Frank Schott, Leipzig

Beim Joggen beobachte ich, wie eine Horde übermütiger Krähen einen alten Mann und dessen Hund bedrängt. Über eine Distanz von mehreren hundert Metern lassen sie die beiden nicht in Ruhe. Die frechsten Vögel setzen sich vor des Mannes Füße und stieben unmittelbar vor ihm hoch, als würden sie rufen: „Fang mich doch, alter Mann, fang mich!“ Der Hund trottet schicksalsergeben nebenher, vermutlich froh, dass sie ihn nicht in den Schwanz zwicken. Im ersten Moment denke ich, es handele sich um die übliche Heerschar Saatkrähen, die im Herbst über die Grenzen zieht und sich zu Hunderten in großen, lauten und Dreck verursachenden Schwärmen in den Leipziger Parks niederlässt. Aber dafür war die Gruppe zu klein. Vielleicht hatte der Mann sie mit Brotkrümeln angelockt und jetzt ließen sie nicht ab von ihm? Die Situation hat zweifellos etwas von Hitchcock an sich. Denn als ich den Mann längst überholt und die Brücke an der Pferderennbahn überquert hatte und auf der anderen Seite des Flussbetts in die Gegenrichtung laufe, sehe ich die Krähen immer noch den alten Mann umflattern.

Ich bin auf meiner gewohnten Strecke unterwegs. Das Pleißeflutbett führt aktuell nur sehr wenig Wasser. Der Grund dafür ist nicht etwa Trockenheit (woher auch, so viel wie es seit Mitte Oktober geregnet hat), sondern eine Baumaßnahme. Der seit 2023 nach und nach erweiterte innerstädtische Stadthafen wird geflutet. Um Schäden zu vermeiden, wurde die Wassermenge im Zulauf reduziert. In den kommenden Tagen wird, während sich das Hafenbecken füllt, der Flusspegel wieder langsam auf das alte Niveau gehoben.

Beim Laufen unter einer fahlen Sonne – es soll kälter und wieder regnerischer werden in den nächsten Tagen – denke ich über einen Wortwechsel mit einer Freundin nach, die gerade Probleme mit ihrem Vorgesetzten hat. Das erinnerte mich daran, dass ich kürzlich in einer ähnlichen Situation war und unter anderem auch deshalb die Reißleine gezogen habe. Trotz der Richtigkeit meiner Kündigung bleibt ein Rest Zweifel: Manche Kritik, vor allem, wenn sie häufig vorgetragen wird, kann einen so tief verunsichern, dass man sich seiner eigenen Fähigkeiten und seines eigenen Werts nicht mehr sicher ist. Sind es fiese Psychospiele, die möglicherweise die eigenen Mängel der Chefs überdecken sollen – und die man dann aushalten muss? Was ist berechtigt an den Vorwürfen – bin ich vielleicht tatsächlich so unfähig, wie man es mir vorwirft?
Diese Machtspielchen sind auch der Grund, weswegen ich mir nicht vorstellen könnte, in die Politik zu gehen. Die Messer im Rücken, die vergifteten Geschenke – das bin ich nicht, das will ich nicht. So ein Spiel kann nur jemand aushalten, geschweige denn spielen, der damit sein halbes Leben verbracht hat. Der letzte „Nichtpolitiker“, an den ich mich erinnere und der genau daran gescheitert ist, war in meinen Augen Bundespräsident Horst Köhler.

Und damit sind wir wieder bei den Krähen. Vermutlich würde es einem ehrlichen Menschen in der Politik so gehen wie dem alten Mann mit den Krähen: belästigt, bedrängt und verängstigt, erträgt man die Pfeile und Schleudern des wütenden Geschicks, bis man schließlich entnervt aufgibt – denn die Situation durch Widerstand zu beenden, ist so unendlich schwer.
