Helko Reschitzki, Moabit
Im Nachwort des Hedwig-Koch-Memoirs Interessantes über das Glaubensvakuum um 1900: Viele Deutsche waren von der „Neuen Religion Wissenschaft“ regelrecht verzückt (etwas, das wir übrigens 2020 bis 2022 mit „Team Wissenschaft“ und „Follow the Science“ ziemlich ähnlich noch einmal erlebten), andere vom technisch-medizinischen Fortschritt und dem Tempo, indem dieser ablief, gnadenlos überfordert. Da die alten westlichen Religionen auf viele drängende Fragen der Zeit keine Antworten mehr gaben, wandte sich mancher (z.B. Hedwig Koch) den östlichen Weisheitslehren zu – oder suchte Halt (und Leitfiguren) in den hierzulande vielerorts entstehenden spirituellen Bewegungen. Ein spannendes Thema – ich nehme im eigenen Umfeld zunehmend ähnliche Sehnsüchte wahr.

Passend dazu traf ich vor anderthalb Wochen überraschend einen alten Freund wieder, den ich bestimmt zwanzig Jahre nicht mehr gesehen hatte. Ein Molekularbiologe, der über ein paar Stationen in Frankreich gelandet ist, wo er in einem bekannten Institut forscht – Schwerpunkt: Tuberkulose. Er erzählte, dass er und seine Kollegen und Kolleginnen zunehmend verzweifelt versuchen, neue Antibiotika zu entwickeln, da die gängigen Medikamente kaum noch gegen multiresistente Erreger wirken. Die COVID-19-Pandemie hat die TBC-Krise global in vielerlei Hinsicht verschärft – Laborkapazitäten, Personal und Fördermittel wurden weitesgehend in die SARS-CoV-2-Bekämpfung umgeleitet und die eigentliche Arbeit, TBC-Diagnostik und -forschung, musste liegenbleiben. Durch Shut- und Lockdowns sowie Reisebeschränkungen brachen weltweit Impfkampagnen weg, viele Infizierte mussten ihre Therapien abbrechen oder erhielten gar nicht erst eine Behandlung. All das befeuerte die Ausbreitung der Resistenzen weiter. Im Militär würde man dazu Kollateralschäden sagen. (Was ebenso für Malaria, Masern, Keuchhusten, AIDS, Polio, Röteln, Mumps oder Hepatitis B und C gilt, von den den vielfältigen Störungen bei Kindern und Jugendlichen mal ganz zu schweigen.)

Wir striffen ebenso das Thema Bakteriophagen (die große Hoffnung; verdient aber keiner dran; Lizenzprobleme, da aus dem Ostblock) – und sprachen kurz über den berüchtigten Tuberkulinrausch, der 1890/91 Deutschland erfasste. Die Parallelen zu 2021/22 mit der Covid-19-Vakzineuphorie, dem Jahrmarktcharakter der Impfungen, einem nahezu kritiklosen Journalismus, Selbstbeweihräucherung mit schnellen Ordensverleihungen, der dann einsetzenden Ernüchterung und anschließenden kollektiven Verdrängung sind schon augenfällig … Der Freund, wie alle seiner Zunft, die ich persönlich kenne, ruhig und angenehm fatalistisch – Rückschläge gehören auf dem Weg der Erkenntnis dazu, sind Hinweisschilder, markieren Sackgassen. Die eitlen, aufgeregten Selbstdarsteller findet man eher im Fernsehen.

