Helko Reschitzki, Moabit
Waral Prakalp

Eine Dorfhütte im Westen Indiens. Drei Frauen singen. Sie singen ein Lied, das sie als Kinder ihren Müttern abgelauscht haben und diese wiederum ihren Müttern. Sie singen vom Regen und Reis und dem Streit zwischen Schwester und Bruder. Sie singen bei der Arbeit, es ist dieselbe, bei der schon ihre Vorfahrinnen sangen. Sie singen und mahlen dabei Getreide. Dann zeigen sie uns, wie sie ihre Sämereien vor Ungeziefer und Verschimmelung schützen und schildern, wie sich das Leben ihrer Gemeinschaft am Monsunregen ausrichtet.
Zu sehen ist all das in einem Film des Projekts „The Grindmill Songs – Peoples Archive of Rural India“, das seit über zwanzig Jahren in den Dörfern der Region Maharashtra solche Mahllieder aufnimmt. Bislang konnten 100.000 Aufnahmen von 3300 Menschen archiviert werden – was für ein Schatz.
Diese Filmdokumentation ist Teil der Ausstellung „Waral Prakalp – Schützerinnen und Schützer der Wälder“ im neuköllner Spore-Haus. Waral Prakalp ist der Name einer Initiative, die von den indigenen Bewohnern des Dorfes Ganjad gegründet wurde: Bäuerinnen und Warli-Künstlern, Schamaninnen, Imkerinnen und Imkern. Irgendwann haben diese Frauen und Männer feststellen müssen, dass die innige Beziehung, die ihr Dorf einst zu den Wäldern, Pflanzen und Tieren der Umgebung hatte, gestört ist. Beunruhigt, begannen sie, sich verstärkt mit der eigenen Historie zu befassen, um vom Wissen der Ahnen zu lernen und die über Jahrhunderte gewachsene Symbiose mit ihren Gehölzen, Böden und dem Getreide wiederzubeleben.

Dabei entdeckten sie fast vergessene Techniken des Waldschutzes und der Wiederaufforstung sowie altbewährte Anbaumethoden, die sie mit heutigen Produktionssystemen wie der Agroforstwirtschaft verbinden. Es wurden nachhaltige (und kostengünstige) Lösungen gefunden, um Waldökotope klimatischen und biotischen Änderungen anzupassen und ins dörfliche Leben zu integrieren. So entstanden Wasseraufbereitungsanlagen, eine gut genutzte Saatgutbibliothek und eine Baumschule.
Momentan wird an einem Gemeinschaftsraum gearbeitet, in dem in Zukunft landwirtschaftliche Schulungen stattfinden sollen, man Werkzeuge, Setzlinge und Erfahrungen tauscht, miteinander singt, lacht, tanzt, spielt – und malt! Denn das Erschaffen von Bildern war seit jeher ein elementarer Teil der Gemeinde. Die Ursprünge der Warli-Kunst (von „Warla“ = „bebautes Land“) reichen bis ins 10. Jahrhundert zurück, in eine Zeit, in der die Bilder die einheimischen Sagen und Märchen erzählten. Einige der Warli-Künstler können mittlerweile vom Verkauf ihrer Bilder leben, der Kunstmarkt ist ja ständig auf der Suche nach „neuen Trends“ – manchmal sind diese dann uralt.
Die in der Ausstellung gezeigten Malereien, Zeichnungen, Texte und Skulpturen beeindrucken durch ihre außergewöhnliche Bildsprache, die Farben und Formen. Man spürt, dass diese Werke in einer sehr langen Traditionslinie stehen – geerdet, heimatverwurzelt, all die Geister der Vorfahren anrufend. Das hat glücklicherweise überhaupt nichts mit Ethnokitsch zu tun und ist auch keine dieser momentan inflationär zu sehenden „Ökokunst“, der man leider meist anmerkt, dass sie nur geschaffen wurde, weil es dafür gerade einen Markt oder ein Feld im Fördergeldantragsformular gibt – das hier ist Kunst, die Bestand haben wird, weil sie sich mit den Jahrhunderten vor ihr verbindet und nicht mit dem Zeitgeist.
Die Gemeinschaftsschau ist noch bis zum 23. Februar (donnerstags bis sonntags) zu sehen. Ich war bereits zweimal dort – so wie man in den Boden gutes Saatgut gibt, muss man auch die Seele füllen.
„Waral Prakalp …“ Mit Werken von Krishna Bhusare, Mamta Bongya, Srushti Bongya, Ketan Patil, Vikas Bongya, Ganpat Pardhi, Mayuresh Patil, Soham Railkar, Krushna Thakre, Mayur Vayeda, Tushar Vayeda und Roshni Vyam.

In der Ausstellung liegen sehr viele Materialen aus, unter anderem ein sehr zu empfehlendes, auch haptisch tolles Begleitbüchlein; es gibt eine VR-Installation, bei der man durch eine Dorfhütte gehen kann, dazu Ergänzendes im Internet:
Öffnungszeiten und Informationen über die Spore-Initiative: https://spore-initiative.org/de/programm-in-berlin/besuchen-und-mitmachen/
The Grindmill Songs: https://ruralindiaonline.org/en/articles/the-grindmill-songs-recording-a-national-treasure/
Zur Warli-Kunst: https://en.gaonconnection.com/reportage/warli-on-the-wall-the-warli-tribe-in-maharashtras-ganjad-draws-from-life-to-create-unique-art/
