Frank Schott, Leipzig
Einerseits hatte ich nach den heißen Tagen einfach keine Kraft zum Laufen, andererseits war nach dem Temperaturrückgang Ende der Woche optimales Wetter zum Radfahren. Es wehte ein leichter Wind, die Sonne verschwand immer mal wieder hinter Wolken – perfekt. Mein Ziel war der Hainer See, ein gefluteter Tagebau südlich von Leipzig. Die Entfernung beträgt knapp 20 Kilometer. Auf geht’s.
Zunächst fahre ich die Pleiße entlang, die wegen des hohen Grases am Uferrand kaum zu sehen ist. Im Agra-Park, teils Messegelände der DDR-Landwirtschaftsausstellung „agra“, teils historischer Park, halte ich zum ersten Mal an. Das Weiße Haus mit seinem Teich ist zu jeder Jahreszeit ein Hingucker, und nicht nur das – hier befindet sich auch das Standesamt von Markkleeberg. Heute sehe ich dort aber keine Hochzeitsgesellschaft beim ansonsten üblichen Fotoshooting.

Auf dieser Tour haben es mir die kleinen Dorfkirchen besonders angetan. Als erstes stoppe ich für die Katharinenkirche Großdeuben. Vom Pleißedamm aus blickt man direkt über das Grün auf das 1716 gebaute Gotteshaus. Die Orgel stammt aus der Kirche zu Cröbern, die in den 1960er Jahren dem Tagebau Espenhain weichen musste.

Über die Großbaustelle der B2/A38/A72, die an dieser Stelle nur für Radfahrer zugänglich ist, geht es zunächst nach Böhlen. Ich erinnere mich an den Fußballverein Chemie Böhlen, der zu meiner Jugendzeit in der zweiten DDR-Liga spielte. Und ich muss daran denken, dass viele Mannschaften den Tätigkeitsbereich der Trägerbetriebe im Namen trugen (und manchmal heute noch tragen). Meist selbst erklärend wie Lok Leipzig, Turbine Potsdam, Wismut Aue, Traktor Schwerin, Stahl Riesa, Post Brandenburg oder Hydraulik Parchim.
In Böhlen reizt mich nichts, also fahre ich mit angenehmen 30 km/h bis nach Rötha. Ich kann nicht anders – der kleine Schlossteich am Stadtrand lockt und muss umrundet werden. Auffällig sind die alten Weiden. Mich erinnern sie an drei Mütterchen mit lange Haaren und vom Gram gebeugten Körpern. Oder an Wollhaarmammuts. Ich bin mir nicht sicher. Außer mir ist niemand in diesem kleinen Park.

Nächster Stopp in Rötha ist die Marienkirche, die als Wallfahrtsort errichtet und um 1518 fertiggestellt wurde. Sie hieß zunächst, was ich viel origineller finde, „Kirche zum heiligen Birnbaum“. Benannt nach dem Baum, unter welchem einem Schäfer die Mutter Gottes erschienen sein soll. In der Kirche befindet sich eine der Orgeln Gottfried Silbermanns, einem der bedeutendsten Orgelbauer des Barockzeitalters.

Von Rötha ist es nur noch ein Katzensprung bis zum Hainer See. Mit einer Fläche von 600 Hektar und dem 15 Kilometer langen Rundweg zählt er zu den größten Braunkohleseen im Leipziger Südraum. Das Nordufer ist so dicht mit Eigenheimen und Ferienhäusern bebaut, dass ich den Abzweig zum Strand übersehe, wo ich eigentlich etwas essen wollte. Da ich nicht den gleichen Weg zurück fahren möchte, suche ich online nach einer Imbiss-Alternative. Ich entscheide mich für das 20 Kilometer entfernte Naunho.
Über Espenhain geht es nun also Richtung Störmthaler See. Weil der Verkehr ziemlich heftig ist, nutze ich den Radweg, der einen kleinen Umweg darstellt. Laut Streckenplan würde ich nicht mehr 12:06 Uhr, sondern erst 12:15 Uhr in Naunhof eintreffen. Das hole ich auf, denke ich mir. Aber dann treffe ich eine verhängnisvolle Entscheidung – ich mache einen Abstecher zur 1741 fertiggestellten Kirche in Dreiskau-Muckern, was mich in immer unwegsameres Gelände führen wird.

Vermutlich dachte sich der Navigator, der Typ steht auf Natur und so, und jagte fortan mich über holprige und sandige Nebenstrecken. In Threna habe ich kurzzeitig wieder feste Wege unter den Rädern. Die dortige Kirche steht neben der Freiwilligen Feuerwehr. Teile des Baus sollen bereits im 13. Jahrhundert errichtet worden sein.

Danach wird es wieder ungemütlich. Google schickt mich auf einen steinigen Feldweg, der das gesamte Fahrrad vibrieren lässt. Nach wenigen Metern fegt es mein Handy aus der Halterung. Weil ich Angst habe, dass es mir im Sitzen den Sattel runterfetzt, fahr ich jetzt im Stehen weiter. Eine Mordsgaudi, wenn man wie ich mit einem Gravelbike unterwegs ist, auf normalen Straßenfahrrädern muss das die Hölle sein. Ich bekomme die volle Natur geboten: Pferdeäpfel am Boden, Kornäpfel auf den Bäumen am Wegesrand.

Weiter geht’s – hinein in den Sachsenforst. Hier kapituliert jetzt auch das Gravelbike – die Wege, die der Kartendienst vorschlägt, sind komplett zugewachsen. Keine Chance. Dass es hier aber auch menschliches Leben gibt, erkenne ich an einer Kindergartengruppe, die picknickt. Ich passiere ein Wasserwerk. Dann fahre ich noch über die Betonplatten eine Panzerstrecke, wie wir so etwas früher nannten, und bin am Ortseingang von Naunhof. Links neben dem Wohnhaus kauern drei Kühe und rechts balgen sich zwei Katzen.

Ziel ist der Naundorfer REWE, wo ich auf einen Imbisswagen hoffe. Irgendwo das Fahrrad anzuschließen, darauf habe ich keine Lust. Aber eines muss natürlich noch schnell sein: Der Halt an der Kirche. An der ist interessant, dass niemand genau weiß, von wann der Bau stammt. Es gibt wohl einen Stein, der ins späte Erste Jahrtausend datiert wird. Das Kirchenschiff – man beachte die vage Formulierung auf Wikipedia – soll um 1500 erbaut worden sein. Vermutlich hatten die Naunhofer damals andere Sorgen, als irgendwelche Unterlagen zu verfassen.

Ich bin am REWE. Alles da: Supermarkt, Pizzeria und dm – aber kein Imbiss. Die Suchmaschine rät zum Kaufland in Großpösna. Gut 30 Minuten Fahrzeit von hier. Was soll’s. Erneut werde ich über viele Nebenstraßen geführt. Kurzes Erschrecken: Nur noch 33 Prozent Akkuladung! Das kommt davon, wenn man Freund Google mit mobilen Daten und permanent aktiviertem Bildschirm einfach machen lässt. Also alles ausgeschaltet – GPS muss jetzt reichen.
Über schönste Radwege, die teilweise sogar asphaltiert sind, komme ich nach Fuchshain. Kurzer Blick auf die Kirche. Auch von der weiß man nicht alles: Unterlagen von 1521 verweisen auf Baumaßnahmen, doch Teile sind möglicherweise romanischen Ursprungs und bis zu 300 Jahre älter.

Da das Akku nun endgültig schlapp gemacht hat, verpasse ich in Großpösna den Kaufland und fahre stattdessen über die Ortsteile Liebertwolkwitz, Meusdorf und Probstheida auf dem kürzesten Weg nach hause zurück. Dort gibt’s nach knapp 70 Kilometern Fahrt ein belegtes Brötchen vom Bäcker. Abends belohne ich mich dann mit überbackenen Koteletts und Bandnudeln. Die habe ich mir verdient.
