Frank Schott, Leipzig

Geesthacht hat, als Folge der Bombardierungen gegen Ende des Zweiten Weltkriegs, eine dieser genormten Innenstädte mit wenig Charme. Es gibt drei Döner-Läden, die den Bedarf an Drehspieß, Pizza und Burger abdecken, einen Eisladen und einen Italiener. Die Stadt im Landkreis Herzogtum Lauenburg ist der nördlichste Punkt meiner Reise. Hier werde ich auf das andere Ufer wechseln, um Richtung Südosten zurück zu fahren. Es ist kein Regen angesagt – aber Rückenwind! Bevor es richtig losgeht, sehe eines dieser großen Elbeschiffe, die ich bislang so vermisst habe. Ein gutes Zeichen.

Am Anfang stehen ein paar Tierbegegnungen. Die unbestrittenen Herrscherinnen der Elbebrücke sind die Möwen. Alle Augen und Schnäbel sind auf den Fluss gerichtet – Vögel, die aufs Frühstück starren. Danach belauert mich, aus der sicheren Höhe ihres Baums, eine Katze. Gefolgt von Staren, die auf Schafen reiten. Faszinierend.

In Neu Darchau stoße ich auf ein Schild, das auf eine Wassermühle verweist. Ich stoppe, kehre um und biege in den Nebenweg ein. Links und rechts stehen große alte Gebäude aus roten Ziegelsteinen. Vor dem Laden im rechten Bau stapeln sich 50-Liter-Säcke voller Erde, Mulch und Dünger. Dahinter ist ein großer Teich. An diesem sitzt eine alte Frau. Ihr rechter Arm ist großflächig aufgeschürft, mit einem Handtuch tupft sie Blut ab. Ich frage, ob sie Hilfe braucht: „Ich habe eine Reiseapotheke mit Pflaster dabei.“ Die Frau möchte keine Hilfe. „Es ist schön hier“, sage ich. „Hier leben zwei Schwäne“, sagt sie. „Die haben fünf Kinder, die sind schon ausgewachsen. Heute sind die beiden nicht da, vielleicht sind sie runtergeschwommen.“ Es sieht so aus, als ob es aufgehört hat zu bluten. Aber am Arm ist ein sehr langer Striemen zu sehen, den auch mein Großpflaster nicht abdecken würde. „Brauchen Sie wirklich keine Hilfe?“, frage ich nach. „Ich wohne hier“, sie zeigt auf die offene Tür des linken Gebäudes. „Ich habe gestrichen. Es ist so viel Arbeit. Ich bin über die Kette gestürzt.“ „Sie sollten die Wunde reinigen.“ Die Frau wirkt unschlüssig: „Meine Tochter wird mir schimpfen, sie ist da drin.“ Deswegen sitzt sie also hier und grübelt. Ja, das kenne ich. Meine Schwiegermutter ist ihrer 95-jährigen Mutter gegenüber genauso eingestellt. Die Alten haben mehr Angst vor ihren Kindern als vor physischen Verletzungen. Ich wünsche der Frau alles Gute. Sie denkt noch einen Moment nach und geht dann Richtung Tür.

Auf der westdeutschen Seite der Elbe gibt es viel mehr Dörfer und Städte als auf der ostdeutschen, auf der ich zuletzt unterwegs war. Im Zuge der Grenzschließung wurden ab Mai 1961 Sperrgebiet-Bewohner, die als „politisch unzuverlässigen“ galten, in andere Teile der DDR zwangsausgesiedelt. Die Betroffenen wurden rechtswidrig und ohne jegliche Vorwarnung aus ihren Häusern geholt und durften lediglich das Nötigste mitnehmen. Nach 1990 kehrten nur wenige zurück – viele der Gebäude waren verfallen oder verschwunden, die Rückübertragungen oft schwierig, die alten Wunden nie verheilt.

In vielen der Dörfer und Städte, die ich passiere, hängen Plakate und Banner. Für Frieden. Gegen mehr Vorschriften in der Schweinezucht. Für eine Umleitung. Gegen Windräder. Für mehr Toleranz. Gegen die AfD. In Neu Darchau wird gerade gestritten, ob die Fähre durch eine Brücke ersetzt werden soll. An Tagen wie heute scheint die Antwort ziemlich eindeutig: Es ist Niedrigwasser; die Fähre verkehrt nicht; die nächsten Brücken sind weit weg. Nur bedeutet eine Brücke eben auch deutlich mehr Verkehr und somit Lärm. Egal, wie am Ende die Entscheidung ausfällt – einige Einwohner werden unzufrieden sein.

Nach einer Berg- und Talfahrt mit abwechselnd 7 oder 13 Prozent Steigung oder Gefälle führt der Radweg vor Hitzacker wieder in den Wald. Dort steht ein Rennradfahrer neben seiner Maschine. Ich frage ihn, ob alles okay ist oder ich ihm irgendwie helfen kann. „Hast du zufällig eine Pumpe dabei, die auf 5 bar kommt? Wenn ich meine nehme, geht mehr Luft raus als rein.“ Meine Teleskopluftpumpe hilft ihm leider auch nicht weiter. Aber Hitzacker ist maximal 15 Minuten zu Fuß entfernt, also laufen wir, quatschen und schieben unsere Räder. Er ist mit einer Gruppe unterwegs, aktuell vier Mann, das scheint Tag zu Tag zu wechseln. „Derjenige, der die heutige Etappe geplant hat, meinte, die Strecke sei für Rennräder geeignet. Aber das stimmt offenbar nicht“, berichtet er. Ich erkundige mich, wo die anderen sind. „Ich habe gesagt, sie sollen weiterfahren, ich hole sie sowieso wieder ein.“ Wir schwatzen noch bisschen über die Vor- und Nachteile der verschiedenen Fahrradtypen, über den Wind und übers Laufen. Er überlegt, am Frankfurt-Marathon teilzunehmen, ich liebäugele mit einem Halbmarathon in Leipzig. Am Ortseingang trennen sich unsere Wege. Er wird nach einer Werkstatt suchen, ich will kurz durch das Städtchen schlendern und dann weiterradeln.

In der Spitze erreiche ich 30 km/h – es fährt sich fast wie von allein. Gegen Mittag kommt dann sogar die Sonne raus. Ich bummle durch Bleckede, Hitzacker und Dannenberg, kehre immer wieder zur Elbe zurück. Unterwegs geht mir ein Gedanke durch den Kopf: Solange es in einer Stadt einen Buchladen gibt, ist sie noch am leben.

Gegen 15 Uhr bin ich zurück in Dömitz. Heute würde es von der Zeit her passen, dass ich noch die Festung besichtige. Doch die ist leider montags geschlossen. Und am Dienstag auch.

