Christoph Sanders, Thalheim

Am Dienstag kurz vor sechs erwacht, zwei kleine Krähen begrüßen sich am Kirchturm. Der Hahn schimmert mattgold im ersten Licht, dahinter die weiße Rune eines Airliners auf 4000 Metern. 18 Grad, leichter Wind, in loser Folge ziehen Wolken vorbei. Ein Tag ohne Schweißausbruch. Der Trompetenblumenbaum in voller Pracht – in zwei Wochen ist er fünfzig Zentimeter gewachsen. Die Fütterung blieb heute an mir hängen: Kaum haben die Kopfsalatblätter den Boden berührt, trotten auch schon die Kaninchen herbei. Geträumt, le Carré hätte einen neuen Roman veröffentlicht – keine Spionage.

Flashbacks von der Radreise durch die Mitte Deutschlands: Zwei Tage begleitete mich der intensive, angenehme Duft von reifem Korn – fein unterscheidbar von Luzerne, Mais und anderen Feldfpflanzen. Wo die Straße uneben ist, rieselt immer etwas von den Anhängern der gewaltigen Traktoren. Daneben die erdrückende Heimatschutz-Architektur Wolfsburgs, die endlosen Fluchten der niedrigstöckigen Zweckbauten mit ihren pseudotraditionellen Giebelvorsprüngen, die ein Gefühl von Geborgenheit suggerieren sollten … Grauenvoll.

Der Mittwochmorgen ruhig und frisch, Wolkenkulissse mit sonnigem Streiflicht. Die Zeit der Stachelbeeren ist nun langsam vorbei – die überreifen fallen Gras, die anderen kommen direkt vom Strauch ins Müsli. Das Piepen des Müllfahrzeugs meldet den Abtransport der Gelben Säcke. Zuhause knautscht und knautscht man – und die Verpackungen sind immer noch riesig. Glas ist wiederverwertbar, aber schwer, fragil und nimmt viel Platz weg. Verbundverpackungen sind besser. Eine wirkliche Lösung wäre allerdings nur die Reduktion des Pro-Kopf-Abfalls. In einem Europa der Single-Haushalte ist so etwas jedoch ambitioniert, wenn nicht sogar vollkommen illusorisch.

Ich stoße auf ein hervorragendes, etwas älteres Interview mit Hans-Eckardt Wenzel. Klare Ansichten eines Mannes, der analytische Schärfe als Handwerk bezeichnet. Die unterschiedliche Motivation eines DDR- und BRD-Germanisten. Das Verhältnis vom Lernen zum Leben; der Wissenshunger im Osten, und was zu jeder Zeit alles auf dem Spiel stand; die Allgegenwärtigkeit der Stasi, wie wichtig es ist, richtige Freunde zu haben. Im Westen hingegen: Man macht halt irgendwas mit Literatur, gründet schöngeistige Zirkel, vernetzt sich, kümmert sich um das eigene Fortkommen. Im Grunde gehts darum, den elegant unkörperlichen, materiell sorgenfreien Lebensstil einer imaginierten Geisteselite zu erreichen, z.B. durch Professuren. Man achtet darauf, nicht anzuecken, ist politisch korrekt. Die schmutzige Arbeit, den bösen Kapitalismus, machen dann andere. Darum diese, auch sprachliche, Überbeflissenheit. Die Studentinnen-WG meiner Ältesten ist voller aktivistischer Sprüche und Polit-Appelle. An der Küchenwand hängt der „feministische Kalender“ „365 vorbildliche Frauen“ – komischerweise ist keine von denen als Mutter definiert …

Unsere Älteste teilte uns mit, dass sie ihren Master nicht in Marburg machen will, weil die Stadt voller hessischer Studenten sei, „mit denen sie dann immer nach Hause fahren müsste“. Der Jüngsten „Die Meuterei auf der Bounty“ auf LP aufgelegt – sei rief mich, damit ich ihr die Platte umdrehe. Alte, analoge Welt. Sie war völlig gebannt und gleichzeitig amüsiert, weil sie die Sprecher bereits aus anderen Hörspielen kannte. Das gab der Geschichte eine weitere Dimension.
Nun zur Ruhe. Ferienmodus. Sommer.
