Helko Reschitzki, Moabit

Sonntagsspaziergang. Treffe im Kleinen Tiergarten eine Nachbarin, die mit ihren beiden Enkelinnen unterwegs ist. Sie berichtet, dass sie vorgestern im Volkspark Friedrichshain die ersten aufgegangenen Schneeglöckchen gesichtet hat, daneben viele Winterlinge. Bei uns in Moabit noch nüscht dergleichen. Aber eine wärmende Sonne und ein blauer Himmel! Nette Verabschiedung. Und weiter. Im Großen Tiergarten sitzt ein Graureiher auf einem Ast und blickt über seinen Tümpelrand. Im Neuen See entdecke ich zwischen Stockenten und Blässhühnern erstmalig eine Mandarinente – die kenne ich bislang nur vom Schlachtensee und neuerdings vom Spreeufer neben dem Schloss Bellevue. Willkommen! Im Café am Bootsverleih bollern die Holzöfen und Eisstöcke und bei einigen der Schützen wohl auch ein paar Tassen Glühwein durch die Blutbahn – Volksvergnügen wie vor einhundert Jahren. Am Landwehrkanal gehen Grüße an Rosa und Karl raus. Unter der S-Bahnbrücke wird hinter den Pennplätzen der Obdachlosen ein „Fairbruary“ beworben. An der Suppenausgabe der Bahnhofsmission Zoo sehe ich in zwanzig Sekunden mehr kaputte Venen als ein Phlebologe im Quartal. Aus einem Ghettoblaster kommt ein 90er-Jahre-Eurodiscohit, ein paar Süchtige brummeln mit, zwei schreien und fangen plötzlich zu schluchzen an.

In der Hardenbergstraße schaue ich mir in der C/O-Galerie im Amerika-Haus die Ausstellung „A world in common – Contemporary African Photography“ an – viele gute Serien dabei: Mário Macilaus „The Profit Corner“ mit Aufnahmen von Kindern und Jugendlichen, die auf einer Mülldeponie in Maputo, der Hauptstadt Mosambiks, um ihr Überleben schuften; Edson Chagas‘ Maskenportraits; Khadija Sayes Selbstbildnisse; Lebohang Kganyes Bilder in „Her-Story“, auf denen sie sich in die Fotografien ihrer verstorbenen Mutter montiert und in derselben Kleidung dieselben Posen macht, um nicht deren Gesten zu vergessen, was ich sehr anrührend finde.
Dann zurück – mit Abstecher zum Flohmarkt auf der Straße des 17. Juni, der nun allmählich wie fast alle Flohmärkte Opfer der digitalen Marketplaces wird: kaum Menschen dort. Beim Weggehen erspähe ich in den Kisten eines resigniert zusammenpackenden alten Türken zwei Zigarettenbilderalben von 1937: „Aus Wald und Flur“ – einmal die Ausgabe mit den Tieren und einmal die mit den Pflanzen, beide vollständig für jeweils nen Fünfer, da handele ich nicht einmal mehr. Zuhause kann ich damit meine Frakturlesefertigkeiten neu beleben. Dazu ein frischer Wermutkraut-Chun-Mee-Aufguss, Käsestullen und die famose Nyahbingi-Box von Trojan Records. Weiter im Tagwerk.

