburg verändern. Ein sommerlich angenehmer Augusttag: leicht bewölkt, Schräglicht, reifender Hafer. Ich komme mit dem Rennrad endlich wieder mühelos über die Hügel – da war zuletzt irgendetwas im System. Beim Trödler erkläre ich einer Kundin die Kaffeemühle mit Kegelmahlwerk. Sie kauft sie. Ich nehme das Feinstmechanik- und LP-Reinigungsmittel Isopropanol mit und ein Körperthermometer für die Grippesaison. Die Graffiti-Wagons aus Italien stehen weiterhin unter meiner persönlichen Beobachtung.
Helko Reschitzki, Moabit
Hirundo sub nubibus griseis
Kurz nach acht ist die Wassertemperatur bei 21 und die der Luft bei 13 Grad. Atemwölkchenmorgen im Schwalbensommer. Am Montag und Dienstag Schwimmen im Regen: einmal in ultrakurzen Schauern, das andere Mal im allerfeinsten Niesel. Meine Sitzunterlage für die Seebank trocknet gar nicht mehr richtig. Klamme Tage im August.
Pulli Fulicae atrae post imbrem
Eine Mitschwimmerin bestätigt meine Buchtbeobachtung der letzten Tage: Eines der beiden Blässhuhnküken aus der zweiten Brut hat nicht überlebt. Sie berichtet außerdem, dass alle acht Jungen der Mandarinente, die sich vor einer Weile an unserem Seefleckchen aufhielt, tot sind. Hauptursache des Frühtodes der Wasservögel am Schlachtensee sind Angriffe von nicht angeleinten Hunden. Zum Problem des Freiumherlaufens kommt hinzu, dass viele der Besitzer gar nicht mehr im Kontakt mit ihrem Tier und der Umgebung stehen, da sie die ganze Zeit auf ihr Phone starren. Wie andere Süchtige sind sie kaum noch empfänglich für Dinge, die nicht direkt mit der Droge zu tun haben. Dieses Phänomen zieht sich quer durch Dörfer und Städte, durch ziemlich alle Milieus und Altersstufen, und breitet sich wie ein Geschwür aus. Ich sehe Eltern, die ihr Kind wegen irgendwelcher Chats, TikToks, Pushs, Stories, Games oder Likes komplett ignorieren – das Dopamin-Level muss gehalten werden, Adrenalin und Endorphine den Körper fluten. Da setzen dann (wie bei anderen Abhängigen) uralte Instinkte aus. Einmal nahm mir eine Krankenschwester Blut ab und schrieb dabei Kurznachrichten …. Nachdem es zunehmend zu Unfällen kam, bei denen solcherart abgelenkte Fußgänger in den Fahrzeugverkehr liefen, hat man, um die Digital-Junkies besser zu schützen, in China bodennahe Ampeln mit zusätzlichen visuellen und akustischen Signalen eingeführt. Höchstwahrscheinlich werden es vermeintlich Rückständige wie die Amischen sein, die mal den Fortbestand der Menscheit sichern.
Anatina iuvenis se pennis exornans
Am Sonnabend trat bei unserem Hoffest ein Zauberer auf. Nachdem er die Vorstellung für die Kleinen beendet hatte, blieb er noch ein wenig bei uns Erwachsenen sitzen, zeigte weitere Tricks und sprach über seine Arbeit. Durch den Vortrag eines Kriminalbiologen hat er mitbekommen, dass manche Täter Zauberkunststücke nutzen, um Kinder in einen Hinterhalt zu locken – seitdem ist ihm die besondere Verantwortung seines Berufsstands bewusst, der schmale Grat zwischen der Herstellung einer Illusion und der Warnung vor der darin liegenden Gefahr. Auf einer Feier führte er einmal einen Trick vor, um den herum er die Geschichte erzählte, wie ein Finsterling alle Farben von der Erde verschwinden lässt. Als er mit seinem Auftritt fertig war, sagte ein Mädchen zu ihm, dass es gerade das erste Mal gewesen wäre, dass sie einen Zaubertrick gesehen hätte. Daraufhin er: Du warst noch nie vorher in einer Zaubervorstellung? Das Mädchen: Doch, ein paar mal schon, aber da habe ich den Trick nie gesehen – ich bin nämlich blind. Durch deine Geschichte mit den Farben konnte ich das aber vorhin alles ganz genau erkennen.
Susanne Kasperowski, Gadebusch
Außenkamera Garten, 03:39:02, 05-08-2025
Maria Leonhard, Spornitz
Ich hätte nicht gedacht, dass es mich so traurig macht. Seit Pico, ein Kleiner Münsterländer und angehender Jagdhund, zu uns gehört, ist hier nichts mehr sicher.
Und nun das!
Vor einigen Tagen habe ich in Brieselang die Buchlesung bei meiner Freundin Anne besucht. Es war ein schöner Abend. Am Ende haben wir alle zusammen getanzt. Beim gemeinsamen Frühstück sah ich auf ihrem Balkon eine circa 1 Meter hohe Pflanze, die einen kleinen Stamm und zwei lange Zweige hatte. Hübsch! Wir wussten beide nicht genau, was das für ein Bäumchen ist. Meine Botanik-App verriet uns, dass es sich um eine Ulme handelt. Anne erzählte, dass sie den Sprössling vor einem Jahr auf der Müllhalde gefunden hat. Naturverbunden, wie sie ist, war es für sie selbstverständlich, ihn zu retten und zu pflegen. Weil er aber in der Zwischenzeit so groß geworden war, hatte sie Bedenken, ihn ein zweites Mal vor dem Frost schützen zu können. Könntest Du ihn nicht irgendwo bei Euch verpflanzen, bat sie mich. Ich nahm den Baum mit.
Der Sprössling stand nun schon eine Weile bei uns – ich hatte es noch nicht geschafft, eine schöne Stelle für ihn zu finden. Laut App braucht er einen sonnigen bis halbschattigen, trockenen bis feuchten Standort mit nährstoffreichem und kalkhaltigen Boden. Wäre eigentlich nicht schwer zu finden gewesen, hätten nicht andere Aufgaben Priorität gehabt.
Und von einem Moment auf den anderen steht die Ulme mit abgeknickten Zweigen und angeknabberter Rinde da.
Pico!!!
Unser junger Jagdhund hat ihn zerstört! Mir traten die Tränen in die Augen. Auch mein Mann war sichtlich betroffen und hat deswegen seinen Nachmittagstermin abgesagt. Anne wird der Anblick ebenso schmerzen. Wir wollten den Baum gemeinsam im Wald besuchen.
In der Hoffnung auf den starken Überlebensdrang aller Lebewesen, haben wir die kleine Ulme jetzt an eine hoffentlich passende Stelle gepflanzt. In den nächsten Tagen versorge ich sie mit Wasser.
Möge das Bäumchen weiterleben und neu austreiben.
Christoph Sanders, Thalheim
Wochenstart mit dem Cellokonzert von Schostakowitsch an einem trüben, eingeregneten Morgen. Die frische Brise ist fort. Später passe ich meinen Radflüsterer ab – die Stadt, in der er lebt, ist sehr klein; ich kenne seine Wege. Er ist der Mensch im Landkreis, der die meisten Laufräder für Racer gebaut hat. Seit ungefähr drei Jahren bezieht er eine minimale Rente und bessert diese ab und an etwas auf. Er liest die Speichen meiner letzten Neuerwerbung, die einen merklichen Höhenschlag aufweist. Während das Laufrad auf dem Zentrierständer kreist und seine Schildkröte Freiübungen mit einem falschen Goldbarren macht bzw. vor einem Spiegel schattenboxt, übermittle ich ihm die neuesten Nachrichten aus seinem, sich rapide verändernden Gewerbe. Wir vergleichen die aktuellen technischen Entwicklungen mit der von ihm und mir bevorzugten Handarbeit. Nach zwanzig Minuten ist er fertig. So ein angenehmer Mensch.
Wieder zuhause. Das Bruchholz muss in ofengerechte Stücke geteilt werden. Meine Verbrennersäge erledigt in fünf Minuten, wofür ein geübter Holzarbeiter mit der Handsäge eine halbe Stunde benötigt. Nun können die Scheite lufttrocknen. Bei guter Witterung brauchen die Pflaumen bis zur Ernte noch mindestens eine Woche. Auf den unreifen Äpfeln tummeln sich bereits Wespenscharen – da darf man nicht mit der Wimper zucken. Bolognese mit Reis, roter Beete und Staudensellerie, und zum Nachtisch eine Nektarine – Halbzeitpause.
Am Nachmittag die Proberunde mit dem gerichteten Hinterrad – die Speichen müssen sich erst einmal setzen. Jetzt bleibt hoffentlich alles stabil. Hat man Fehler zu spät korrigiert, gibt es in der Felge einen Memory-Effekt – sie „will“ zurück in die alte Position. Ist halt keine Neuware.
Den Filius zum Zug gebracht – die Freunde und die Freundin warten.
Frank Schott, Leipzig
Der Morgen ist kalt und grau. Aus den Wolken fällt ein Landregen. Kein flüchtiger Schauer, ein echter Landregen. Gleichmäßig und stetig wie die Bewässerungsanlage in einem Gewächshaus. Sofort fühle ich mich klamm.
Noch im April hatten die Wetterhysteriker vor einem Dürresommer gewarnt. Und jetzt laufe ich bei 13 Grad meine Runde und werde nass. Mir geht ein Kommentar durch den Kopf, den ich kürzlich las: Wir hätten aktuell zwar eine Nettohitze von 22 Grad, die Bruttohitze läge jedoch bei 42. Die Differenz zwischen Brutto und Netto seien die Steuern, Entgelte und Abgaben, die man in Deutschland auch als Wetter bestreiten müsse. Da bliebe am Ende halt nicht viel übrig.
Ich überlege kurz, ob ich den Lauf abbreche – ein Knie bereitet Probleme. Ich versuche es gemäß dem dummen Spruch, Schmerz sei Schwäche, die den Körper verlasse, und laufe weiter. Und in der Tat: Nach wenigen hundert Metern sind die Beschwerden passé. Dennoch beschränke ich mich auf eine kleine Runde in moderatem Tempo.
Die Radwege sind fast leer, obwohl wir mitten im Berufsverkehr sind. Die Schönwetterfahrer, wie ich sie nenne, sind heute auf das Auto oder den ÖPNV umgestiegen. Nur die Allwetterradler ziehen, in wasserabweisende Ponchos gehüllt, eisern ihrer Wege.
Durch den Regendunst verströmt das Bankensemble am Inselteich eine Stimmung zwischen Herbst und Spätwinter. Das schlägt aufs Gemüt. Nur das Grün der Blätter passt nicht. Es ist üppig und satt – ohne irgendein Anzeichen von Hitze- oder Dürrestress. Wovon auch.
Heute Abend steht Fußballtraining auf dem Programm. Ich habe mich entschieden, vorerst als Montagstrainer weiterzumachen. Ich werde aber keine eigene Mannschaft übernehmen, da ich diese am Wochenende zu Spielen oder Turnieren begleiten müsste. So eine Verantwortung will ich momentan nicht auf mich nehmen. Aber auf das Training freu ich mich schon sehr – jetzt, wo die Ferien zuende gehen, kommen wieder viele Jungs. Und bei einer Altersgruppe von fünf bis neun Jahren, mit ganz unterschiedlichen konditionellen und technischen Voraussetzungen, ist jede helfende Hand willkommen.
Christoph Sanders, Thalheim
Am Samstag auf der Lahn-Koblenz-Runde ins Industriegebiet und dann zurück über den Rhein in die Wälder. Unterwegs eine vom Buschwerk befreite Heiligenfigur – St. Lubentius, der Schutzpatron der Lahnfischer. Seine Kirche ist älter als der Limburger Dom. Kurzer Halt in Bad Ems – beim Spezialisten für Kunsthandwerk und Design entdecke ich eine sehr schöne Teekiste; Fang beim Außentrödler: „Der Feuervogel“ mit Ernest Ansermet und dem New Philharmonia Orchestra. Das Ganze ist grandios aufgenommen: ich sitze im Saal.
Seitdem Koblenz Hauptstadt der preußischen Rheinprovinz wurde, entwickelte es sich zu einem Zentrum für das Eisenbahnwesen und die Armee. Bis heute ist Stadt ein bedeutender militärische Standort. Hinter den endlosen Kasernenkomplexen erwischt mich ein starker Schauer. Ausgerechnet unter dem Vordach eines Radladens (der längst auf E-Bikes umgestellt hat) verbringe ich die nächste halbe Stunde. Der Inhaber erzählt, dass die Kunden seit Corona anders seien – anspruchsvoller, aggressiver. Bei bestimmten Modellen wurde die Produktion eingestellt, so dass einige Ersatzteile einfach nicht mehr lieferbar sind – worauf dann mit Wut und Drohungen reagiert wird. Seit der 2008er Krise und dem Siegeszug des Smartphones haben wir uns offenbar an einen Lebensmodus der ständigen Verfügbarkeit gewöhnt. Eine Internet-Plattform kann man nicht anschreien – den Radhändler und dessen Mitarbeiter schon …
Am Sonntag berichtet mein Sohn von einem Kumpel, der Celebrities folgt und dann online über deren aktuell getragene Kleidungsstücke referiert. Der hat tausende Follower und bekommt Geld von anderen, kleineren Promis, wenn er sie und ihre Klamotten erwähnt. Fand ich erst schwierig nachzuvollziehen, aber das könnten die neuen Broker und Agenten sein, was auch für den Bereich der Polit-News gilt. Wir sehen da gerade die totale Neugestaltung des „öffentlichen“ Raums, der Meinungsbildung, des Diskurses. Eine Verschiebung der realen Welt ins Internet. Die Grundlage des Politischen bilden dabei aber nach wie vor absolut materielle, irreversible Tatbestände wie Geburt und Tod, Altern, Krankheit, Bildung, sozialer Friede, Krieg …
Erholung beim klarsichtigen Nabokov.
Maria Leonhard, Spornitz
Meine total zugestellte Fensterbank ist Sammelpunkt für Pflanzen, die zum jeweiligen Zeitpunkt nicht soviel Pflege brauchen, weil sie in der Ruhephase sind, wie zum Beispiel Orchideen oder Ableger von Teepflanzen, die ich später eventuell weitergeben möchte, oder abgebrochene Zweiglein oder Stengel, die vielleicht Wurzeln treiben und wieder in die Erde gesetzt werden können.
Heute habe ich alle Töpfchen und Vasen durchgesehen. Eine Schmetterlingsorchidee, deren Blüten an tropische Nachtfalter erinnern, hat es geschafft, von mir völlig unbemerkt einen Trieb auszubilden. Wie lange hatte ich keine Zeit mehr für diese Pflanze, denke ich. Und wofür verwende ich eigentlich meine täglichen 24 Stunden Lebenszeit? (Krass, diese Frage mal zu stellen.)
Ich stelle das Pflänzchen in eine Nährlösung. Später wird es einen Platz auf der Fensterbank bekommen. Dort kann ich in den nächsten vier Wochen das Aufblühen beobachten und mich täglich an seiner Pracht erfreuen. Ein Blütentrieb lässt mich innehalten und intensiv Freude verspüren – wie schön!
Beim Weiterdurchsehen entdecke ich noch etwas Kleines, Grünes, das die Freude auf ein Weiterleben der Yucca in mir weckt. Vor circa fünfzehn Jahren sollte sie, viel zu groß geworden, nicht in das neue Hortgebäude mitgenommen werden. Mir tat das leid! Wenigstens einen Teil wollte ich retten. Kurzerhand schnitt ich einen Trieb ab. Zu Hause teilte ich ihn in mehrere Stücke und stellte diese dann in eine dunkle Vase. Tatsächlich bildeten die Abschnitte Wurzeln, und die Yucca wuchs erneut in die Höhe. Aus dem längsten Trieb wollte ich neues Leben erwecken. Auch das hat funktioniert.
Dieses „Erwecken“ und die Freude daran sind mir einen Teil meiner Lebenszeit wert! Und ich kann diese Freude weitergeben, indem ich ab und an ein Töpfchen oder einen Blumenstrauß verschenke.
Bernd Wagner, Kreuzberg
Christoph Sanders, Thalheim
Am Donnerstag Chauffeursdienste vor 6 Uhr. Die A3 war bereits gut mit Urlaubsverkehr ausgelastet – es wird keine Sekunde verschenkt. 12 Grad und grau, ein ausgesprochen kühler Morgen für die Ende Juli. Selbst die Kaninchen bleiben lieber im Stall. Nun Bartpflege als Präludium für den Friseur. Ich gehe seit Jahren zu „C/B Frisuren“ in D., wo sich zwei vollausgebildete Damen liebevoll um die Kundschaft kümmern. Man kennt dort meinen Kopf. Ich bin immer zufrieden – meine Nachkommen nur zum Teil: Als mein Teenie noch auf allen Vieren ging, löste mein frisch frisierter Anblick ein großes Drama aus. Anfangs bezahlte ich für den Schnitt 20 Euro, jetzt sind wir bei 23,50 Euro – was ich für eine moderate Preispolitik halte.
Durchwachsener Tag mit Regengüssen und warmen Luftschüben. Weil ich so müde war, habe ich am Rad lediglich die Kette getauscht und die Probefahrt verschoben. Stifters Naturbeschreibungen zwischen Kutsche und Wanderung genau im Rhythmus seiner Zeit. Man muss nur in ein paar Seiten eintauchen und sieht das eigene Leben mit anderen Augen. Die Härte des Daseins der Bergbauern – eine Welt, in der nicht am Monatsletzten die Regale gefüllt werden, damit das frisch überwiesene Geld einen Gegenwert findet.
Der Freitag mit Sonne und Wolken, dazu leichter Atlantikwind. Nach Durchzug von Schauern etwas milder, was ich sehr angenehm finde. Bei meiner Gartenrunde habe ich neben dem Apfelbaum ein Loch voller Erdwespen entdeckt. Die buddeln da ganze Schächte – ich würde gern wissen, ob sie dabei die vorhandenen Mäuselöcher nutzen. Der Salbei unter den Rosen hat den Sommer nicht überlebt – so wie auch die Mikrowelle, die stinkend ihren Betrieb aufgab und leider nicht zu reparieren ist. Dafür hat der Bohnenkaffee durch die Melitta-Dreizonenfilterung doch tatsächlich an Qualität gewonnen!
Nachdem ich ein paar Tage ausgelaugt war, gings heute wieder aufs Rad – die übliche Besorgungsfahrt. Ein sehr informatives Gespräch mit dem Trödler über den Preisverfall in seiner Branche. Die neue Erbengeneration will weder bewahren noch anschaffen, sondern alles sofort zu Geld machen – da gehts nur um den nächten Urlaub, das schnellere Auto, den flotten Statuskonsum. Die Fernsehsendung „Bares für Rares“ nährt Illusionen beim Handeln. Ich kaufte etwas Hausrat und Werkzeug sowie spezielle Nägel, mit denen ich eine Sitzplatte am Stuhl fixieren will. Im Supermarkt sind nach ruhigen Tagen wieder Stimmen am Kassenband zu hören: Monatserster! Austausch der Kette von gestern, da diese ständig ruckelte.