Helko Reschitzki, Moabit

Nachdem ich am Dienstag von Sturmtief Ziros (bis zu 108 km/h) live so gar nichts mitbekam, sehe ich am Donnerstagabend, welche Kraft solche Böen entwickeln können: Von einer Sekunde auf die andere fliegt alles, was irgendwie lose ist, durch die Gegend, kippt um, knickt ab, wird weggerissen. Zum Glück bin ich nicht direkt im Zentrum des Geschehens und bekomme dadurch nur eine Ladung Sand, Dreck und Steinchen ab. Vor dem einsetzenden Starkregen finde ich in der nahen U-Bahnstation Berliner Straße Unterschlupf.

Am Freitagmorgen noch einige Störungen im S-Bahnverkehr – ab Westkreuz geht ne Weile nüscht mehr – Richtung Spandau Sperre, meine Strecke nach Potsdam wird irgendwann freigegeben. Ich habe zufälligerweise das perfekte Buch für die Situation dabei: Wolfgang Schivelbuschs „Geschichte der Eisenbahnreise“. Während des Halts lese ich das Kapitel 11: „Psychologische und soziale Auswirkungen von Eisenbahnunglücken“ und fühle mich vollauf bestätigt, dass Vorsicht allemal besser als ein Unfall ist – von mir also kein Murren.

Auf dem Bahnsteig in Nikolassee hats eine vormals zwei Meter hohe Reklametafel sauber aus dem Fundament gerissen, am Nordufer des Schlachtensees liegt ein weiterer auseinandergebrochener Baum, dazu überall Äste und Zweige. Es ist immer noch ziemlich windig – für mich heißt das Wellengang – klasse! Nach der Schwimmrunde entdecke ich zwei Mandarinentenjungen, die ebenso zerzaust wie entspannt in Mutternähe am Wasser auf einem Stück Totholz liegen.

Im Schivelbusch-Buch stoße ich auf eine Passage, die die perfekte Verbindung schafft zwischen meinem dienstäglichen Gespräch mit einer Bundeswehrkrankenschwester über Kriegstraumata und der alten Dame, die mich am Donnerstag am See fragte, warum unsere Gesellschaft so furchtbar überempfindlich geworden sei. Da sie mehrfach beschimpft worden war, als sie andere auf deren offenen Schnürsenkel hingewiesen hatte, traute sie sich nicht, mich auf den meinen aufmerksam zu machen … woraus sich dann ein schönes Gespräch über das allgemeine Sich-nicht-mehr-Einordnen-Wollen, Überindividualismus, Selbstüberschätzung, Egoismus entspann. Und über Sprache – die Dame: „Inzwischen wird alles so verdreht. Früher war Gutmensch etwas Positives, heute bedeutet es das Gegenteil.“
Schivelbusch: „Die Entstehung des Schockbegriffs im Militärwesen zeigt exemplarisch, wie die Militärentwicklung der europäischen Neuzeit immer wieder Formen und Symptome vorwegnimmt, die später in der industriellen Revolution zivil wiedererscheinen.“

