Walter Kintzel, Parchim
Stinsenpflanzen
Als Stinsenpflanzen bezeichnet man krautige Arten, die ab dem 16. Jahrhundert in gärtnerischen Anlagen des nördlichen Mitteleuropas angesiedelt wurden. Dort verwilderten sie im Laufe der Zeit und breiteten sich nach und nach in benachbarte Bereiche wie Kirch- und Friedhöfe, Landsitze, Guts- und Pfarrgärten, Schlossparks, Burghügel oder Stadtwälle aus.
Der Begriff „Stinsenpflanzen“ stammt aus dem niederdeutschen Sprachraum und leitet sich von stins („steinernes“ oder „befestigtes Haus“) ab. Im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit waren solche Häuser nur den reichen Schichten vorbehalten und stellten eher die Ausnahme dar. Zu ihnen zählten beispielsweise Kirchen, Pastorate, Klöster, Burgen, Gutshöfe, Adels- und Bischofssitze und Stadtvillen. Diese verfügten zumeist über Garten- oder Parkanlagen, in denen aus den unterschiedlichsten internationalen Regionen eingeführte Gewächse angesiedelt wurden – die heutigen Stinsenpflanzen. Obwohl die Anwesen oft längst verschwunden sind, haben sich die Arten bis in die Gegenwart erhalten. In meinem heimatlichen Altkreis Parchim findet man sie insbesondere auf Kirch- und Friedhöfen.

Als lebendige Zeugnisse der Kulturgeschichte verweisen Stinsen auf die vielfältigen Verwendungen als Arznei-, Futter-, Gewürz-, Zier- oder Genusspflanze und als Nahrungsmittel. Allen gemeinsam ist, dass sie einst vom Menschen kultiviert wurden und nach ihrer Anpflanzung ohne weitere Pflege dauerhaft gedeihen, verwildern, sich verbreiten und ganz natürlich in die örtliche Flora einbürgern konnten. So entstanden Populationen, die zu einem Bestandteil der einheimischen Vegetation und unseres botanischen Erbes wurden.

Ältere Stinsenpflanzen sind unter anderem:
Gewöhnliche Akelei (ursprünglich Heilpflanze, dann Zierpflanze, in Gartenkultur mindestens seit 1410), März-Veilchen (ursprünglich Heilpflanze, mindestens seit 1410), Nachtviole (mindestens seit 1542), – Weiße Narzisse (mindestens seit 1552), Garten-Tulpe (eingeführt 1554), Weiße Narzisse (mindestens seit 1552), Dolden-Milchstern (mindestens seit 1559), Frühlings-Krokus (mindestens seit 1561), Osterglocke (ursprünglich Heilpflanze, mindestens seit 1561), Kleines Schneeglöckchen (1568), Garten-Stiefmütterchen (erst Heilpflanze, mindestens seit 1588), Winterling (bereits 1588 kultiviert), Bastard-Aurikel (Zierpflanze, mindestens seit 1601), Orangerotes Habichtskraut (erst Heilpflanze, mindestens seit 1613).
Ohne genaueres Kultivierungsdatum sind der Weiße Mauerpfeffer (auch Weiße Fetthenne), der Gefingerte Lerchensporn, das Horn-Veilchen, das Großblütige Hornkraut, der Russische Blaustern, die Herbstzeitlose, die Kriechende Gämswurz, das Tausendschönchen, das Kaukasus-Mauerpfeffer (auch Speckkraut), der Elfenkrokus, die Kleine Traubenhyazinthe oder das Elwes-Schneeglöckchen – die bis ins 19. Jahrhundert eingeführt wurden.
Interessant ist der Gewöhnliche Schneestolz (Chionodoxa luciliae), der erstmals 1764 nach Deutschland gebracht wurde, dann jedoch wieder in Vergessenheit geriet. Erst 1877 gelang ein erneuter Import; seither ist er fest in der mitteleuropäischen Gartenkultur verwurzelt.

Die Ritter und ihre Mannen brachten Stinsenpflanzen von den Feld- und Kreuzzügen aus Süd- und Südosteuropa mit. Auch Ärzte, die in Italien oder Südfrankreich studierten und dort botanische Gärten kennengelernt hatten, trugen zur Einführung mancher Art bei. Nicht wenige Kaufleute verbreiteten Gewürzpflanzen und andere seltene Gewächse als Freundschafts- oder Werbegeschenke.
Als türkische Stämme im Mittelalter aus ihrer zentralasiatischen Urheimat westwärts zogen, begegneten sie den blühenden Gartenkulturen jener Völker, die sie auf ihrem Weg unterwarfen. Als begeisterte Blumenfreunde übernahmen sie, etwa von den Arabern, Byzantinern oder Persern, zahlreiche der dort kultivierten Arten.
Besonders prägend für die mitteleuropäische Gartenkunst war die Orientalische Periode zwischen 1560 und 1620, in der viele, meist exotische, Zierpflanzen eingeführt wurden, welche die Parkanlagen und Gärten mit neuen Formen und Farben nachhaltig bereicherten.
Zahlreiche Arten wurden ursprünglich als Heil- oder Zauberpflanzen verwendet, etwa die Christrose oder die Dach-Hauswurz, welche der Volksglaube schützende Kräfte gegen Blitzeinschläge zuschrieb – vorausgesetzt, man pflanzte sie auf das Dach.

Heutzutage sind die meisten Stinsenpflanzen vor allem auf Kirch- und Friedhöfen zu finden. Wird ein solcher Standort entwidmet, führt die nachfolgende Vergrasung zu einem Rückgang der Vielfalt.
Im mecklenburgischen Altkreis Lübz fand die letzte systematische Zählung im Jahre 2015 statt – die am häufigsten anzutreffenden Arten waren: Kleines Schneeglöckchen, März-Veilchen, Frühlings-Krokus, Elfen-Krokus und Sibirischer Blaustern.
Erwähnenswert sind die Verbreitungsweisen einiger der dabei erfassten Stinsenpflanzen:
Selbstaussaat (Pflanzen werfen Samen selbstständig aus)
Winterling, Sibirischer, Blaustern, Balkan-Anemone, Märzenbecher, Puschkinie, Hornveilchen, Garten-Stiefmütterchen, Gartenprimel
Verbreitung durch Tochterzwiebeln (neben der Mutterzwiebel bilden sich kleine Zwiebeln und wachsen zu neuen Pflanzen)
Elfen-Krokus, Märzenbecher, Wuchernder Schneestolz
Regenschleuderausbreitung (Samen werden durch Regen an andere Orte geschleudert)
Gänseblümchen, Kleine Traubenhyazinthe, Weißer Mauerpfeffer, Winterling
Ameisenverbreitung (Ameisen transportieren den Nährkörper des Samens zu ihrem Bau)
Doldiger Milchstern, Gefingerter Lerchensporn, Gewöhnlicher und Wuchernder Schneestolz, Herbstzeitlose, Kleines und Großes
Schneeglöckchen, Märzveilchen, Pfingstrose, Winterling
Windverbreitung (Samen werden vom Wind davongetragen)
Akelei, Dach-Hauswurz, Gänseblümchen, Herbstzeitlose, Hornkraut, Kleine Traubenhyazinthe, Nachtviole, Wolliger Ziest

Wie kann ich Stinsenpflanzen aktiv schützen?
Damit die Stinsenpflanzen uns auch in Zukunft erhalten bleiben, sind folgende praktische Maßnahmen empfehlenswert (diese beziehen sich nicht auf Grabstellen, Neuanlagen und Blumenrabatten):
Natürliche Verbreitung sichern
Die wichtigste Schutzmaßnahme auf Kirch- und Friedhöfen ist es, die natürliche Ausbreitung der Stinsenpflanzen zu fördern und nicht zu stören.
Wiedereinbürgerung früherer Arten
Arten, die früher vor Ort genutzt wurden, können durch gezielte Pflanzungen wieder angesiedelt werden.
Auf übertriebene Ordnung verzichten
Zu intensive Pflege- und Aufräumarbeiten sind zu vermeiden, da sie die Pflanzen und deren Standorte gefährden können.
Späte und portionsweise Mahd
Das Mähen sollte erst nach dem Abblühen der Frühblüher erfolgen. Ideal ist eine Portionsmahd, bei der nicht die gesamte Fläche auf einmal, sondern in Abschnitten gemäht wird – das schützt Tier- und Pflanzenvielfalt.
Verzicht auf Biozide und Dünger
Der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln (Bioziden) und Düngemitteln ist vollständig zu unterlassen, da sie die empfindliche Flora stören.
Kein Schreddermaterial verwenden
Zerkleinertes Holz- oder Strauchmaterial sollte nicht als Mulch aufgebracht werden, da es die natürliche Vegetation unterdrückt.
Stockausschläge entfernen
Jungtriebe („Stockausschläge“) an den Baumstämmen sind zu entfernen, um den Lichtbedarf der Stinsenpflanzen zu sichern.
Lichtraum schaffen
Durch gezielten Rückschnitt kann ausreichend Licht für bodennahe Pflanzenarten wie Stinsenpflanzen gewährleistet werden.
Gezielte Narbenverletzung der Bodenvegetation
Leichte Bodenanritzungen wie zum Beispiel das Aufrauen der Grasnarbe können konkurrenzschwächeren Arten helfen, sich anzusiedeln.
Abfallhaufen pflanzlichen Materials vor Ort belassen
Pflanzliche Abfälle sollten nicht außerhalb des Friedhofs entsorgt werden, um die Ausbreitung von Samen vor Ort zu ermöglichen.

Die zugrundeliegende sowie weiterführende Literatur und andere Quellen können gern beim Autor angefragt werden. (botaniktrommel@posteo.de)
