Frank Schott, Leipzig

Seit ein paar Tagen gehen mir bei Fahren alte Volkslieder durch den Kopf. Wir mussten sie noch lernen, die heutigen Kinder und jungen Erwachsenen nicht mehr. Dichter Nebel hängt in der Elbniederung, als ich um 6:45 Uhr aus dem Fenster sehe:
Und aus den Wiesen steiget / der weiße Nebel wunderbar.
Eine halbe Stunde später ist das Schauspiel bereits vorbei. Dass es überhaupt neblig wurde, liegt daran, dass heute nahezu kein Wind weht. Nicht von vorn, nicht von hinten, nicht von Seite. Ideal für alle, die Richtung Norden fahren – aber mich zieht es ja in den Süden.

Ich habe mir eine lange Etappe vorgenommen: 130 Kilometer, von Dömitz bis nach Tangermünde. Dieses Mal fahre ich zunächst am Ostufer entlang – die Strecke ist einfach reizvoller. Weil ich das nie in Betrieb gegangene Kernkraftwerk Stendal sehen möchte, wechsel ich dann ab Sandau auf die andere Seite. Stendal gehörte zu den wenigen Städten der DDR, die westlich des Grenzflusses Elbe lagen.

Ein ruhiger Tag. Kein Hauch kräuselt das Wasser der Nebenarme und Teiche. Alte Menschen sitzen auf Bänken und lassen sich die Morgensonne ins Gesicht scheinen. Bauern ziehen Zäune, um neue Weideflächen abzugrenzen. Die Deichschafe wissen was kommt – sie dösen im Schatten und warten geduldig, bis ihr Umzug ansteht.

Ich mache einen Schlenker nach Lenzen. Hier steht jedes dritte Haus leer und ist somit wohl dem endgültigen Verfall preisgegeben. Es gibt ein Schlosshotel – wer mag dort außerhalb der Urlaubssaison wohnen? Weiter geht es durch Wittenberge und das Storchendorf Rühstädt, dann auf meine kleine Insel zwischen Elbe und Havel.

Auf Räbeler Fähre treffe ich einen jungen Aschaffenburger, der von Hamburg nach Dresden radelt. Da er auf seinem Bike keine Taschen befestigen kann, schleppt er alles im Rucksack mit sich. Wieder an Land, überholen wir einander mehrfach, weil der jeweils andere gerade ein Foto- oder Trinkpause macht, bei Arneburg verlieren wir uns dann aus den Augen. Noch 15 Kilometer bis zum Tagesziel.

Tangermünde ist eine wunderschöne mittelalterliche Stadt mit gut erhaltener historischer Architektur: Stadttore und Stadtmauern, eine Festung, liebevoll restaurierte Fachwerkhäuser, Kopfsteinpflaster, Kirchen. Ich checke ein, springe samt der verstaubten Klamotten unter die Dusche und gönne mir danach ein Bier in der hotelnahen Bauerei. Für einen längeren Stadtrundgang bin ich zu erschöpft – für eine Pizza und eine Kugel Eis reicht es noch. Ich habe jetzt über 900 Kilometer in den Knochen – morgen ist in Magdeburg Endstation.

