Nach Besorgungen im Baumarkt für etwas mehr Farbe in unserem Garten laufe ich. Auf dem Elsterflutbett sind dutzende Boote zu einem Wettbewerb angetreten. Weitere fünfzig oder mehr liegen wie farbige Stifte verteilt auf dem Rasen am Hang vor dem Bootshaus. Ein Schiedsrichter gibt Anweisungen, wer als nächstes startet und pfeift jene zurück, die zu nah an die Startlinie vorgerückt sind. Wie ich den Nummernschildern der alle Freiflächen zuparkenden Autos entnehmen kann, scheinen Kanuten aus ganz Mitteldeutschland bei der Regatta dabei zu sein.
Von den Bäumen regnet es Blütenblätter. Und auch der Bärlauch steht in voller Blüte. Ein Meer aus weißen Kronen, die wie Schaum auf einer grünen Wasserfläche leuchten. Auf dem Rückweg komme ich wieder an den Kanuten vorbei. Als Zweierteams sind jetzt die jüngsten unterwegs. Schnell trennt sich die Spreu vom Weizen. Da helfen auch die anfeuernden Rufe von Eltern und Trainern nichts. Aber dabei zu sein, ist sicher eine Art Belohnung fürs wochenlange Training.
Meine Belohnung ist ein Schnitt von 11,4 km/h auf 8,7 Kilometern.
Christoph Sanders, Thalheim
Nach dem Durchzug des Landregens Inspektionsrunde im stark nachgewachsenen Garten. Die transplantierte Pfingstrose wird sich durchsetzen: 20 cm Wuchs und drei Knospen – im Süden sah ich kindsgroße Büsche davon. Der Löwenzahn hat es leicht hier, wird aber gierig von den Kaninchen inhaliert – die Stiele verschwinden mit 2 cm/s im Maul. Die Ferienfrühstückspackungen „gepuffter“ Reis und mit Kakaostaub und Flüssigzucker versetzter Weizen sind nun leer. Beim Entsorgen fällt die Überdimensionierung schnell ins Auge. Wie rational dagegen Haferflockenschachteln sind – wenn sie nicht Porridge genannt werden.
Gemeinde Gaujacq, Département Landes
Wäsche fertig mit Lutoslawskis „Sinfonie Nr. 3“. Die Spülmaschine regeneriert – bei zuviel Fett im Wasser sagt die Pumpe „E 24“ und stoppt. Essigreiniger in die Lauge hilft. Nebenher auf Hifimuseum.de, wo auch die Lebensläufe von Entwicklern, Ingenieuren, Technikern und Marken beschrieben werden. Deutschland war da 30 Jahre lang ganz vorn. Das Rad des Tages aufgepumpt und ab.
Kleiner Schreck: An der Hauptstraße von Elz entflieht zischelnd die Luft aus dem Hinterreifen. Erstversorgung. Was dabei am stärksten belastet, ist der unentwegte Lärm, den die vorbeirauschenden Autos machen. Die Menschen, die an so einer Durchfahrt mitten durch den Ort leben, sind nicht reich – hätten sie die Wahl, würden sie weit fort ziehen. Im Radladen die restliche Luft befüllt und ein Ersatzgummi für die große Standpumpe gekauft. Gespräch über Handpumpen und Ventile. Zuhause dann die richtige Flickstunde: Ein kleiner, scharfer Einstich durch die Lauffläche, stecknadelgroß, das geht problemlos.
Am Nachmittag hat sich der Rasenroboter aufgehängt, aber der Hund interessiert sich nur für mich. Das frische Phone ist bereits in der „Familiengruppe“ aktiv. Dumm nur, wenn es immer um kleine Sachen hin und her geht, andauernde Planänderungen undsoweiter.
Bolognese für Abiturienten. Der Schulrhythmus ist aufgenommen. Wäsche erledigt, Fahrrad geölt und den Sattel frisch mit Lederfett bearbeitet, das zieht über Nacht ein und duftet. (Echtlederbezüge sind mittlerweile eine absolute Rarität!)
Mit Pai Mu Tan weiter in den Abend. Geniale Stellen beim Touristen Ernst Jünger, der 1987 in Griechenland über den technischen Massentourismus, die verzifferte Erfassung am Flugschalter und die abgezirkelten, standardisierten Hotelzimmer nachsinnt.
Aufgrund der milden Nordströmung lockere Wolken und angenehme Sonne. Das wird ein feiner Ritt morgen (Gutendorf-Telegraphentour).
Frank Schott, Leipzig
Freitagabend in der Karl-Liebknecht-Straße. Es ist gegen halb zehn. Mir scheinen mehr Menschen als sonst zu Fuß unterwegs zu sein. Die Anzeigen an den Straßenbahnhaltestellen geben Auskunft: Wegen eines Unfalls werden hier alle Linien weiträumig umgeleitet. Ein getuntes Auto röhrt mit grollenden Motoren die Straße rauf und wieder runter.
Vor dem Konsum, der bis 22 Uhr geöffnet hat, spricht mich ein Mann um die 40 an, dem Aussehen nach könnte er auch ein Punk sein. Ob ich etwas Geld für ihn hätte. „Wofür?“, frage ich. – „Für Alkohol und Drogen“, antwortet er mit einem Grinsen. Wegen dieser Ehrlichkeit hätte ich ihm beinahe Geld gegeben, aber ausgerechnet heute habe ich kein Kleingeld in der Tasche.
Ich blicke auf den Neubaublock, in dem ein großer Biomarkt und ein Fahrradhändler das Erdgeschoss belegen. Das Grün der Bäume leuchtet im Gelb der Straßenlampen. Laut LVZ gab es um die Bäume vor einigen Jahren einen Disput. Da es dort zur DDR-Zeit keine gegeben hätte und das ganze Areal schützenswert sei, wollte der Denkmalschutz sie beseitigen lassen. Nach einem kurzen Sturm der Entrüstung setzte sich der gesunde Menschenverstand durch – die Bäume blieben.
Am Giebel des Feinkostgeländes leuchtet die Löffelfamilie. Seit 1993 ebenfalls denkmalgeschützt. Jugoslawiens Staatschef Tito soll während eines Besuchs Anfang der Siebziger über den farb- und trostlosen Anblick der DDR gemosert haben, woraufhin Honecker die Stadt Leipzig aufhübschen ließ. Im Zuge dessen entstand am VEB Leipziger Feinkost auch die Leuchtwerbung – der Legende nach eine Mischung aus der Las-Vegas-Reklame „Go West, Cowboy“ und einer Familie aus dem Freundeskreis der Grafiker. Durch Fördermittel und Spendengelder restauriert und erhalten, löffeln Vater, Mutter und die beiden Kinder dort noch immer ihre Suppe. Seit 2007 befindet sich auf dem Gelände ein Kulturzentrum mit Gastronomie und Gewerbe.
Vor dem Gelände fährt der Geldadel vor. Natürlich parkt man wie immer auf dem Bürgersteig. Unter einem BMW muss man sich hier aber nicht blicken lassen. Wobei ein X3 neben einem Mercedes oder Lamborghini tatsächlich etwas billig aussieht.
Helko Reschitzki, Moabit
Hab kurz in der Spandauer Altstadt zu tun. Anschließend geh ich am Havelufer bis zum Südhafen, dem zweitgrößten der einundzwanzig Binnenhäfen Berlins. Erbaut 1906 bis 1911. Gesamtfläche 17 Hektar. Schienenanschluss an den Güterbahnhof Ruhleben. Frachtumschlag p.a. ca. 500.000 Tonnen, hauptsächlich Papierprodukte, chemische Erzeugnisse, Erze, Zuschlagstoffe für Beton. Neben der Dischinger Brücke liegt „Das jüdische Kulturschiff MS Goldberg“. Davor sitzen zwei Halbstarke und trinken nicht-koscheres Bier. An den Kiessilos und einem alten Container der United Arab Shipping Company zieht ein Vierer mit Steuerfrau vorbei. Im Burgwallgraben schwimmt eine Stockente. Mauersegler drehen ihre Himmelsrunden. Fast nur junge Menschen unterwegs, dabei gibts hier viele Seniorenresidenzen -Immobile in Immobilien, immerhin in schöner Umgebung. Ich erfreue mich am Vogelsang und dem Zungenblütengelb des Löwenzahns. Blauer Himmel bei 17 Grad Celsius, schattenkühl und sonnenwarm.
Aus dem OXFAM-Laden nehme ich Kai Donnes Expeditionsbericht „Bei den Samojeden in Sibirien“ von 1911 mit, aus dem Plattenladen in der Klosterstraße, in dem ich zuletzt und ein einziges Mal vor ca. 25 Jahren war, die vier 1958er Alben von John Coltrane mit Wilbur Harden – zeitloser, nicht zu verbessender Klang: Rudy Van Gelder saß am Pult. Um den Bahnhof herum saufen sich viele Hertha-Fans prophylaktisch das Spiel gegen Magdeburg schön, mittendrin sammelt ein Schlachtenbummler des 1. FCM Pfandflaschen. Bizarr.
Abends Beginn der 2. Staffel meiner Serie: Die verbliebenen der 100 jugendlichen Straftäter, die in Staffel 1 von ihrem Raumschiff auf die nuklear verseuchte Erde geschickt wurden, sind nach einer etwas unübersichtlichen Schlacht gegen die „Grounders“ nun aus ihrem Koma erwacht und finden sich auf einer urplötzlich auftauchenden Quarantänestation wieder. Dort sind alle äußerst freundlich zu ihnen. Sie werden untersucht, geduscht, eingekleidet und mit Schokolade verwöhnt, die sie bislang nicht kannten. Aber die Hauptheldin lässt sich davon nicht wie ihre Kameraden einlullen – sie ist nicht umsonst Leader of the pack. Die giftpfeilsieche Nebenheldin wird von einem der Grounders zu einer Statue in seinem zig Kilometer entfernten Heimatdorf geschleppt, wo er sich, um sie zu retten, auf die Suche nach Ameisen machen will, die einen bestimmten roten Tang fressen und dadurch das Antidot in sich tragen – es bleibt spannend!!! (Das mit den Gegengiftameisen check ich mal auf einen Realitätsbezug.)
Christoph Sanders, Thalheim
Hier alles grünbunt. Frühling mit Apfelblüte, Tulpen in Gartenpracht. Die Umstellung vom warmen Süden auf Regenschauer um die 10°C läuft aber noch. Vorräte erinnern an die Reise – man kann so eine dicke Wurst aus der Ardeche perfekt mit Zwiebeln in Weißwein und Sahne anbraten. Nach dem Essen Beisammensitzen mit der netten Austauschschülerin aus der Normandie, die drei Monate bei uns wohnt. Anschließend geht mein Kind aus der 10b für drei Monate ins Internat nach Le Mans. Gleich wieder aufs Rad, die Pyrenäen liefern zuverlässig einen Trainingsschub.
Gemeinde Gaujacq, Département Landes
Bin wegen Fidus und der Provenienz-Ausstellung zu „Tempeltanz der Seele“ (Berlinischen Galerie, Kreuzberg) noch einmal in ein paar Texte getaucht. Michel Pastoureau weist in seiner Analyse der Farbe Gelb darauf hin, dass das Christentum seine großen Feste nah an die Sonnwendefeiern legte, damit dieses Terrain nicht den alten, heidnischen Ritualen überlassen bleibt. Im Mittelalter wurde Gelb meist positiv assoziiert (Licht, Gold, Heiligenschein), konnte aber auch negativ konnotiert sein (Neid und Krankheit: Gelbsucht!) Man verwendete es um Ausgrenzungen zu markieren, etwa bei Juden („Gelber Fleck“) und Prostituierten, die Schleier oder Hauben in der „Schandfarbe“ tragen mussten. (Man achte auf den Begriff Eugenik auf Fidus‘ gold-gelbem Plakat für den „Kongress für biologische Hygiene“ 1912 in Hamburg!) In der Zeit der Aufklärung verlor sich die symbolische Aufladung zunehmend, Gelb wurde zur „Nebenfarbe“. Beklommen sieht Pastoureau das Absinken der Lesekultur – eine große Chance, die vertan wurde. Nun kriechen wir langsam in das Mittelalter mit seinem Aberglauben und Okkultismus, den Ängsten, Nebengottheiten und Fakenews zurück.
Michel Pastoureau „Jaune: Histoire d’une couleur Poche“, Points histoire, 2023
In einem Secondhandladen in Pau (südwestliches Pyrenäenvorland) erstand ich ein fünf Jahre altes iPhone, die kleine, flache, handliche Ausführung. So bekomme ich wenigstens für eine Weile die Updates für die „Dienste“ der Digitalwelt garantiert. Leider muss man da mitschwimmen. Für mich war es nicht verkehrt, die zwei Wochen ohne Internet zu leben.
Zwischen Arthez de Béarn und Gaujacq
Gleich geht es im Lotossitz zu Bett, doch erst einmal etwas Musik.
Susanne Kasperowski, Gadebusch
Außenkamera Garten, 02:51:44, 22-04-2025
Christoph Sanders, Thalheim
Nach dem südlichen Ausflug, der mich wie immer an das Licht der Südstaaten erinnerte, jetzt den kühlen Heimfrühling genießen. Alles läuft in Zeitlupe ab. Die Tulpen stehen auch nach den zwei Wochen noch in Blüte. Als Überraschung hat sich, nachdem sie im Herbst völlig verschwunden schien, die transplantierte Pfingstrose zu neuer Größe entwickelt. Kein Frost – das wird ein gutes Jahr fürs Obst.
Jean Giono „Le Hussard Sur Le Toit“, Illustré par Yves Brayer, Éditions Gallimard, 1965
Habe während der Gartenarbeits- und Fahrradferien ein Buch von Giono geschmökert, das auf fünfhundert Seiten die Geschicke des Husaren-Carbonaros Angelo schildert, der nach einem Duell durch die choleraverseuchte Provence zieht, um weitere Anweisungen und Geld zu erhalten. Anfang der 1830er Jahre breitet sich, vermutlich von Marseille, die Epidemie über Frankreich aus. Der Autor geizt nicht mit Details: verlassene Dörfer, das Wegsperren der Infizierten, Krankenstationen, auf denen nach drei Tagen alle sterben. Wahllos herumliegende Tote, die von Vogelschwärmen gefressen werden, das Verbrennen der Leichen. Eindrucksvoll die Schilderungen der Hautschwärzungen, der plötzlichen Zuckungen, der Todesgrimassen und der Hilflosigkeit. Die ins Kraut schießende Spekulationen, der Aberglaube. Dorfbewohner, die in Angelo einen Brunnenvergifter sehen und ihn lynchen wollen. Die Charaktere präzise und ohne jede Verbrämung. Extrem dichte und intensive Naturschilderungen – eine Spezialität Gionos. Die Sprachbilder vermutlich ein üppiges Fressen für alle Provencekrimis.
Jean Giono „Le Hussard Sur Le Toit“, Illustré par Yves Brayer, Éditions Gallimard, 1965
In Meyers Konversations-Lexikon von 1896 dann vier volle Seiten über die diversen Epidemien weltweit und Unterformen wie die Kindercholera. Robert Koch gelingt es auf einer Indien-Expedition in Kalkutta den Erreger zu isolieren, den Kommabazillus. Die Krankheit bricht immer wieder bei langen heißen Trockenphasen aus. Man kann nur die Symptome lindern – unter anderem wird eisgekühlter Champagner empfohlen. In Hamburg errichtet man die Kanalisation.
Kochs Reagenzgläser zur Anzüchtung der Cholerabakterienkulturen
Jetzt erstmal in die Routinen finden, sich richten … SCHLAFEN …
Kai-Michael Reschitzki, Lüneburg
Bin grad in Soltau. Teamtagung mit den Deutschleuten. Hab gleich nach dem Aufstehen einen Spaziergang gemacht. Hier im Ortsteil Dittmern gibt es zwischen einer Bahnlinie und der Bundesstraße zwei große Waldstücke. Und viel Heidefläche.
Bin den Eichhörnchenweg langgegangen.
Wirklich schön hier. Das Wetter gut: 9 Grad und leicht bedeckt.
Mitten im Wald ein Kreuz. Auf dem Kopfbrett steht die Jahreszahl 1975 und irgendetwas auf Plattdeutsch. Wenn ich dran denke, werde ich später mal nachschauen, für wen das errichtet wurde.
War jetzt eine Stunde spazieren, nun gehts tiefenentspannt zum Frühstück, dann wird gearbeitet.
Helko Reschitzki, Moabit
Ostermontag. Morgenroutine: Kräuteröldampf inhalieren, Frühsport und -stück, mit den Jahrhunderten verbinden: „Miserere (Psalm 50)“ von Jan Dismas Zelenka. Mir fällt auf, wie sehr einzelne Passagen des Böhmen der Minimal Music von Michael Nyman und Philip Glass ähneln. Modern klingende Repetation von 1722 (plus barocktypische Dur-Schnörkel). Zum Vergleich höre ich nochmal Glass‘ Soundtrack für den Dokufilm „Koyaanisqatsi“. Faszinierend. Ich mag Reduktion.
Meine kleine Mittagsrunde führt mich in die James-Simon-Galerie, das Besucherzentrum der Museumsinsel. Ich war dort noch nie. Am 2018 fertiggstellten Bau gefällt mir sofort, wie auf optisch smarte Weise die Umgebung miteinbezogen wurde. Da ich mich nie vorab informiere, weiß ich nicht, was mich in der Ausstellung erwartet – und bin komplett überrascht und geflasht von „Fäden des Lebens am Nil. Bildteppiche des Ramses Wissa Wassef Art Center aus Kairo“. An den Wänden zeitgenössische Teppiche unterschiedlicher Größe, ein paar Batikarbeiten. Leuchtende Farben. Tiere. Pflanzen. Alltagsmotive. Familienszenen. Menschen bei der Arbeit: Fischer, Verkäuferinnen, Weberinnen, Bäuerinnen, Meliorationsfachleute, Tuk-tuk-Fahrer. Guter, versteckter Humor. Das Art Center wurde 1951 im Dorf Harrania (inzwischen Groß-Kairo), nahe der Pyramiden von Gizeh als Kinderkunstschule gegründet. Wuchs zum Manufakturort mit 15 Werkstätten, aktuell arbeiten dort 35 (erwachsene) Künstler und Künstlerinnen. Die Teppiche sind weltweit begehrt und als Kunstwerke anerkannt – unter anderem hängen welche im Museum of Modern Art New York. Eine wirklich schöne Entdeckung für mich.
Im hervorragend sortierten Museumsladen kaufe ich neben dem Katalog ein Stück Aleppo-Seife, das wohl bekannteste Produkt aus Syrien. Olive und Lorbeer – was für ein Duft! Auf der Banderole steht Made in Turkey. Aufgrund des Krieges ist ein Großteil der Hersteller ins Nachbarland geflohen, wo nun in Kooperation mit Einheimischen die Produktion fortgesetzt wird. Anhand eines 200-Gramm-Stücks Seife kann man viel über Geopolitik erfahren.
Als ich aus der Galerie komme, zeigt plötzlich einer der ortsüblichen Touristen nach oben und ruft: Cormoranes! Und ja, über uns fliegen gerade vier Kormorane. Schön. Ungleich uneleganter schlurfe ich weiter. Auf dem Kupfergrabenflohmarkt kaufe ich beim fatalistisch-fröhlichen Buchtrödler Erinnerungen eines ostpreußischen WK-II-Kriegsgefangenen der Sowjets und „Der Roggenpreis und die Kriege des goßen Königs“ – die Privatchronik des Berliner Bäckermeisters Johann Friedrich Heyde, der von 1740 bis 1786 all jenes aufschrieb, was ihm für die Nachwelt mitteilenswert erschien: Politik, Kriege, Erfindungen, Himmelserscheinungen, Handelspreise und (für mich am interessantesten), Rezepte für Salben, Tinkturen, Teemischungen und andere Heilmittel für Mensch und Tier. Klasse!
„Eine gute Brand Salbe zu machen. Man nimmt einen Linden Zacken wo gute Rinde dranne ist, schabet das außenste ab. Das innere zerkörnet es zwischen Leinen Tüchlein. Auf den Brand geleget ziehet den Brand aus und heilet alsbald.“
Lore Morr, Parchim
Am Alten Eldearm
Meine Nachbarin und ich haben es uns angewöhnt, jeden Tag eine halbe bis eine Stunde gemeinsam rauszugehen, aber nur, wenn es nicht regnet. Meist spazieren wir durch die Wallanlagen oder hier bei uns an der Elde entlang. Dort haben wir vor ein paar Tagen sogar ein Reh gesehen, die kommen öfter mal in die Stadt. Ab und an fahren wir mit dem Auto raus und wandern mit unseren Stöckern durch den Wald. Auch wenn von den hügeligen Wegen manchmal ziemlich erschöpft sind, fühlen wir uns gut dabei. Jetzt ist wieder die Zeit, in der es überall grün und voller Blüten ist. Das sieht wunderschön aus!
Am Südring
Frank Schott, Leipzig
Am Samstag sind wir nach dem Ende der langen Regenschauer zu den Schwiegereltern nach Thüringen gefahren. Abendessen als Buffet in einer beliebten Gaststätte am Rande der Kreisstadt. Drei Kamine bollern, über hundert Menschen sondern Körperwärme ab, am Gasgrill wird Lamm und Rind frisch zubereitet. Es ist drückend warm. Draußen ist es angenehm frisch, die Abendsonne leuchtet über den Rapsfeldern.
Am Sonntag laufe ich eine Runde. Nach ein paar hundert Metern bin ich an den Gärten und Wiesen und alles ist voller Nebel. Von den Feldern kreischen Vögel herüber, die ich nicht sehen kann. Gänse? Rebhühner? Im Dunst erkenne ich einen Schemen, der ein Feldhase oder eine optische Täuschung sein kann.
Die Nebelschwaden sehen aus wie die Seelen der Verstorbenen, die von der Ostersonne zur Auferstehung erweckt werden. Als ich genauer hinschaue, sehe ich, dass die Nebelseelen stadteinwärts schweben. Hin zur Kirche, deren Glocken zum Gottesdienst rufen. Was einem im Nebel für Gedanken kommen.
Ich bin zurück in der Stadt und der Nebel ist fort. Ich sehe Tauben, Spatzen, Amseln und eine Elster. Zwei Katzen kreuzen meinen Weg, keine ist schwarz. Ein alter Mann räumt die Hinterlassenschaften seines Hundes weg. Im betreuten Wohnen am Ententeich führt eine Mutter ihre Küken aus. Ostermorgen in der Kleinstadt.
Helko Reschitzki, Moabit
Lautlose Osterglocken
Nach zwei milchig-grauen und rückfallskühlen Tagen (mit immerhin etwas Regen) der Ostersonntag namensadäquat. Der Morgen startet mit Bruckners „Messe Nr. 2“ nebst Frühstück. Anschließend gehe ich unter Glockengeläut und polyphonen Vogelchören an der Spree entlang, dann durch den Großen Tiergarten. Five hundred shades of green. Blumen, die verblühen, während andere gerade aufgehen. Ende und Anfang. Das passt zu diesem Feiertag der Christenheit.
Heilen die Seele vom Ach! und vom Weh!: Wilde Tulpen am Ufer der Spree
Mich ziehts Richtung Matthäikirchplatz ins Kulturforum – dieses kurz nach Öffnung erfreulich leer. Ich sehe dort die Sonderausstellung „Von Odesa nach Berlin“ an und in der Gemäldegalerie ein paar der sogenannten Alten Meister. So ziemlich alle prägenden Künstler des 13. bis 18. Jahrhunderts sind neben unbekannteren vertreten: Bosch, Caravaggio, Bruegel, Dürer, Holbein, Rembrandt, Vermeer, van Eyck, Grien, Tizian, Rubens … Unter all den Großen für mich der Größte: Lucas Cranach d.Ä., der mit „Der Jungbrunnen“, „Venus und Amor als Honigdieb“ und seinem „Jüngsten Gericht“ zu bestaunen ist.
Da ich ziemlich oft hier bin, habe ich inzwischen den perfekten Zustand erreicht, nicht mehr bewußt schauen zu müssen, so dass ich bei meinen Besuchen angenehm gedankenlos durch jeweils ein paar der 59 Räume schlendere und ab und an vor einem der 1300 Bilder innehalte. In dieserart Beiläufigkeit nehm ich wesentlich mehr auf als beim konzentrierten Von-Bild-zu-Bild-Schreiten. Heutige Entdeckung: „Pfannkuchenbäckerin mit einem Jungen“, gemalt vom Amsterdamer Gabriël Metsu um 1659. Was die drei auf dem Bild wohl gerade denken … (Man beachte den Gesichtsausdruck der Katze!)
Die Ausstellung „Одеса -> Berlin“ hat einen traurigen Hintergrund: Gezeigt werden Gemälde aus dem Odessa Museum für westliche und östliche Kunst, die, um sie vor Kriegsschäden zu bewahren, 2023 zunächst noch in der Ukraine in ein geheimes Notlager und von dort nach Berlin gebracht wurden. Werke europäischer Künstler des 16. bis 19. Jahrhunderts, denen Bilder der Berliner Sammlung gegenübergestellt werden – es gibt da einige Überschneidungen bei den Künstlern. Besonders beeindruckend für mich: Eugen Kampfs „Eifeldorf“ sowie Andreas Aschenbachs „Winterlandschaft“.
Den perfekten Abschluss der Karwoche bildet dann Gabriel von Max‘ „Licht!“, das auf Anfang der 1870er Jahre datiert ist. Untertitel: „Blinde Öllampenverkäuferin in römischen Katakomben zur Zeit der Christenverfolgung“ – da hat der in Prag geborene Anhänger des Okkultismus, Spiritismus und Darwinismus sowie Mitglied der Loge Germania der Theosophischen Gesellschaft metaphernmäßig gut zugelangt. Palmzweige hatten wir hier ja bereits näher behandelt.
Auf dem Rückweg die Straßen um den Großen Stern immer noch angenehm autofrei – an einem Werktag kommt man hier kaum rüber bzw. muss kilometerweit zu ner Ampel latschen. Die Temperatur nun auf 19°C gestiegen – knorke! Auf der Perleberger finde ich in einer Verschenkkiste eine moskauer Nietzsche-Ausgabe – da ist wohl irgendein ein Russe von seinem Nicht-Glauben abgefallen. Werde es einem serbischen Freund schenken, der Russisch kann und mit seinen 88 Jahren noch einmal die Bücher seiner Jugend liest.
Nach den in Olivenöl angebratenen Tortellini mit einem Salat aus Rauke, Möhren, Tomaten, Gurke plus Joghurt gehts in die Moabiter Kulturfabrik zum Gothic-Flohmarkt, der nicht unwitzig Schwarzmarkt heißt – Grufties mit Humor, so weit isses nun schon gekommen …
HEL Toussaint, Prenzlauer Berg
Foto: Helko Reschitzki „Schlachtensee“
Lore Morr, Parchim
Meine Nachbarin und ich sind diesmal nicht zusammen Spazieren gegangen, sondern zum Friedhof gefahren. Für meinen Mann hatte ich einen kleinen Osterstrauß mitgenommen. Die Blumen von letzter Woche waren aber noch in Ordnung, obwohl es zuletzt sehr warm war – eine ehemalige Kollegin und ich gießen immer gegenseitig unsere Pflanzen. Ich habe dann die neuen einfach dazu gestellt – Blumen kann man ja nie genug haben. Am Weg zum Froschbrunnen blühen gerade die Japanischen Kirschbäume, das sieht toll aus.
René Schwettge, Lehnitz
hoffnungsei an der kreuzung
Sonne bleibt heut hinterm Vorhang. Nimmt 1 day off, ohne uns frieren zu lassen. Karfreutag. Ruhetag. Wir geniessen das. Emma macht Presseschau und hat alle naselang was zu kommentieren. Kein Mensch unterwegs, dafür sind die Ameisen flügge.
Die Wunderbäume tragen reichlich Früchte. Emma kaut auf ihren 3zähnigen Felgen und zieht dann sehr gemächlich weiter. Mir säuselt noch Andreas Dorau im Kopf und macht das Herz ganz leicht.
An 1 Wegkreuzung ist es, das schwarzrote Hoffnungsplasteei. Wahrscheinlich ist es derselbe Typ, der zu Weihnachten 1 kleine Kugel in den Wald hängt. Ich möchte ihn nie kennenlernen oder dabei entdecken. Wunderbar, dass der/die gleichzeitig mit mir in dieser kleinen Welt ist und sowas macht. Ganz fröhlich schau ich den Blättern beim Entrollen zu.
Emma bleibt stehen und wartet noch ein Weilchen. Ausruhn.
Frank Schott, Leipzig
Der alte Winter zog sich in raue Berge zurück … doch heute ist es erstaunlich kühl. Die Temperaturen sind bestimmt zehn bis fünfzehn Grad kälter als noch am Mittwoch. Zum Joggen auf jeden Fall besser geeignet. Da feiertags nur wenig Verkehr ist, kann ich problemlos über die Klingerbrücke huschen, ohne auf die sehr kurzen grünen Ampelphasen warten zu müssen. Ich will um die Festwiese am alten Zentralstadion, jetzt Red Bull Arena, laufen.
Auf gehts. Auf meiner Runde muss ich unter der Zeppelinbrücke (seit Juli 2024 wegen Reparaturarbeiten bis Ende 2026 gesperrt) hindurch, über den Peterssteg und besagte Klingerbrücke (im März zwei Wochen wegen Reparaturarbeiten gesperrt) hinweg. Außerdem laufe ich an zwei Brücken auf dem Schleußiger Weg sowie an der Sachsenbrücke vorbei.
Der Peterssteg (Neubau 2018 fertiggestellt)
Leipzig ist die Stadt mit den drittmeisten Brücken in Deutschland – 479 sind es (Stand 2005). Nur Hamburg mit ca. 2.400 und Berlin mit ca. 1.600 haben mehr. Viele der Brücken sind in einem schlechten Zustand. Wenn besonders wichtige wie die Zeppelinbrücke gesperrt sind, stockt der Berufsverkehr. Auch der ÖPNV hat dann Probleme. Nur Radfahrer, Fußgänger und Jogger finden immer einen Weg.
Bei Regen eher Schlammwüste als Festwiese
An der Red Bull Arena angekommen. Im Sommer finden auf der Wiese vor dem Stadion Konzerte statt. Ich sah hier unter anderem die Rolling Stones und Westernhagen. Bei den Stones dachte ich immer, die musst Du sehen, bevor sie alle tot sind. Das war 1995. Im Jahr 2003 waren die Stones noch einmal in Leipzig, und sie wollen wohl 2026 wieder nach Deutschland kommen. Alkohol konserviert.
Heute, am Karfreitag, ist die Festwiese leer. Morgen, beim Heimspiel gegen Holstein Kiel, werden aber wieder Tausende über den Platz ins Stadion strömen und – wer sich noch nicht an der Tanke befüllt hat – an den Buden warmtrinken. Jetzt picken lediglich ein paar Krähen zwischen den geschlossenen Imbiss- und Getränkeständen nach Insekten.
Helko Reschitzki, Moabit
Mittags 25 Grad, später gar 27. Da packe ich ohne eine Sekunde zu zögern den Rucksack und fahre zum Schlachtensee. Dortselbst viele Piepel auf den Wiesen. Obwohl die Temperatur in 24 Stunden um knapp ein Grad auf 14,84 gestiegen ist, aber nur wenige im Wasser. Der Tarzanbaum ist heute von zwei Jungs in monochromschwarzen Neoprenanzügen besetzt, kaum auzumachen zwischen den Ästen.
Mir fällt auf, dass mehr Jugendliche als in den Vorjahren rauchen, man aber nur noch selten welche mit Alkohol sieht. Anekdotische Evidenz. Ein Teenietrupp beredet, wie man auf Whatsapp & Co. am besten Schlachtensee abkürzt: „Schlachti“ wird sofort verworfen, weil das „im Gegensatz zu Kotti oder Görli blöd klingt“. Stimmt. Ein Mädchen schlägt „Schlachten“ vor. Man testet das: „Lass mal um zwei zum Schlachten fahren.“ Okay, lustig, aber auch doof. Am Ende bleiben sie beim Original. Die Blässhühner wohl mit dem Nestbau fertig. Viele Mandarinentenpaare, die Stockenten in gemischten und größeren Gruppen unterwegs. Ich schwimme meine kleine Runde.
In meinem Kopf loopt die ganze Zeit „I’m not like everybody else“ von den Kinks – das hatte ich beim Mittagessen im ORF-Gespräch zwischen Katja Gasser und Peter Handke gehört, wo dieser den Refrain vor sich hin brummelte. Ich mag ihn, kann mit seinen Texten aber wenig anfangen (Ausnahme sind „Die Überschwemmung“ von 1963 und „Das Lied vom Kindsein“ das er für den Film „Der Himmel über Berlin“ seines Freundes Wim Wenders geschrieben hat). Meine Oma hätte gesagt, dass Peter Handke „eigen“ ist – was für mich eine wertvolle Charaktereigenschaft darstellt, aber inzwischen auch im Westen regelrecht bekämpft wird. Immerzu sollen alle einer Meinung sein – das kannte ich vorher nur aus der DDR. Wir müssen schnell zur alten Gelassenheit einer liberalen Gesellschaft zurückkehren.
Da mein Smartphone an Altersschwäche eingegangen ist, gehe ich nach dem Baden in eine Fachbude. Beide Seiten bemühen sich, eine gemeinsame Sprache zu finden. Die Handywelt ist nicht die meine. Danach schmetter und schnibbel ich mir beim Tischtennis zwei Stunden lang den Kopf leer und den Körper matt. Sich bewegen, dabei Unsinn quatschen, ablachen. Perfekt. (Und komplett analog!)
Kai-Michael Reschitzki, Lüneburg
Am Gründonnerstag die längere Tour auf dem östlichsten Radweg Deutschlands. Erste Station ist das Schiffshebewerk in Niederfinow. 60 Meter hoch und die älteste Anlage dieser Art, die noch in Betrieb ist. Ein geschütztes Industriedenkmal nach der „Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten“. Wir fahren weiter Richtung Oder-Neiße-Friedesgrenze.
Kurz vor Eberswalde sehen wir im Finowkanal Schwäne. Am Ufer blüht bereits der Löwenzahn. Blauer Himmel, 25°C – Sommerfeeling.
Hier waren wir schon oft und sinds immer wieder gern: Das Kloster Chorin. 1258 von zwei altsächsischen Markgrafen gegründet. Die Gegend war damals von Slawen bewohnt. Völker kommen herum.
Im Ökodorf Brodowin unsere zweite Rast. Bloß nicht dehydrieren!
Heute vor knapp 2000 Jahren aß Jesus mit seinen zwölf Gefährten Abendbrot. Es sollte seine letzte Mahlzeit werden. Im Gedenken daran läutet die Dorfkirche in Brodowin die drei stillen Tage ein. Das hab ich als Zivi auch mal gemacht – war aber alles elektronisch. Wir sind bei Kilometer 54, jetzt noch am Parsteinsee vorbei 17 bis nach Lunow, unserem Start- und Zielpunkt.
Geschafft. Der Abendhimmel kündigt für morgen einen weiteren frühsommerlichen Tag an – und das Mitte April! Ein schöner Ausflug.
Frank Schott, Leipzig
Nun geht alles rasend schnell. Am Samstag gesellte sich lediglich das Rot der Tulpen zu unserer Spirea. Jetzt explodiert das Gelb der Narzissen. Später als manch anderswo, aber der Vorgarten ist halt sehr schattig.
Weil es auch um 16.30 Uhr noch ziemlich warm ist, kleine Laufrunde. An der Auffahrt zur B2 herrscht Stau, wie zu fast jeder Stunde, weil die Brücke mit der eigentlichen Auffahrt gesperrt ist. In Zeiten von Carolacrashs geht die Stadt kein Risiko ein. Der Verkehr wird mit Ampeln umgeleitet. Düstere Zeiten für den Geschwindigkeitsblitzer an der Auffahrt. Als Jogger bewegt man sich momentan schneller vorwärts als die Autos.
Die Wege sind sehr staubig. An der Pferderennbahn sehe ich vor mir drei Jungen, vielleicht acht, neun Jahre alt, die ebenfalls laufen. Sie haben Sportsachen, aber keine Trikots an. Also sind es wohl keine Fußballer. Ich nähere mich ihnen. Der hinterste Junge stöhnt und bittet seinen Vordermann, auf ihn zu warten. Der dritte hat bereits fünf Meter, bald zehn Meter Vorsprung und rennt kontinuierlich weiter. Ich überhole ihn auf der Rennbahnbrücke.
„Du bist ganz schön schnell“, sage ich. „Training“, schnauft er. „Welche Sportart?“ – „Kanu.“ Was sonst, denke ich mir an dieser Stelle, obwohl ich etwas überrascht bin, dass Ausdauerlauf offenbar zum Trainingsprogramm der Kanuten gehört.
Im Wald blühen die ersten Bärlauchpflanzen – genau an den Rändern der Wege, wo sie die meiste Sonne abbekommen. Einige Blätter werden bereits gelb und sondern die intensiv nach Zwiebeln und Knoblauch riechenden Düfte ab. Als ich wieder am Fluss ankomme, sehe ich die Kanus zwischen den Bäumen durchschimmern. Ob meine drei Läufer darunter sind, kann ich nicht erkennen.
Es ist immer noch warm. 40 Minuten reichen. Zuhause werfe ich einen weiteren Blick auf mein Farbwunder im Vorgarten. Dann ab unter die Dusche.
Helko Reschitzki, Moabit
Nachdem das inhäusige Tagwerk verrichtet ist, gehts raus Richtung Schlachtensee. Auf dem U-Bahnhof Turmstraße fragt eine auf ihrem Rollator sitzende Dame ausgerechnet den dortigen Dealer, ob er ihr gleich beim Einsteigen helfen könne. Viel Sprachgewirr. Als er sagt, dass er aus Kamerun komme, wiederholt sie ihre Bitte in fließendem Französisch. Er hatte das alles schon vorher verstanden und auch signalisiert. Egal, Hauptsache, er hilft ihr. Was er nett tut. Da wegen des Abrisses einer Autobahnbrücke die Ringbahn zum Teil gesperrt ist, muss ich eine andere Strecke fahren. Zum Glück kommt man in Berlin trotzdem überall hin, im Hinterland wär ich jetzt vollkommen aufgeschmissen (ohne Auto). Ich lese in der Bahn Knausgårds Buch über Munch weiter. Interessante Gedanken, konzentrierte Sprache.
23°, pralle Sonne, blauer Himmel. Die Wiesen am Südufer des Sees voller Kids. Ferienzeit. Zwei Mädchen führen ein Kaninchen aus. Andere ihren Hund. In meiner Bucht fünf vielleicht Vierzehnjährige, die rauchen, klönen, Karten spielen und dabei coole Musik hören. Als „Killing Me Softly“ von den Fugees erklingt, schickt uns die vor sieben Wochen verstorbene Roberta Flack einen extra Sonnenstrahl. Und gerade als ich denke, dass es wohl kaum schöner sein könnte, kommt Fleetwood Mac! Teenies, die rauchen, Karten spielen und dabei Fleetwood Mac hören – mir ist um unsere Zukunft nicht bang. Ich muss an den Moment denken, als ich in genau dem Alter in der Disko im Klubhaus der Eisenbahner „Thomas Müntzer“ in Parchim zum ersten Mal die Stimme von Stevie Nicks hörte und mich nicht nur in diese verliebte (Stimme und Frau – bis heute!!!), sondern auch irgendetwas begriff, das mit dem Leben und dem Tod zu tun hat, mit dem, was übers Irdische hinausgeht. Und das mich bis heute trägt.
Ich bin etwas länger im Wasser als am Sonntag und schwimm sogar ne Runde. Was die Kids inspiriert, selbiges zu tun. Dolles Gejuchze! Klar. (Sender Wolfsschlucht vermeldet 13,85° fürs H2O.) Plötzlich ist auch der alte Baumkletterer da; er grüßt maximal lässig von seinem Stammbaumstamm, ich grüße zurück. Zitronenfalter und Insekten. Tee und Sonne. Aufgewärmt weiter. Ich sehe ein paar andere Bader, Ruderbootfahrer und Stehpaddler. Ein Halbdutzend Hormonteufel hat den Baum mit dem dicken Seil erklettert und macht den Tarzan plus Arschbombe. Ein Bollerwagen voller Picknickzeug rumpelt über den staubigen Weg. Ein Mann pflügt mit seinem ferngesteuerten Bötchen durchs Wasser. Die Blässhühner, Stockenten und Schwäne lassen sich davon nicht aus ihrer Ruhe bringen. Hinterm Ufergehölz entdecke ich ein Mandarinentenmännchen. Die Farben begeistern mich jedesmal aufs Neue. Alle Menschen haben dieses besondere Grinsen im Gesicht, das sie hier immer haben, wenn die tagdunkle Zeit endgültig vorbei ist. Wie sangen Pannach & Kunert: „Berlin, dein Winter ist kein Spaß“. Da hammse recht. Vorbei, vorbei …
Zuhause lege ich „Beach Party“ von den Marine Girls auf, danach Aztec Camera. Dazu esse ich frisches Brot mit Harzer Käse. Ach, gehts mir gut.
Kai-Michael Reschitzki, Lüneburg
Urlaub bei den Schwiegereltern im Nationalpark „Unteres Odertal“. Wenig Menschen hier, viele Tiere. Wisente, Heckrinder, Fischotter, Biber, Konik-Pferde, Wasserbüffel usw. Im Winter zieht schon mal ein Elch oder Wolf durch. Ich bin gerade mit unserer großen Tochter den Oder-Radweg nach Schwedt gefahren. Von den 25 Kilometern waren 23 gegen einen ziemlich starken Wind, wir haben es trotzdem durchgezogen. Und wurden belohnt mit einem Graureiher, einem Falken und einem Seeadler. Und was da noch so alles rumfliegt. Leider drehte der Wind genau in dem Moment, als es zurück ging. Pech. Trotzdem entspannte 50 Kilometer bei 21° C und grau-blauen Wolken. Morgen gehts dann auf die große Tour an der polnischen Grenze entlang: Niederfinow, Eberswalde, Kloster Chorin …
René Schwettge, Lehnitz
die langsamkeit der geschwindigkeit
Es ist warm. Fast schwül schon. Sprach man nicht vorhin im Radio von möglichen Gewittern. Möglich. Das Wäldchen ist wieder mit diesen Armbändern behangen. Es sind immer dieselben Sträucher und Bäume. Ein Muster. Die im Sonnenlicht glitzern aus der Ferne. Ich denke über Geschwindigkeit nach. Wie unterschiedlich schnell oder langsam das Draussen sich beblättert. Obstbäume ziemlich mutig voran. Im Wald: Traubenkirsche und Birke preschen vor, während Eiche und Buche gerade erst Power into the Knospe pumpen. Ist der Vorsprung beim herbstlichen Entblättern dem angepasst? Emma ist nach dem 1. Wunderbaum und dem Suchen, Erreichen und Futtern recht erschöpft und schleppt sich beinahe. Mir fällt dieser Beatles Schlager ein: „ob-la-di, ob-la-da“ und ich singe darauf „kontemplo-kontempla-kontemplieeeeeeeeren“, freu mich dran und trete in einen weichen Hundehaufen und mag mich einfach nicht ärgern. Die Sonne geht unter und später werde ich den Text des Liedes lesen.
Kannte ich nicht. Desmond und Molly Jones nehmens, wies kommt. Nicht schlecht.
Frank Schott, Leipzig
Ich war heute das dritte Mal „Flöhe hüten“. Flöhe hüten nenne ich das Training der ganz Kleinen in meinem alten Fußballverein. Ein Trainerkollege stemmte die an manchen Tagen bis zu dreißig Kinder starke Truppe die letzten Monate alleine. Die Jungs – heute auch mit zwei Mädchen – sind zwischen fünf und neun Jahren alt. In dem Alter wollen sie kurioserweise alle ins Tor, auch wenn sie nur Turniere ohne Torwart spielen.
Manche der älteren sind schon ganz abgezockt am Ball, andere stolpern fast noch darüber. Ständig haben zwei oder drei oder fünf von ihnen Unsinn im Kopf und klettern beispielsweise die Tore hoch, bewerfen sich mit Sand aus der Sprunggrube, schießen ihre kleinen Bälle in die Netze der gesperrten Großfeldtore oder ins Nirgendwo. Hinterlassen Chaos nach jedem Training. Flöhe hüten, halt.
Aber die Kids sind im Grünen. Sie bewegen sich. Sie haben Spaß. Sie übernehmen Verantwortung und bitten nach unglücklichen Fouls um Entschuldigung. So mancher Schnürsenkel muss gebunden, so manches Tränchen getrocknet und so mancher Schmerz oder Schreck weggetröstet werden.
Möchte ich wieder als Trainer anfangen?
Der Rasen weckt Erinnerungen. Epische Siege und Niederlagen mit D-, C- und B-Jugendmannschaften. Gezeter um die nie vollständig wegzukriegenden Maulwurfshügel. Das Erschrecken der Gegner, die das erste Mal ein richtiges Großfeld, groß im Sinne von lang und breit, sehen. Der Notbehelf, wenn kein Schiedsrichter antrat und Trainer das Pfeifen übernehmen.
Will ich all das wieder? Zweimal die Woche? Und jedes Wochenende ein Spiel? Ich weiß es nicht. Aber wie den Kids tut es mir gut im Grünen zu sein und mich zu bewegen. Jetzt ist der Ferien wegen erstmal Osterruhe. Da kann ich mir eine Meinung bilden.
Lore Morr, Parchim
Am Donnerstag waren meine beiden Söhne zu Besuch. Meine Liste der Sachen, die zu erledigen sind, lag schon bereit. Jetzt gehen der Drucker und das Radio wieder und auch die Fernsehsender sind nun alle an ihrem Platz. Weil die Sonne nachmittags beim Fernsehgucken immer so blendet, haben wir im OBI ein Verdunklungsrollo gekauft. Aus dem Gartencenter, das da mit drin ist, habe ich noch ein paar Pflanzen mitgenommen. Alles Bio! Weil es zu kalt und windig war, konnte ich die erst jetzt umtopfen. Ich bin gespannt, ob man einen Unterschied zwischen den Mini- und den Cherrytomaten schmeckt.
Dann waren wir auf dem Friedhof und haben meinem Mann frische Blumen gebracht. Genau ein Jahr ist er nun nicht mehr unter uns. Die alte Schale hatte in der letzten Woche jemand geklaut – bei ganz vielen kam etwas weg! Wer macht denn sowas?!? Nun sieht es an seinem Platz aber wieder schön aus. Um uns herum sangen Vögel, alles war voller Frühblüher und der kleine Frosch spuckt nun nach der Winterpause auch wieder seine Fontäne – das hätte meinem Mann gefallen. Trotzdem war uns Dreien traurig zumute.
Helko Reschitzki, Moabit
Nach dem Frühstück gehts flugs nach Schöneberg zum Flohmarkt „Flowmarkt“. Kurz nach Öffnung bereits ordentlich was los, an den Ständen Privatleute, die meist Kleidung anbieten. Da bin ich nicht Zielgruppe, entdecke aber Knausgårds „So viel Sehnsucht auf so kleiner Fläche. Edvard Munch und seine Bilder“, das ich mitnehme, obendrauf gibts ein nettes Gespräch mit der Verkäuferin. Vom Maler sah ich 2023/2024 zwei fantastische Ausstellungen in Berlin und Potsdam, vom Autor verschlang ich die sechs Bände der Reihe „Min Kamp“ und zuletzt das Anselm-Kiefer-Portrait. Knausgård schreibt auf eine sehr interessante Weise über Kunst – da freue ich mich auf die Lektüre, die schon mal prima losgeht mit einer mäandernden Meditation über Munchs Kohlacker.
Wieder zuhause höre ich beim Abwasch und der Mittagszubereitung das Gespräch von Bastian Barucker mit Prof. Dr. Ullrich, Chefarzt einer sächsischen Klinik, der sachlich von seinem Krankenhausalltag 2019 bis 2023 berichtet – dem Irrsinn der politischen Vorgaben, dem Fehlen von Daten und Interdisziplinarität, dem Ignorieren bewährter Behandlungsprotokolle, der Angst vor dem Jobverlust, wenn man all diese Probleme ansprach … Ein wertvoller Beitrag zur Aufarbeitung der hiesigen Coronamaßnahmenkatastrophe, deren Auswirkungen wir als Gesellschaft noch gar nicht voll erfasst haben.
21° Celsius und Sonnenschein – da kann ich nicht widerstehen und packe das großen Handtuch und die Thermoskanne ein und fahre zum Schlachtensee: Anbaden. Neben mir zwei Männer die justament dasselbe tun. Jeder von uns mit anderer Taktik: Der Jüngere recht forsch ins Wasser, einmal kurz in die Knie und wieder raus. Icke ganz langsam rein und ein paar Minuten drin, inklusive Abtauchen bis zur Brust. Der Ältere wiederum immer wieder hinein und hinaus, nie tiefer als bis zu den Oberschenkeln. Nach dem Rauskommen klettert er in einer vollkommen bizarren Technik auf einen über den See ragenden Ast, um sich dort aufzuwärmen. Dabei klopft er mit den Handinnenflächen seinen Körper ab. Nach ein paar Minuten verlässt er den Baum wieder und schlurft erneut ins Wasser, wobei er jedesmal eine Art Klagegesang anstimmt, der eher an etwas Animalisches als Menschliches erinnert. Warum auch nicht – wir verbinden uns da ja gerade mit dem Element, aus dem einstmals unsere mikroorganistischen Vorfahren kamen. Der Ältere und ich sind uns einig, dass es „noch ganz schön kalt zum Baden ist“ – die Messstelle im Wolfsschluchtkanal, der die Krumme Lanke mit dem Schlachtensee verbindet, vermeldet 11,9°. Nun ja. Umso intensiver einer meiner alljährlichen Höhepunkte: Die erste Tasse Tee nach dem ersten Draußenbad. Die Wärme dringt nicht nur in jeden Fitzel des fröstelnden Körpers, sondern bis in die Urtiefen der Seele.
Während ich trinke, beobachte ich ein Blässhuhn beim Nestbau. Das macht wie mein Mitbader seltsame Geräusche, die in diesem Fall allerdings eher monoton maschinell klingen – nur wenn es von drei Stockentenmännchen und einem -weibchen immer wieder aufs Neue aggressiv angeschwommen wird, wechselt die Ralle zum mir bekannten Blässhuhnsound. Faszinierend.
Auf dem Rückweg treffe ich auf dem S-Bahnhof, durchaus passend zum Palmsonntag, auf sieben Nonnen, von denen eine Nordic-Walking-Stöcke dabei hat. Eine andere erzählt eine offensichtlich sehr komische Story, die sich am Bahnhof Zoo abgespielt hat, leider bin ich zu weit weg, um Genaueres zu verstehen. Selbstverständlich gehe ich näher ran. Nun berichtet eine andere der Damen von einer Klosterkatze, die sich hinter einer Kommode versteckt hatte, so dass „es dort immer nach Katze roch“. Das Einfangen gestaltete sich wohl ziemlich schwierig – leider kam dann die Bahn, so dass ich das Ende der Geschichte verpasste.
Frank Schott, Leipzig
Beim Warmmachen vor dem Laufen habe ich einen bewußten Blick nach links geworfen. Da blühen im Vorgarten zwei unerschrockene Tulpen zwischen den Ästen der Spirea, deren Zweige voll mit weißen Blüten sind. Schneeweißchen und Tulpenrot. Ganz unten lugt, noch etwas unscheinbar, der Schneestolz, die Sternhyazinthe, hervor.
Da ich mir den Leipziger Stadtmarathon mit Rücksicht auf meine erst sechs Wochen zurückliegende Influenza dann doch verkneife, muss ich nicht mit den Kräften haushalten und bin die übliche Runde mit einer Extraschleife gelaufen – acht Kilometer in moderatem Tempo von 10,1 km/h.
Am auffälligsten war die große Ausfahrt der Kajak- und Kanufahrer. Dutzende waren auf dem Elsterflutbett unterwegs. In Zweierpaaren mussten sie nach dem Pfiff eines Trainers in den Spurt gehen, während die nächsten zwei Aufstellung nahmen.
Auf dem Rückweg habe ich im Konsum Parmesan geholt. Nachdem der Efeu zurückgeschnitten war, hatten wir in unserem Garten eine zweite Handvoll Bärlauchblätter geerntet. Diese habe ich mit dem Hartkäse, Basilikumblättern, zwei Knoblauchzehen, Pinienkernen, dem guten griechischem Olivenöl und Pfeffer und Salz zu einer großen Portion Pesto in der Menge von anderthalb handelsüblichen Gläsern püriert. Die wurde von drei Personen in einer einzigen Mahlzeit verzehrt – kann es ein besseres Lob geben?
Helko Reschitzki, Moabit
Der Palmsonntag
Palmsonntagszeremonie der Pfarrgemeinde La Milagrosa in Medellín 2016 (Videostillbearbeitung H.R.)
Die Stadt Jerusalem in der Provinz Judäa steht seit 90 Jahren unter römischer Beatzung. Es herrscht eine angespannte Atmosphäre: Die Römer haben Angst vor Aufständen, da viele der Juden zunehmend unzufrieden sind und zudem einen von Gott Gesandten erwarten, der sie von der Unterdrückung befreien soll. Immer öfter hören sie von den schier unglaublichen Taten eines Wanderpredigers und Wunderheilers aus Nazareth, der auf den Namen Yeshua hört. In ihm sehen sie bald ihren Erlöser und Retter.
Der Prediger Johannes der Täufer kündigt während einer religiösen Zusammenkunft in der Wüste die Ankunft dieses Messias an und ruft die Menschen zur Buße und Umkehr auf, weil das Reich Gottes nah sei. Er bezieht sich dabei auf Prophezeiungen im Alten Testament und all die Taten Yeshuas, die auch ihm zu Ohren gekommen waren.
Es ist Nissan, der erste Monat des Jahres im religiösen jüdischen Kalender – Frühlingszeit. In Jerusalem feiern die Juden Pessach. Die Straßen sind voller Pilger, der Tempel ist belebt wie selten zuvor, der Duft von frischem Matzot und Weihrauch liegt in der Luft. Mitten im Trubel reitet nun Yeschua auf einem jungen Esel durch das Stadttor – genau so, wie es der Prophet Sacharja viele Jahrhunderte zuvor voraussagte.
Im Johannes-Evangelium in der Übersetzung Luthers wird dieser Einzug folgendermaßen geschildert – wobei der Name Jesus aufgrund der griechischen und lateinischen Übersetzungen des Neuen Testaments die im Westen gängige Form von Ýeshua war:
„Am andern Tag, da viel Volk, das zum Fest war, hörte, daß Jesus käme gen Jerusalem, nahmen sie Palmenzweige und gingen ihm entgegen und schrien: Hosianna! Gelobet sei, der da kommt im Namen des Herrn, der König von Israel! Jesus aber fand einen Esel und setzte sich darauf; wie geschrieben steht: Fürchte dich nicht, du Tochter Zion! Siehe, dein König kommt, reitend auf einem Esel.“
(Verse 12 bis 15 aus Martin Luthers erster vollständiger Übersetzung des Neuen Testaments ins Deutsche, das der wittenberger Drucker und Buchhändler Hans Lufft im September 1522 herausbrachte.)
Palmzweige waren im Judentum und in der römischen Kultur ein populäres Symbol, das für Sieg, Ehre und Freude stand. Obwohl die Zweige nur im Johannes-Evangelium (das circa 60-80 Jahre nach der Ermordung Jesu entstand) explizit erwähnt werden, könnte die Darstellung also historisch durchaus zutreffend sein, zumal Markus und Matthäus immerhin von „Zweigen von den Bäumen“ sprechen (während Lukas überhaupt keine Pflanzen oder deren Teile nennt).
Weil die Christen sich weigerten, den Römischen Kaiser als Gott anzuerkennen waren sie in den ersten drei Jahrhunderten nach der Kreuzigung Jesus im Römischen Reich immer wieder Verfolgungen ausgesetzt. Lokale Verwalter, deren Militärbefählshaber und einige der Kaiser verboten ihnen die Feste, ließen Textrollen vernichten, Gläubige töten, Kirchen entweihen und zerstören. Aus diesem Grund war es Christen oft nur nachts in Privathäusern möglich, weiterhin Gottesdienste abzuhalten. Diese Heimlichkeit verstärkte dann das ohnehin vorhandene Misstrauen in der Gesellschaft – so machten Gerüchte über „gefährliche Zeremonien“ wie das „kannibalistische Abendmahl“ die Runde, was die Sitution der Verfolgten nicht gerade vereinfachte.
Die Anerkennung des Christentums durch den römischen Staat war ein langwieriger Prozess. Erst 313 n. Chr. wurde es mit einem Edikt von Kaiser Konstantin I. legalisiert und dann 380 n. Chr. mit dem Edikt von Thessaloniki unter Theodosius I. zur Staatsreligion des Römischen Reiches erhoben. Dies schuf die Grundlage für die Entstehung vieler Feste und des späteren Kirchenjahres.
Einer der ersten dieser neuen Festtage wurde der Palmsonntag: Inspiriert durch das Johannes-Evangelium, bildete sich in Jerusalem der Brauch, mit Palmzweigen in den Händen Loblieder auf Jesus und „Hoshia-na“ („Hilf doch!“) singend vom Ölberg in die Stadt zu ziehen. Die Prozession breitete sich dann im gesamten christlichen Raum aus und wird bis heute in Glaubensgemeinschaften weltweit zelebriert – zu den bekanntesten zählen die Feiern in Sevilla, Rom, San Fernando (Philippinen) und der Region Madre de Dios (Peru).
Die in Jerusalem selbst begangene Ölberg-Prozession war im Laufe der Geschichte immer wieder von Kriegen, Unruhen und Übergriffen betroffen, insbesondere in Zeiten großer Wirren wie der persischen und arabischen Eroberung, der Kreuzzüge oder der Zweiten Intifada (2000 bis 2005). Aufgrund der nicht unberechtigten Angst vor Anschlägen fand der Palmsonntagsaufzug zuletzt nur unter extrem hohen Sicherheitsvorkehrungen statt.
Obwohl ich ein naturreligiös angehauchter Agnostiker bin, der die Kirche als Institution in vielerlei Hinsicht verachtet, beginne ich die Karwoche mit Bachs „Johannes-Passion“, 1954 aufgenommen für Eterna, das Klassiklabel des VEB Deutsche Schallplatten Berlin, mit dem Thomanerchor und dem Gewandhausorchester Leipzig unter Günther Ramin.
Ach, mein Sinn, wo willst du endlich hin, wo soll ich mich erquicken? Bleib ich hier, oder wünsch ich mir Berg und Hügel auf den Rücken?
Im Jahre 1703/04 waren auf Befehl des Herzogs Friedrich Wilhelm im Herzogtum Mecklenburg-Schwerin die Pastoren aufgefordert worden, über ihre Gemeinden zu berichten. Diese Aufzeichnungen über das Kirchspiel (die „Beichtkinderverzeichnisse“) geben ein ziemlich gutes Bild der Bevölkerung und deren Lebensumstände ab.
So liegen uns u.a. umfangreiche Berichte über die Abgaben vor, die die Landbevölkerung in Form von Naturalien an die jeweilige Pfarrei abführen musste. Da die Lieferungen von den einheimischen Feldern stammten, lässt sich sehr gut rekonstruieren, was dort seinerzeit angebaut wurde.
„Die Intraden und Einkünfte bey dieser Benther Pfarre sind folgende. An Meßkorn gibt ein jeder, sowoll Käter als Vollbauer, einen halben Scheffel Rogken.“
An erster Stelle der Abgaben stand der Roggen (auch „Rogken“ oder „Rokken“ genannt), der, was Klima und Boden anbelangt, relativ anspruchslos und von allen Getreidearten gegenüber Winterkälte, Trockenheit und Feuchtigkeit am unempfindlichsten ist. Zudem trocknet Roggenbrot langsamer aus als andere Sorten und bleibt so länger frisch. All das hat dazu geführt, dass er zur Hauptbrotfrucht wurde.
„An Gärsten säet der Pastor so viel, als er ausmisten kann. Vergangen Frühling habe ich 6 Scheffel Gärsten gesäet und 16 Scheffel rauhen und bunten Habern.“
Hafer wurde zwar nur in den klimatisch ungünstigen Gegenden Irlands zu Brot verarbeitet, doch tauchte er in unseren Abgabelisten immer wieder auf, da die schwer arbeitende Landbevölkerung im Mittelalter und der frühen Neuzeit Haferbrei als kraftspendende Morgenmahlzeit zu schätzen wußte. Das Getreide diente außerdem als Pferdefutter.
Mitunter wird auch Rauher Hafer erwähnt. Dieser wurde aufgrund seines Anbaugebietes auch Sandhafer genannt, er gedieh selbst unter solch extremen Bedingungen, in denen der Saathafer keine lohnenden Erträge mehr brachte.
„Mißkorn ist in allem 5 Drömt Rogken, und zu Karbow gibt ein jeder Coßat 1 Viert Haber, macht einen Scheffel, weil 4 Cossaten verhanden.“
Als Coßat wurde ein Kleinbauer bezeichnet, der Abgaben leisten musste. Meist bewirtschafteten Coßaten kleine Parzellen, für die sie in der Regel nicht das vollständige Nutzungsrecht besaßen. Sie hatten bestimmte Rechte und Pflichten und standen quasi in der Mitte zwischen den sogenannten Abhängigen Bauern (Leibeigenen) und den landbesitzenden Freien Bauern.
Aus der ebenso angebauten Wintergerste wurden Graupen, Grütze und Malzkaffee hergestellt, mitunter auch Brot. In einigen Gegenden säten die Bauern zwischen die Gerste Linse. Zusammen geerntet, gedroschen und vermahlen, ergab das ein sehr nahrhaftes Mehl für rauhe, schwere Brote. Darüber hinaus wurde Gerste als Viehfutter verwendet. Die Sommergerste war die Braugerste und fand hier ihre entsprechende Verwendung – was den Frauen oblag, die seinerzeit nicht nur das Brot buken, sondern auch das Bier brauten.
Der Buchweizen ist keine Getreidepflanze, sondern ein einjähriges Knöterichgewächs. Seine mehlhaltigen Früchte sind dreikantig, im Aussehen ähnlich einer Buchecker, woher wohl auch der Name rührt. Aufgrund der stärke- und eiweißreichen Früchte wurde er vornehmlich für die menschliche Ernährung genutzt, vor allem als Grütze. Erst danach folgte seine Verwendung als Viehfutter. Er ist zudem ein geeigneter Gründünger und eine gute Bienenweide – seit einigen Jahren gibt es Ansaaten für Wildäcker, in deren Gemisch er enthalten ist.
Selten wird Weizen als Abgabe genannt. „Aus Wöten 6 ¼ Scheffel Rocken, noch aus Wöten ½ Scheffel Waytzen.“
Andere Abgaben sind: Flachs, Hanf, Bohnen, Erbsen und Kohl. „Was endlich den Ackerbau bey der Spornitzer Pfarre betrifft, so habe ich 2 Hufen Landes, wiewohl davon noch sehr viel im Busch lieget, und kann zum höchsten nicht mehr als 2 Drömt Rocken, 1 Drömt Gersten, 1 Drömt Habern, 3 Scheffel Buchweitzen, 2 Scheffel Erbsen und 1 ½ Gersten, Scheffel Leinsaat aussähen.“
Interessant ist auch ein späteres Dokument aus dem Jahre 1770, das den ersten Hinweis auf den Kartoffelanbau in Wahlstorf enthält, einem kleinen Dorf in Südmecklenburg, dessen Feldmark an die Prignitz grenzt. Zweimal innerhalb kurzer Zeit musste man hier ein Viehsterben erleiden, weswegen sich die Einwohner bittstellend an ihren Herzog wandten und ihm von den Kosten für die Anschaffung neuer Tiere berichteten und mitteilten, dass ihnen durch den Tod des Viehs zudem der Dung fehlt, der den Acker fett macht. Sie verweisen außerdem auf die Folgen des Kriegs (gemeint ist Der Siebenjährige):
„Der unglückseelige Krieg zog uns fast das Hemd aus. Zu unserer Wirtschaft können wir nicht mehr als 30 Scheffel Roggen, 7 Scheffel Malz und zu Grütze 2 Scheffel Hafer und 2 Scheffel Gerste rechnen. Kartoffeln ist unsere meiste Speiseund im Winter trinken wir Wasser dazu.“
Ob der Herzog die fälligen Abgaben stundete oder den Wahlstorfern anderweitig entgegenkam, ist nicht überliefert.
Die zugrundeliegende sowie weiterführende Literatur und andere Quellen können gern beim Autor angefragt werden. (botaniktrommel@posteo.de)
Susanne Kasperowski, Gadebusch
Außenkamera Garten, 23:29:02, 06-04-2025
Bernd Wagner, Kreuzberg
Helko Reschitzki, Moabit
Nachmittagsausflug nach Spandau. Obwohl seit 1920 Groß-Berlin zugeschlagen, würde wahrscheinlich kein Spandauer und Berliner protestieren, wenn man sagt, dass Spandau und Berlin zwei Orte sind. Mich erinnert Spandau ein wenig an Lüneburg, zumindest der verkehrsberuhigte Altstadtkern, nur mit Bürgergeld und Mindesrente statt Beamtengehalt und Pension. Eine mir nicht unangenehme Mischung aus Goldkettchenschrebergärtnern und Ostblock/Arab/Türk-Jogginghosendauerträgern. Dazwischen Leute die arbeiten.
Schlenderrunde: Die Außenbereiche der Cafés und Restaurants sind rappelvoll; Piepel räkeln sich auf Rasen, Bänken und Mäuerchen in der Sonne; der Trinkertrupp an der Sternbergpromenade versucht durch stetige Bierzufuhr die eigene Promillezahl den BPM des träge taumelnd abgefeierten 90er-Jahre-Kirmestechno anzunähern.
Am Ufer der Havel löst sich ein Rätsel auf, dass mich lang schon beschäftigt – hier hat sich also die Heiterkeit versteckt – vielleicht lichtet sie ja mal wieder ihren Anker und macht sich auf den Weg zu all den Trübsalsblasorchestern um uns herum.
Im Kulturhaus sehe ich dann ein paar klasse Werke von Künstlern der düsseldorfer Art-brut-Gruppe „Studio 111“, wobei mir die Bilder „Ananas“ und „Pflaumen“ von Sidney Henning am besten gefallen.
Aus dem Oxfamladen nehme ich ein Buch über das Speziallager der sowjetischen Miltäradministration in Hohenschönhausen mit und aus der Stadtbibliothek eine wundervolle CD der londoner Sopranistin Grace Davidson mit liturgischen Liedern Hildegard von Bingens:
O viridissima virga / O virga viridissima / quae in natura florens / exortus est in aeternum / per quam dulcis redemptio / mundum effulsit
O grünster Zweig / O Zweig, der du der grünste bist / der du blühst in der Natur / in dir ist aufgegangen die Ewigkeit / über dich ist gekommen die süße Erlösung in die Welt
Geschrieben um 1151 im Kloster Rupertsberg, das die Äbtissin ein Jahr vorher gegründet hatte – was perfekt zu diesem herrlichen Frühlingstag in der Spandauer Altstadt passt, welche nur 81 Jahre nachdem das Lied entstand, erstmalig schriftlich erwähnt wurde.
S-Bahnlektüre: Meeses „Ausgewählte Schriften zur Diktatur der Kunst“ (Suhrkamp) = Erzfreude.
Bahnreisen abseits der Schnellstrecken haben nichts Romantisches an sich. Am Sonntag fährt die Regionalbahn der ODEG von Parchim nach Ludwigslust nur so, dass man dort anderthalb Stunden auf den Zug nach Leipzig warten muss. Man könnte nun Trübsal blasend im Bahnhofskiosk bei Dosenbier oder, wenn einem das zu früh ist, bei Kaffee abhängen. Oder man macht sich wie ich auf die Socken und erkundet das Städtchen.
Nach zehn Minuten bin ich bereits am Schlosspark. Etwas irritiert schaue ich auf eine halb umgerissene Absperrung, mit der ich gewarnt werde, den Park zu betreten. Bäume könnten umstürzen. Lebensgefahr. Aber über eine Stunde im Kiosk am Bahnhof zu hocken, ist auch nicht ungefährlich. Vermutlich war die Warnung ein vergessener Rest von den letzten Herbststürmen, denn es sind recht viele Menschen mit und ohne Hund unterwegs.
Im Gegensatz zu den Waldböden in und um Leipzig wächst hier kein Bärlauch, dafür ist der Boden mit den weißen Blüten des schwach giftigen Buschwindröschens (Anemone nemorosa) bedeckt. Der Park selbst ist nicht gerade dicht bewachsen, so dass die Bäume viel Platz haben, um ihre Äste auszubreiten. Manche Baumkronen erinnern mich an Gemälde von Munch, an verwunschene Bäume, die im Nebel mit ihren verwachsenen Ästen nach Kindern haschen. Überall sind kleine Teiche angelegt. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal in diesem Teil des Parks spazieren war, wenn überhaupt. Ich denke, wir hatten nur Augen für das Schloss. Damals, vor fünfzehn oder zwanzig Jahren.
Auch das war mir noch nie aufgefallen: Im Schlosspark steht eine kleine katholische Kirche, ungewöhnlich für den protestantischen Norden. Noch ungewöhnlicher ist, dass Kirchturm und Langhaus baulich getrennt sind. Und das Ungewöhnlichste überhaupt – sie sind nicht nur getrennt, zwischen beiden liegt eine Wasserfläche. Also muss der Glöckner den Gottesdienst früher entweder vorzeitig verlassen oder gleich ganz geschwänzt haben, um rechtzeitig zum Ausläuten im Turm zu sein.
Gegenüber vom Schloss liegt hinter einem künstlichen Wasserfall und einer Gartenfläche die evangelische Kirche. Was mir ebenfalls überhaupt nicht bewusst war: Die Mehrzahl der meist zweistöckigen Gebäude in der Altstadt sind komplett aus roten Ziegeln errichtet. Letztendlich ist die Innenstadt aber von überschaubarer Größe und eine halbe Stunde vor Abfahrt meines Zuges stehe ich dann doch im Bahnhofskiosk. Für einen Becher Kaffee und einen Schokoriegel – die habe ich mir nach dem Rundgang verdient.
Anmerkung des ehemaligen „Glöckners“ Helko Reschitzki: Zu meinen Aufgaben während des Zivildienstes in der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde der St.-Marien-Kirche zu Parchim gehörte es 1990/1991, dafür zu sorgen, dass die Glockenschläge pünktlich erklingen. Meine Enttäuschung war groß, als mir der Pastor bei der Einführung zeigte, wie das vonstatten geht – der gesamte Vorgang war vollautomatisiert, ich mußte lediglich jeden Samstagnachmittag vor dem Abendläuten die Zeitschaltung für die nächsten sieben Tage umstellen, das wars schon. Da kam kein Anthony-Quinn- oder Adriano-Celentano-Feeling auf. Es ist anzunehmen, dass die Ludwigsluster Küster neuerer Zeiten ihren Turm so wie ich nur zur Besucherführung und zum Spinnwebenentfernen betreten und nicht mehr zum manuellen Läuten. Ich werde das mal bei meiner nächsten längeren Zugwartezeit vor Ort erfragen.
Lore Morr, Parchim
Ich war wieder mit meiner Nachbarin unterwegs und habe auf dem Rückweg aus dem Kaufland Schnittlauch, Petersilie und Rosmarin mitgebracht – die frischen Kräuter sind besser als die getrockneten. Der Rosmarin kommt bei mir ins Bratfett vom Fisch, das schmeckt dann richtig gut. Ich werde wohl noch ein paar andere Töpfchen kaufen, vielleicht Minze oder Basilikum, wenn die das beim nächsten Mal da haben. Die Minzblättchen mach ich an das Zitronenwasser für meine Enkelinnen, das mögen die gern, wenn die mich besuchen kommen. In der Erde vom Topf stecken drei Solarlampen, da weiß ich immer nicht, wohin damit – da stören sie keinen.
Frank Schott, Leipzig
Das Klassentreffen in unserer alten Heimatstadt Parchim war überraschend schön. Die meisten waren gekommen, einer ist bereits verstorben. Beim Blick auf die Mitschüler wird mir deutlicher als beim Blick in den Spiegel bewusst, wieviel älter man geworden ist. Die Patina des Vergessens und des Vergangenen hat alle Eifersucht, alle Streitigkeiten, alle Unzulänglichkeiten in versöhnliches Licht getaucht. Erstaunlich auch, wie Rabauken und Chaoten ihren Weg gegangen sind. Das gibt Hoffnung für die höchst verunsicherten eigenen Kinder.
Ich bin noch einmal gelaufen und erneut überrascht, in welch wunderbaren Umgebung ich als Kind aufgewachsen und wie wenig ich mir dessen bewusst war. Heute bin über Slate durch den Wald nach Kiekindemark gejoggt, über den Sonnenberg, und dann die Landstraße entlang zurück nach Parchim. Diesen Weg habe nie zuvor zurückgelegt.
An meinem ehemaligen Kindergarten, jetzt ein Freizeittreff, ging es in den Wald. Interessanterweise ist das bis auf wenige Abschnitte reinen Nadelwalds ein gut gewachsener Mischwald mit vielen Buchen und einigen Birken. Der Borkenkäfer dürfte es hier deutlich schwerer gehabt haben als in Thüringen, wo ganze Landstriche entwaldet wurden. Bekannt ist dieser Forst außerdem für seinen Bestand an alten Douglasien.
Jeder Fußgänger mit oder ohne Hund grüßt mit einem freundlichen Moin. Ein Mann, in den Sechzigern, versucht mit Hammer und Keil einen Baumstumpf zu spalten. In Kiekindemark sind Familien mit Kindern unterwegs und schlendern durch das Dorf.
Über die mit Birken begrenzte Landstraße weht ein eisiger Wind. Menschen- und fahrzeugleer ist der Abschnitt. Ganze fünf Autos und ein Motorrad kommen mir entgegen oder überholen mich. Zurück in der Weststadt begrüßt mich eine über siebzigjährige Frau mit Rollator, indem sie den linken Daumen nach oben streckt.
Heimatgefühle.
Helko Reschitzki, Moabit
Als wir vor einem Monat hier im Fritz-Schloß-Park Müll sammelten, begegnete uns überraschenderweise eine andere Anwohnergruppe, die ganz in der Nähe sauber machte. Heute startete deren nächste Aktion – ich schaute mal vorbei.
Sonntagvormittag, 4° Celsius, aber mit wärmender Sonne, ca. 20 Leute vor Ort, Familien mit vielen jungen Kindern, man kennt sich aus diversen Eltern- und Kitagruppen und einer Kirchgemeinde. Ich frage in die Runde, ob man (Um Himmels Willen!) doch wohl nicht gerade den Gottesdienst schwänze – nein, dieser ist nur alle vier Wochen, heute ist frei. Amen. Da wir die brütenden Vögel nicht stören wollen, meiden wir deren Plätze, also vor allem die Parks und großen Hecken und arbeiten uns stattdessen in der Umgebung der Claire-Waldoff-Promenade von Spielplatz zu Spielplatz – im Spirit der wundervollen Chansoniere und mit Gottes Segen (?) gehts los.
Wie zu erwarten, füllen sich hurtig die Säcke – diese, die Westen, Handschuhe, Greifer und Besen für Groß und Klein, stellte (wie auch neulich bei uns) die Berliner Stadtreinigung. Wer öfter sammelt, darf das alles behalten – pragmatisch kurze Wege, unbürokratisch und professionell, ja, auch dit jibts in Berlin. Nach anderthalb Stunden ist wegen der Kinder Schluss – die Erzeuger wissen genau, wann eine gute Stimmung ins Gegenteil kippen kann. An alles war gedacht: Vor dem gemeinsamen Picknick auf einem der Spielplätze, wurden Seife und Wasserkanister hervorgeholt, so dass wir die Hände waschen konnten, es geht langsam auf Ostern zu, da denken gläubige Mamas und Papas selbstverständlich an so etwas (am Gründonnerstag sind dann die Füße dran). Und hygienisch ist es natürlich auch.
Eine gute Truppe, die die Entspanntheit derer ausstrahlt, die einfach mal privat loslegen – kein Verein, der von staatlichen Fördergeldern lebt und dadurch sein gesammtes Handeln unter Legitimations- und Abrechnungsaspekten organisieren muss, was oft zu Nervosität und gegenseitiger Kontrolle führt, weil man in der ständigen Angst lebt, irgendetwas „falsch zu machen“, so dass die Projektkohleverteiler verärgert sein könnten und demzufolge die Finanzierung ausbleibt. (Die Frage, die ich mir dabei stelle: Wann ging das eigentlich los, dass man der festen Überzeugung war, dass einem der Steuerzahler solche Aktionen – inklusive „Aufwandsentschädigung“ – finanzieren solle …) Aber umso schöner, dass Ehrenamt und Altruismus ja nach wie vor weiterleben – sie werden dringender gebraucht denn je.
Nette Wiederbegegnung am Rande: Wie schon vor vier Wochen taucht urplötzlich aus einem der Gebüsche der auf, den alle, die von seiner Existenz wissen, nur „Parkranger“ nennen – ein junger Mann, der sich unter Radar um die Hege und Pflege der Gehölze in seinem Areal kümmert. Ab und an sät oder pflanzt er etwas, was das Grünflächen- oder Ordnungsamt mal rausreißt und mal nicht, er weiß, dass das zum Katz- und Mausspiel dazugehört. Insgesamt sind die Amtsleute aber freundlich zu ihm, wenn man sich mal in die Arme läuft. Da Ranger unter starker Dauermedikation steht, kann er nur ein wenig mitsammeln, was er bedauert. Ich habe etwas Saatgut einstecken, das ich ihm schenke, worüber er sich freut – in bessere Hände konnte das nicht gelangen. Wie gut, dass es an den Rändern unserer Normalitätskulissen solche Menschen gibt.
Frank Schott, Leipzig
Freitag auf dem Weg nach Parchim, Anlass ist unser Klassentreffen zum vierzigjährigen Jugendweihejubiläum. Eigentlich eine hübsche, weil unübliche Idee. Der Bahnhof in Ludwigslust ist weiterhin eine Baustelle, aber ein Kiosk ist geöffnet. Dann riecht es überraschend nach Wald, weil auf dem benachbarten Gleis ein Zug mit Anhängern voller Holz halten muss. Es duftet nach Harz und Sägespänen, der Geruch hält sich auch noch einen Moment, nachdem der Güterzug seine Fahrt fortgesetzt hat.
In Parchim angekommen, muss ich mich erstmal vom langen Sitzen erholen und laufe eine Runde. Von der Weststadt, die in meiner Jugend jeder nur als „Weschstadt“ aussprach, geht es nach Slate. Hin den von Waldfahrzeugen arg mitgenommen Waldweg an der Elde entlang, zurück auf dem asphaltierten Radweg. Als Kinder waren wir hier am Wochenende oft wandern. In jeder eiszeitlichen Senke vermuteten wir den Eingang zu einer geheimen Räuberhöhle mit sagenhaften Schätzen. Heute würden mich die meisten Kinder vermutlich für verrückt halten, ins drei Kilometer entfernte Slate zu laufen. Der Waldweg sieht arg herbstlich aus, es sind kaum grüne Spitzen zu entdecken.
Die Brücke, über die früher russische Panzer rollten, gibt es nicht mehr. Die gesamte, mit Kopfsteinen gepflasterte Straße ist weg. Stattdessen verläuft hier über eine schmale Brücke für Wanderer und Radfahrer ein asphaltierter Weg bis zur Kastanienallee. Das waren damals ein paar Häuser direkt an Wald und Feld grenzend, im Dunkeln selbst für Kinder der Kleinstadt gruselig. Jetzt ist der ganze Bereich zwischen Kastanienallee und Südring mit Einfamilienhäusern und deren Gärten belegt.
Ich laufe weiter durch das Buchholz, ein Wald, der sich auf der anderen Seite der Elde zwischen Parchim und Slate erstreckt. Die Freilichtbühne steht noch, robuster Stahlbeton aus der DDR, wo wir als Schulkinder nach dem Winter immer das Laub vom Vorjahr beseitigen mussten. Jetzt ist der ganze Bereich tot und verlassen. Aber damals, besonders zu Feiertagen, war das hier ein beliebtes Ausflugsziel.
Nach gut einer Stunde und knapp elf Kilometern bin ich fertig. Wie sehr sich selbst eine mecklenburgische Kleinstadt in 35 Jahren verändert, sieht man deutlichsten, wenn man sie erläuft.
Christoph Sanders, Thalheim
Körper wieder bei 95 Prozent; Luft kristallklar, weiter frühlingswarm. Reisevorbereitungen: Morgen mit Ostströmung Richtung Süden zum kleinen, zuwendungsbedürftigen Familienhäuschen in Frankreich, wo mich ein anderer Garten erwartet, andere Vögel (Wiedehopf und Lämmergeier). Kein Internet – aber die Kinder laden schon Filme aufs iPad. Ich packe Bücher ein. (Poth: toller Fund!) Der große Sohn bleibt hier und will fürs Abitur lernen. Er wird Kaninchen füttern und über seinen Ernährungsplan nachdenken – ich sehe, wie er immer mal wieder anfängt, Proteine zu essen oder Rote-Beete-Smoothies zu trinken. Hintergrund sind Influencer, die nicht Papa heißen … Vermutlich bekommen wir deshalb in dieser Saison pausenlos und günstig abgekochte Bio-Rote-Bete in die Supermärkte geliefert. Mir solls recht sein, ich mag diese sehr pigmentierte Rübe.
Auf dem blauen Rad den Berg hinauf, letztes Totbakterienmaterial absondern. Am Tonzug freie Sicht aufs Graffiti: IL SOLDATO CHE NON DORME PIÙ = Der Soldat, der nicht mehr schläft. Ich denke beim Abspulen der Kilometer an die gerade stattfindende Aufteilung der Ukraine, was dem Kongo-Konflikt ähnlich sein dürfte: Am Ende postierst Du wie im Mittelalter Garden an die Tore der Goldmine und auf den Höhenzügen … Die gewünschte Hühnerbrust vom Fleischer geholt. Letzter Schultag, heitere Kinder.
Früher Abend, eine verborgene Ligeti-CD taucht wieder auf, die letzte Wäsche trocknet. Mit der Jüngsten über die verschiedenen Stile ihrer Lehrer geredet. Von meinen Kindern ist sie die, die am meisten lernen und wissen will, einfach aus Neugier. Nun noch die andere Tochter von einer Party abholen. Heute war ein großer Tag für die wilden Kirschen.
Frank Schott, Leipzig
Heute von zuhause aus gearbeitet, um nicht abgelenkt zu werden. Ich nutze die Sonne, um mit meinem Brötchen auf die Faustein paar Schritte durch den Park zu gehen. Beim Jogging hatte ich blaue Farbtupfer entdeckt, die mir so gar nicht nach Krokus aussahen.
Eine Gruppe Ersthelfer schaut drei Ausbildern über die Schultern, die einem vermeintlich Verletzten gut zusprechen und ihn dabei versorgen. Nicht einfach, wenn der Park so viel Ablenkung bietet. Und dann meine Blumen. Schlauer durch eine App finde ich auch den Namen: es ist die dunkle Sternhyazinthe. Und dahinter leuchten die Osterglocken.
Christoph Sanders, Thalheim
Coltrane und Monk 1957. Danach Besorgungen im Städtchen an der Lahn. Ich überlege, beim Syrer ein iPhone zu kaufen. Oder lieber warten, bis das Preisschild sich ändert? Was braucht man wirklich? Heute oder in zwei Jahren? Keiner weiß es, keiner wirds Dir sagen.
Noch einmal Blumenkohl; mal sehen wer zugreift – der Winter ist vorbei. Nach der Küchenarbeit ein Nickerchen im Garten, während der Tulpenbaum alle 2000300040555 Blüten öffnet. Die Sonne sinkt langsam in die Kelche hinein, ringsum Balzgesänge, die ihren Sinn erfüllen werden: Reproduktion.
Meese bei Marinic (arte) mit kühnen und sehr richtigen Verweisen, neue Zusammenhänge bildend. Die Sprünge gefallen mir und lösen Denkprozesse aus. Schön die Vollverachtung für die Differenzen der Politik. Seine Buchauswahl ist grandios, er hat die Nazi-Härte richtig interpretiert – man kommt aber mit soft power möglicherweise zu gleichen Ergebnissen. So funktioniert ja unsere Gleichschaltung, die Denkverbots- und Anpasungsmaschine. Meeses herrlich positive, aktive Zukunftssehnsucht … und dann die John-Sinclair-Stapel … Große Klasse!
René Schwettge, Lehnitz
in umbris veritas
Es ist warm, nur eine Gruppe freundlicher nordic walking Damen begegnet uns, schwatzen fröhlich an uns vorbei und stören nicht. Es ist ca. 6, die Schattenwerden länger. Zwischen den Bäumen werfen Spinnen ihre Haltestrippen. Ab und zu schon halbfertige Netze. Nur in diesem Licht sichtbar, wie Lichtschranken im Nebel. Im Herbst nennt man diese Künstlerinnen alte Weiber. Emma trottet neben ihrer Schattenfreundin, die viel grösser als sie ist und irgendwie nach Urtier aussieht, mit Sattel. Glücklicherweise hab ich Emma dabei, sonst … Am Wegesrand hat man Bäume umgesägt. Birkenstumpf schwitzt noch immer und die untergehende Sonne spiegelt sich darin. Auf 1 Forststrasse auf dem mittigen Streifen Gras, hat eine Wühlmaus oder ein Maulwurf eine kleine Hügelkette errichtet. Der Raum ist gross heute abend und im Panorama die Vögel. Links eine Amsel, leicht rechts Meisen. In das Vogelhaus ist ein Rotkehlchen gezogen. Friedlich alles. Irgendwann kann ich gut schlafen.
Christoph Sanders, Thalheim
Frisur frisch gekürzt. Weiterhin Ligeti. Nach dem Mittag (Tortelloni, Hering, Zucchini und Gurke) zum ersten Mal nach der Infektpause aufs Rad, ich wähle das schlehenweiße. Rast unterm Wunderbaum, dessen zart duftenden Blüten von tausenden Bienen angeflogen werden. Das Summen, das den Frühling einleitet, wird verstärkt durch den Moment, in dem Dir alles wieder zuspricht, weil die Krankheit fast überstanden ist … (Die Autopendler in Sichtweite können Auge und Ohr dabei locker wegfiltern.) Danach Herd und Wäsche – in drei Tagen beginnen die Osterferien. Bücherzellenfund: ein kleines über Käfer, ein schülerkompatibles Handwörterbuch Englisch von Langenscheid sowie „Berlin-Moskau Moskau-Berlin 1900-1950“, der Schinken, der anlässlich der „Deutsch-Russischen Kulturbegegnungen 2003/2004“ herauskam.
Im Deutschlandfunk eine halbe Stunde zum Pflichtjahr, wobei die Durchmischungserfahrung sozialer Schichten herausgestellt wird. Haha, was für eine grauenhafte Bande von Heuchlern! Dabei hab ich nichts gegen ein Freiwilliges Soziales Jahr, das man dann auch gern gut bezahlen darf … Und absolut faszinierend, welche Pokertricks über die ukrainische Halbleiche hinweg stattfinden. Sieht man in den Straßen eigentlich noch die UKR-Flaggen wehen? Und wo sind all die umsonst gehäkelten blaugelben Topflappen abgeblieben?
Das Durchschlagen der Rohstoffpreise auf den Kakao hat nun auch meine 81%-Edelbitter erwischt. Am Jahresende 119 Cent, heute auf 189. Seitdem die Preisanzeigen digital sind, bekommt das Personal die Änderungen gar nicht mehr mit. Während wir durch den Laden streifen, kann sich wie an der Tankstelle der Betrag ändern. Nicht mehr lange und wir werden antizyklisch einkaufen, am besten am frühen Nachmittag, wenn alle arbeiten oder satt in der Matte liegen, und unsere Vorräte am 27./28./29. des Monats anlegen, wenn die Supermärkte leer sind – die Börse für jedermann. Der Bautrupp wird trotzdem weiterhin um 18:30 Uhr Redbull, Vodka und TK-Sachen kaufen. Und nicht nur der, auch der mittelalte Alkoholiker mit leicht rosig glänzender Haut vor mir hat lang schon aufgehört zu rechnen.
Was bleibt und zählt: Endlich wieder den Berg hinaufkommen und den Rhythmus finden. Die Schlehen wilder Birnen, die jetzt überall aufgehen und ihre Bienenvölker anziehen. Die Leberblümchen am Bahndamm. Das leise Rad. Dieser verdammte Infekt, der rausfliegt.
Frank Schott, Leipzig
Heute wieder eine Runde gelaufen. Fühlt sich so Long Covid an? Körper und Kondition wirken, als hätte ich Jahre lang nicht trainiert. Die Beine schleppen den Körper voran. Selbst wenn ich wollte, ich könnte nicht schneller laufen. Zumindest tut nicht mehr so viel weh. Ein Seitenstechen (Seitenstechen? Wann hatte ich jenseits der Pubertät jemals Seitenstechen?) kündigt sich an, bleibt dann aber doch aus. Wahrscheinlich zu demotiviert.
Ich bin heute einige Meter mehr gelaufen als am Sonntag. Ich wollte den Baufortschritt am Trafowerk anschauen, wo seit ca. einem Jahr gebuddelt wurde. Ah, die Baugruben sind zu, ein Teil des Weges ist noch abgesperrt, wird aber schon wiederhergerichtet. Auch sonst tut sich einiges: Der neue Großfeldplatz vom SV Schleußig hat schon seine Laufbahn, die Ballfangnetze sind hinter dem Tor angebracht. Nur an der Weitsprunggrube muss noch gearbeitet werden. Es ist viel passiert in den vergangenen fast sieben Wochen.
Trotz russischer Bärlauchzwiebeldiebesbanden ist der Waldboden ein Meer von Bärlauch. Außer an den Stellen, wo Totholz liegt, ist alles grün. Die ersten Blütenstengel ragen empor. Es riecht bereits zart zwiebelig. Am Inselteich und den benachbarten Freiflächen wurde die Erde umgegraben. Die Stadtgärtnerei bereitet offenbar die Bepflanzung vor. Auf dem Elsterflutbett paddeln Kanuten, angebrüllt von Trainern, die mit Elektroboot hinterher oder dem Elektrofahrrad nebenher fahren. An der Pferderennbahn ist für dieses Wochenende ein Flohmarkt angekündigt. Die Spielplätze sind voll tobender und jauchzender Kinder. Auf der Sachsenbrücke tummeln sich Goethes „geputzte Menschen“, das bunte Gewimmel, das sich heute so gern sonnt. Zwei Eiswagen auf beiden Seiten der Straße sorgen fürs leibliche Wohl.
Frühlingsduft, Frühlingsgetümmel, Frühlingsgrün. Ich schleppe mich nach Hause. Diesmal nicht stolz, sondern nur froh, dass ich es geschafft habe. Aber: 350 Meter mehr und eine Minute weniger als am Sonntag!
Vielleicht geht es doch voran und ich brauche nur Geduld.
Lore Morr, Parchim
Pflanzengroßeinkauf im OBI! Eine Nachbarin fuhr mich hin. Nun sieht der Balkon richtig gut aus. Ich habe auch schon die erste Dekoration für Ostern aufgehängt, das ist ja gar nicht mehr so lange hin. Mein Nachbar Walter hatte mir aus dem Wald einen schönen Birkenstrauß mitgebracht, an dem hängen jetzt die ersten Eier. Die sind nur aus Plastik, aber das ist mir egal. Die gelben Stiefmütterchen pflanz ich in vier Wochen vors Haus, das mach ich jedes Jahr so – ab Mai gibts auf dem Balkon nur rote Blüten, bei mir muss das immer alles Ton in Ton sein, auch in der Wohnung.
Am nächsten Tag bin ich mit der Nachbarin ins Kino zum Bob-Dylan-Film gegangen. Ich bin total begeistert! An einigen Stellen hätte ich fast geweint, so gut war das. Die Szenen, in denen Bob Dylan den alten Folksänger Woody im Krankenhaus besucht und der ihm seine Mundharmonika schenkt. Dann die ganzen schönen Lieder! Und zum Glück endlich einmal mit Untertiteln, sogar großen! So können wir Alten das auch verstehen, wir hatten ja damals kein Englisch in der Schule, das ist ja nicht wie heute, wo das alle können. Die Kuba-Krise, der Mord an Kennedy und der Kalte Krieg kamen auch vor, so dass ich zu meiner Bekannten gesagt habe: Siehst du, damals war auch nicht alles gut, ganz im Gegenteil! Davon wollte sie aber nichts hören, sie findet, so schlimm wie heute war es noch nie. Das stimmt aber nicht! Fast alle, die ich kenne, haben jetzt auch Angst, dass die Russen Deutschland angreifen – so ein Quatsch, was sollen die denn hier? Die haben genug Land und Bodenschätze, bei uns ist nichts zu holen. Und wenn es zum Krieg kommen sollte, was ich nicht glaube, werfen die sowieso eine Atombombe, dann ist Ruhe. Mit Panzern kommen die nicht, dazu müssten die erst durch Polen, die sind doch nicht so blöd und greifen die NATO an! Aber das glaubt mir keiner, manche fangen sogar schon wieder an, Lebensmittel zu horten. Ich sag dazu nichts. Am Besten, man spricht überhaupt nicht mehr über Politik, da regt man sich doch nur auf und zankt am Ende. Der Bob-Dylan-Film und die Musik nehmen mich jedenfalls auch noch nach Tagen in Beschlag. Man hat auch gar nicht gemerkt, dass der so lang ist. Vielleicht schau ich ihn mir sogar ein zweites Mal an.
Christoph Sanders, Thalheim
Ungemütliche Nacht. Mit dumpfem Kopfschmerz und laufender Nase in den Tag. Passiert mir ja nicht so oft, darum eine Privatkatstrophe. Nach dem Thymian-Honig-Salbei-Aufguss das Koffein viel zu stark. Windig, eine Mönchsgrasmücke in der Pflaume. Fenster gekippt: da kam sie, die bekannte Strophe. Den Sohn zur Bahn auf den Weg in seine letzte Schulwoche gebracht. Unser Teenie geht nur für die Chemieklausur raus und danach wieder sofort ins Bett. Der Prunus mit den ersten Blüten.
Seit 7 Uhr schießt die Wehrbeauftragte zurück: Man solle bitte Fragebögen verschicken, für eine Grundgesetzänderung sei es nun zu spät. Es gebe einerseits keinen Zwang, andererseits aber doch. Steuergelder, die in tote Zeit verwandelt werden. Mit der Wehrpflicht hat die Öffentlichkeit jetzt einen Aufreger – aber hej, ist doch schön, wenn wir alle das Stöckchen auffangen. Absolut niemand spricht über die Kosten für ein stehendes Freiwilligenheer, während die Krankenversicherungen abschmieren und Personalmängel das Thema Nummer 1 im Gesundheitssektor sind. Sie werden viel eher eine allgemeines Dienstjahr entwerfen, weil ihnen überall die Leute fehlen. Über die damit verbundene sinnvolle Integration der legalen Migranten redet auch niemand. Angst machen ist halt viel einfacher. Manchmal komme ich mir vor, als höre ich Botschaften aus einer Traumgesellschaft.
Der erste Apriltag mit kühler Sonne und typischen Himmelsfarben zwischen leuchtblau und schiefergrau – meine Lieblingswolken. Unter Null, aber so, dass die Blüten am großen Tulpenbaum nicht abfrieren. Rosane Zierkirschen und Pflaumenarten. Die Nase läuft, ich niese. Der nächste Pai Mu Tan mit Salbei und Honig. Einkauf am Monatsersten, heute gehts los mit der Schlangenbildung. Mittags Rote Bete und Potatoes.
De Saint-Exupéry, der sich in „Pilote de guerre“ an seine letzten Schultage erinnert, das Ungewisse, das vor einem liegt, während man noch in der Wärme des Brutkastens mit Zirkel und Lineal die Gleichungen löst … Stilistisch gut, nicht allzu lang. Als die Ruder seines Aufklärers immer stärker einfrieren, eine ausgezeichnete Meditation über die Mensch-Maschine. Vorboten des space age.
Idil Biret mit Ligetis Etüden 1 & 2 für Klavier: Sehr gut aufgenommen, sehr gut gespielt, Rhythmusgefühl und Klarheit. Nicht zu viel Hall, das schöne Cover von Nicolas De Staël. COOL.
Gelungenes Salatmenu am Abend – der Nachwuchs war äußerst zufrieden, die Dame des Hauses hat Chorprobe. Nun langsam die Schlafkurve. Nicht ganz gesund, aber es wird. Regeneration.
Helko Reschitzki, Moabit
Monatsspreu 03/2025
Mein Versuch, am 29. März am richtigen Platz und zur rechten Zeit die angekündigte Teilsonnenfinsternis zu beobachten, schlägt fehl. Ich frage am nächsten Tag ein KI-Programm was da los war – der Robot: „Es tut mir leid, aber die partielle Sonnenfinsternis fand nicht gestern statt. Es war am 29. März 2025, was in der Zukunft liegt.“ Eine Maschine, die sich dumm stellt. Back to the future.
Stoße zufällig auf ein neuköllner Unternehmen, das seit drei Jahren „Reerdigungen“ anbietet. Dabei wird der Leichnam in einen Kokon aus Metall gelegt, in dem sich bereits ein Bett aus Heu, Stroh und Luzernen befindet, dazu kommt Pflanzenkohle. Dieses Behältnis wird nun für vierzig Tage verschlossen und mit Sauerstoff versorgt. Mikroorganismen sorgen dafür, dass sich der Körper zersetzt. Zur gleichmäßigen Verteilung des entstehenden Leichenwassers wird der Kokon hin und her gewiegt. Durch die bio-chemischen Prozesse bleibt am Ende vom Toten humusartige Erde übrig. Diese kann nun bestattet werden. Das ist in Deutschland bislang nur in Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Hamburg möglich, die Reerdigung selbst ist nur in SH zugelassen. Faszinierende Technik.
Die Berliner Senatsverwaltung für Mobilität, Verkehr, Klimaschutz und Umwelt teilt mit, dass sie 1,8 Millionen Glasaale in Oberhavel, Unterhavel, Spree und Dahme verteilt hat. Die jeweils ca. 0,3 Gramm schweren Jungtiere wurden in französischen Flussmündungen zum Atlantik gefangen und von dort direkt nach Berlin gebracht. Würde dazu gern mal die Verträge mit den Franzosen lesen. Gut zu wissen: „Der Fang, die vorübergehende Aufbewahrung und der Transport der Glasaale sind nachhaltig erfolgt und entsprechend zertifiziert.“
Lese in einer etwas älteren Ausgabe des Spiegel ein Interview mit Prof. Beate Kampmann, der Direktorin des Instituts für Internationale Gesundheit der Charité, die über den Ebolaausbruch in Uganda berichtet. Die Journalistin fragt auch nach dem WHO-Austritt der USA. Kampmann sagt, dass sich die Weltgesundheitsorganisation bereits auf das von dort fehlende Geld eingestellt hätte und nach zusätzlichen und alternativen Finanziers suche. Dabei würde sich auf neue Partnerschaften konzentriert, etwa mit den BRICS-Staaten. Hochinteressant! Neben den namensgebenden Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika gehören seit 2024 Äthiopien, Ägypten, die Vereinigten Arabische Emirate und der Iran zum Bündnis, Saudi-Arabien wird wohl auch in naher Zukunft beitreten, weitere neun Länder sind offizielle Partner, 29 an einem Beitritt interessiert. Da verschieben sich gerade gewaltig die Machtverhältnisse.
Wenn ich mich länger im hinteren Raum meiner Bibliothek aufhalte, spüre ich den darüber liegenden Mobilfunkmast als Kribbeln im Bein bis hin zum Fast-Krampf. Von manchen Smartphones merke ich am Hals den Takt des Funksignaltakts. Was das für uns alle (auch die, die es nicht merken) auf Dauer bedeutet, wissen wir nicht. Vieles, was einstmals euphorisch begrüßt wurde und als ungefährlich galt, wird heute komplett anders bewertet – man denke an Lobotomien, radioaktive Kosmetika, Schokolade und Trinkkuren, an Contergan, Asbest, Bleifarben, DDT, Thalidomid, Fen-Phen, Mikroplastik usw.
„Hört man das erste Mal den Kuckuck rufen oder die Frösche quaken, muß man sich nackt mit dem Rücken auf die Erde legen, damit man das Jahr über keine Rückenschmerzen bekommt. Ein Messer darf nicht mit der Schneide nach oben auf dem Tisch liegen, sonst schläft man nicht gut. Das ist der Grund. Warzen heißen Leichendorne. Man entfernt sie, indem man in einen Faden so viele Knoten schlägt, wie man Warzen hat, und ihn unter dem Schweine- oder Ferkeltrog, unter der Dachtraufe oder an der Nordseite des Hauses vergräbt.“ Guntram Vesper, aus „Kriegerdenkmal ganz hinten“, Carl Hanser Verlag, 1970.
Christoph Sanders, Thalheim
Der Moment in die aktuellere Phonewelt zu gehen, ist gekommen. Leider. Mit Hilfe meines Teenies entdeckt, dass ich seit 2010 (!) einen Insta-Account habe. Der ist jetzt wieder aktiviert, damit ich bei anderen Instas reinsehen kann. Ich mach da nichts und belasse es bei WordPress, wo es fast nur Qualität als Resonanz gibt, zudem scheinen Blogs inzwischen marignalisiert und für Attacken und Spam nicht mehr relevant, eine digitale Nische. Mühsames Gewürge zwischen dem alten iPhone 5, wo es ein disfunktionales iCloud-Mail-Konto gab, und meinen zwei anderen Mails. (Sinvoll geblieben: Fürs offizielle Netz die AOL- und bei Vertrauen die Posteo-Adresse.) Mir wird schwindlig. Mal sehen, was für ein Zeit/Raum/Traumfresser das wird. (Wo bleibt die Muse dabei, der Humor, das Spiel – die ich eben bei Tisch erleben konnte …) Die Mobilgeräte laden. Eins ist sicher: Wir brauchen immer mehr Strom Strom Strom – wie die Roboter in allen Sci-fi-Filmen. Aber Kubrick hats erkannt: Am Ende geht es um die Selbstermächtigung, HAL den Stecker zu ziehen … Und da vertraue ich ganz auf die primäre Energie des homo sapiens – den Überlebensinstikt, den Selbstbehauptungstrieb.
Sauerstofftherapie. Ganz kurz die Luft prüfen, am Weg harken.
Der Yamaha-CD-Player steht wie der Fels in der digitalen Brandung und lässt mich an der Einspielung des großartigen KV365 durch die beiden Ungarn Zoltán Kocsis und Dezső Ránki teilhaben.
Susanne Kasperowski, Gadebusch
Außenkamera Garten, 04:24:46, 28-03-2025
Frank Schott, Leipzig
Das erste Mal seit drei Wochen wieder gejoggt. Kurz vor halb 10 Uhr neuer, halb 9 Uhr alter Zeit. Es musste sein, auch wenn Husten und Schnupfen noch immer nicht ganz weg sind – sechs Wochen dem Ausbruch der Influenza bei mir.
Am Ende war die kleine Auwaldrunde doch fast 6 Kilometer lang – die Macht der Gewohnheit – und anstrengend. Viel Neues und viel Altbekanntes auf meiner Strecke. In allen Schrebergärten blüht die Forsythie und setzt gelbe Farbtupfer. Zehn Kanuten verfolgt vom Trainer im Elektroboot streben das Elsterflutbett empor. Jemand hat endlich die abgerissenen Wahlplakate aus dem Wald entfernt. Die Bethanienkirche in der Stieglitzstraße ruft die Christen zum Gebet. Der Bärlauch bedeckt den gesamten Waldboden.
Beim SV Schleußig spielt die D-Jugend. Trainer brüllen Trainersätze: „Mehr Druck… Aufrücken… Zentrum dichtmachen… Nicht anlaufen …“ Die von den Fußballkids gehört, für einen Moment befolgt und in der Hitze des Spiels innerhalb von Sekunden vergessen sind. Ich erinnere mich. Das Einzige, was wirklich nachhaltig ist und länger als einige Augenblicke wirkt: Du musst einen Spieler namentlich aufrufen und konkrete Anweisungen geben. Alles andere ist Trainerfolklore. So wie das „Jeder hat einen“ des Torwarts bei der Ecke. Da fällt mir ein: Ich habe diese Woche meinen früheren Trainerkollegen getroffen. Ihn hat die Fußballlust wieder gepackt. Er trainiert jetzt die Bambinis, die nicht mehr mannschaftsweise, sondern 3 gegen 3 spielen. „Das fetzt“, hatte er gemeint und mich eingeladen zuzuschauen.
Ein Hund jagt einem Gummiball nach. Eine Mischung mit vermutlich 50 Prozent Terrier. Der Schwanz wedelt vor Aufregung nach links und rechts wie ein Scheibenwischer bei Starkregen. Raus aus dem Wald, am Spielplatz auf die Straße zurück. Ein ehemals knallgelber, jetzt verwaschen senffarbener Trabant tuckert vorbei. Das H auf dem Nummernschild erspart die grüne Plakette der Umweltzone.
37:50 Minuten. Die Zeit zählt heute nicht. Aber es ist unglaublich, was vor der Hüfte abwärts alles weh tut. Ich bin total aus der Form. Ich hatte nach meinem privaten Halbmarathon im Winter damit geliebäugelt auf der Halbdistanz am Leipzig Marathon teilzunehmen. Doch der ist bereits in zwei Wochen. Dann vielleicht im nächsten Jahr. Solange es mir gut genug geht, wieder regelmäßiger zu laufen, passt es schon.
Und wir haben gestern Bärlauch-Butter gemacht – mit dem eigenen Bärlauch aus dem kleinen Hochbeet. Zwei Pflanzen waren es vor etwa sechs Jahren. Jetzt ist ein Drittel des Beets damit bedeckt – genug zum Ernten.
Nachdem vor einiger Zeit eine Auswertung von Visitationsberichten der Pastoren in Mecklenburg erfolgte, soll hier beschrieben werden, welche Rolle Holz und Forst im Lübzer Stadtreglement von 1761 spielten. Es geht dabei um Aussagen, die sich direkt oder indirekt auf den Wald beziehen und für das Verständnis der Entstehung unserer gegenwärtigen Kulturlandschaft unerlässlich sind. Wenn man heute über die vorratspflegliche Nutzung von Naturressourcen debattiert, kann man feststellen, dass man dazu in Lübz bereits vor über 260 Jahren kluge Gedanken verbindlich festhielt. Die kleine Brauereistadt an der Elde gehört seit 1990 wieder zum neuerlich gegründeten Land Mecklenburg-Vorpommern – zum Vergleich zu den historischen Auszügen vorab einige Kernsätze des dortigen Landeswaldgesetzes (LWaldG, 2011):
– Der Wald prägt in Mecklenburg-Vorpommern die Landschaft und gehört zu den Naturreichtümern des Landes.
– Er ist unverzichtbare natürliche Lebensgrundlage der Menschen.
– Wald ist wegen seines wirtschaftlichen Nutzens (Nutzfunktion) zu erhalten und zu mehren.
– Der Waldbesitzer ist verpflichtet, seinen Wald im Rahmen der Zweckbestimmung nach anerkannten forstlichen Grundsätzen so zu bewirtschaften und zu pflegen, dass die Nutzfunktion unter Berücksichtigung der langfristigen Wachstumszeiträume stetig und auf Dauer erbracht wird.
– Wald ist ein nachwachsender Rohstoff.
Dieses Nachhaltigkeitsprinzip geht auf Hans Carl von Carlowitz zurück, der es 1713 so beschrieb: Es darf nicht mehr Holz gefällt werden, als jeweils nachwachsen kann.
Das „Reglement für die Stadt Lübz“ mit seinen 156 Artikeln wurde 1761 durch Friedrich, von Gottes Gnaden Herzog zu Mecklenburg genehmigt, autorisiert und bestätigt. Damit wurde eine „beständige Richtschnur“ formuliert, an die sich der Bürgermeister, dessen Rat, die Worthabende Bürgerschaft und Gesamtbürgerschaft zu halten hatten.
Noch vor administrativen Fragen zur Verwaltung der Stadt, die die Bürgermeister und Ratsherren, Acht- und Viertelsmänner, weitere Stadtbedienstete, Bürgeraufnahme und das Schulwesen betrafen, ging es in den ersten dreißig Artikeln des Stadtregiments allein um die Ressource Holz, welches der wichtigste ländliche Naturrohstoff zu der Zeit war. Weitere zwanzig Artikel behandelten die Aufzucht und Mast von Tieren und ein weiteres Dutzend das seinerzeit leidige Thema Feuerbekämpfung.
Artikel 1 des Stadtregiments regelte die Aufsicht über die gesamte Hölzung, das Fällen, Messen, Erwerben, Bezahlen sowie Verkaufen. Holz wurde zu Brenn- und Bauzwecken genutzt und war einer der wichtigsten Rohstoffe bei der handwerklichen Herstellung von Gebrauchsgegenständen. Hudewälder dienten als Vieh- und Bienenweide, zur Laubfutternutzung und dem Waldfeldbau. (Siehe Blog-Beitrag „Der Wald im Spiegel der Pfarrberichte“, 02/03/2025.)
Die vorratspflegliche Nutzung, wie wir es heute bezeichnen würden, ist im Artikel 4 vorgeschrieben: „die bestmöglichste Erhaltung und wirthlichste Haushaltung der Hölzung äussersten Fleisses sich angelegen seyn zu lassen.“
Artikel 11 hält fest: „Ausser zur Feurung, nothwendigen Bauten und den in Holz arbeitenden Handwerken zu gute, soll eigentlich gar kein Holz verkaufet und veräussert werden. Erfordere es aber dringende Schulden der Stadt und andere nicht vorherzusehende Nothfälle so geschicht der Verkauf anders nicht, als in öffentlichen Licitationen, und dazu soll vor allen Dingen das auf den Aeckern und in den Remeln stehende Holz, genommen und die Waldung eher nicht berühret werden.“
Streng geregelt war auch das Sammeln von Holz: „Alle und jeder Einwohner sollen die Freyheit haben, in der Stadt-Hölzung des Dienstags und Donnerstags Lese-Holz und Fall-Holz zu sammeln und zwar ein jeder ein Fuder. Unter dem Lese- und Fall-Holz werden aber nicht begriffen, Bäume, welche mit der Wurzel umgerissen sind“ .
Das Holz soll „in Faden aufgeschlagen werden. Der Faden wird vier Fuß lang, sieben Fuß hoch und sieben Fuß weit gesetzt“ . Ein Mecklenburgischer Fuß entspricht 0,291 m. Für den Faden Blankholz waren 2 Thaler, für Wrackholz 1 Thaler und für Knüppelholz 32 Schillinge zu zahlen.
„Es dürfen auch zum Brennholz keine andere, als abgängige, oder auf dem Acker stehende, und daher demselben schädliche Bäume angewiesen werden“ (Artikel 18).
Verantwortlich für diese Vorgänge war der Stadt-Holz-Vogt. „Es wird beständig ein erfahrner Stadt-Holz-Voigt gehalten, vom Magistrat und der Worthabenden Bürgerschaft angenommen und beeidet“ (Artikel 95).
Die Artikel 40 bis 56 befassen sich mit der Mast und dem Hüten. „Ein jeder lasttragende Einwohnersoll das Recht haben, ein Schwein einbrennen zu lassen, und in die Mast zu jagen.“
Für das Hüten war der Schweinehirt verantwortlich. Der „Rath nimmt die Hirten der Mastschweine an, und behandelt ihren Lohn so gut, als thunlich“ (Artikel 46). Ein individuelles Hüten war nicht gestattet, Zuwiderhandlungen wurden bestraft, das Geld war in die Stadtkasse einzuzahlen.
Eichen- und Buchenbestände waren für die Schweinehaltung von besonderer Bedeutung. Ein gebräuchliches Sprichwort aus dem Mittelalter erinnert uns daran: „Auf den Eichen wachsen die besten Schinken.“ Mit Eicheln gemästete Schweine liefern kerniges Fleisch und festen Speck. Nach Aussagen damaliger Zeitgenossen war das Geräucherte von Schweinen aus Bucheneckernmast im Vergleich dazu tranig im Geschmack.
Erwähnt wurden auch die Pferde-, Ochsen-, Kuh- und Gänsehirten sowie Schäfer. („Der Schäfer soll nicht über 20 Schaafe für sich halten.“) Liest man das alles, wird klar, warum die Hirten so oft im Mittelpunkt alter Märchen standen.
„Weißt du auch recht, wer ich bin? Ich bin kein Königssohn, sondern ein Schweinehirt, und der mit der Herde dort, das ist mein Vater.“ (Jacob und Wilhelm Grimm, „Die sechs Diener“, 1819)
„Da zog sie still weiter zur Stadt hinaus, und sie trieben die Gänse aufs Feld.“ (Jacob und Wilhelm Grimm, „Die Gänsemagd“, 1815)
Die zugrundeliegende sowie weiterführende Literatur und andere Quellen können gern beim Autor angefragt werden. (botaniktrommel@posteo.de)
Christoph Sanders, Thalheim
Strahlender Morgen, die Tannenwipfel sind besetzt. Der Schlag der Drossel hebt sich heraus, der der Amseln sowieso. Fast windstill. Noch Reif. Rauch steigt aus manchen Häusern.
Laufradwechsel für das Weiße, das heute dran ist. Musikunterricht und Besorgungen. Mehrere handgemachte Kuchenstücke für die Familie, die morgen früh den neunzehnten Sohnesgeburtstag feiert. Halbwegs lustige Karte mit: „Wie fühlt es sich an, so alt zu werden?“ Die Töchter haben die stattliche Kerze eingestielt. Zufallsgeschenke und Geld für Sneaker – die braucht er ja wirklich und da machen wir ihm keine Vorschriften. Er wär gern wieder 16, sagt er. Tja, da muss er nun durch und kann doch eigentlich froh sein, wenn er noch ein wenig Atempause hat vor Abitur und irreversiblen Entscheidungen. Habe festgestellt, dass die „Sondersorten“ Eis jetzt pro Kugel 2 Euro kosten. Las mal irgendwo, dass die Mafia über Kartelle Schutzgelder eintreibt: Du wirst gezwungen, die Preisrunde mitzumachen. Fragt sich nur, was passiert, wenn die Nachfrage zurückgeht.
Der Handmäher des Trödlers wurde nun nach zehn Tagen abgeholt. Prrrrrrrrrrrr machten die Dinger und das Gras wirbelt duftend umher. Der Teenie berichtet, er höre tiefe Frequenzen (z.B. Flugzeuge) auch als Vibration der Halsschlagader und in den Lendenwirbeln. Manche führen zur Gänsehaut, weil sie ihr Angst machen (die Knister- und Fiepgeräusche von Ladekabeln). Der Mensch und seine Sinne: das absolute Wunder. Bin froh, dass ich, als abgestumpfter Protoroboter, so etwas nicht spüre. Dafür aber: Camile Saint-Saëns‘ „Concerto pour Violoncelle“ mit Heinrich Schiff. Und die Bassdrum vom coolen und bösen Sam Akpro.
Ein komplett irrer Frühlingstag, was Sonne, Milde, Wärme angeht. Leider mit Rückschlag des Infekts: trotz verringerter Belastung nur mühseliges Radfahren. Schwere Beine, diffuses Halskratzen. Saint-Exupérys „Pilote de guerre“ begonnen. Sehr guter Anfang. Wie der Flieger zur Mensch-Maschine wird, wenn er sich für die nächsten Aufklärungsflüge klarmacht; Wärmeregulation beim Sauerstoffgerät.
Total müde, will unbedingt diesen Virenschrott loswerden.