Morgenspaziergang mit meiner Frau durch Schwerin. Wir können längst nicht mehr schlafen – die Jugend schläft dafür umso länger. Halb neun ziehen wir los. Die Stadt ist noch wie ausgestorben. Einzelne sind auf dem Weg zum Bäcker, aber in Richtung Schloss begegnet uns bis auf ein paar Jogger kaum jemand. Selbst Autos fahren nicht. Samstag früh in Mecklenburg.
Wir umrunden den Burgsee und genießen die Tierwelt.
Ein Entenpärchen watschelt uns bis vor die Füße, zieht aber weiter, da wir offensichtlich keine Brotreste dabeihaben. Überall entdecken wir Reiher. Auf den Brüstungen, am Seeufer oder am künstlichen Kanal des Schlossparks. Ich will einen im Flug fotografieren. Der erste wird von einem Hund aufgescheucht – zu spät für mich. Dem zweiten komme ich so nahe, bis er sich belästigt fühlt und auch tatsächlich abhebt. Nur leider ist ein Smartphone, was Actionfotos betrifft, dann doch limitiert.
Meine Frau erspäht sogar noch einen Kormoran, der allerdings zu weit entfernt ist, um ihn zu fotografieren.
Im Rewe entdecke ich dafür deutsche Erdbeeren im Sonderangebot, die wir später zu den Frühstücksbrötchen genießen.
Und die Jugend? Die schläft immer noch.
Helko Reschitzki, Moabit
Der Himmelfahrtshimmel angemessen dramatisch. But Jesus don′t want me for a sunbeam, ′cause sunbeams are not made like me …
Im Hofgang ein Eichelhäher, der lethargisch dahockt, nicht auffliegt, nicht weghüpft, wahrscheinlich krank ist, verplustert und matt, als wär ihm das Blau aus den Federn gewichen. Ich wünsche ihm alles Glück der Erde und sage, dass wir Nachbarn seine, und die Arbeit seiner Kameraden, sehr zu schätzen wissen – Häher sind die besten Balkonwächter, um die kackfrechen Tauben in Schach zu halten.
Der Freitag ist ein großer Tag in meiner kleinen Schlachtenseebucht: Der Nachwuchs des Haubentaucherpärchens, das ich seit Mitte April im Vorbeischwimmen beim Nestbau und Brüten beobachtet hatte, ist nun geschlüpft! Weil die Küken in den ersten Lebenswochen noch nicht ihre Körpertemperatur regulieren können, suchen sie Schutz zwischen den Flügeln der Eltern – eine Art natürlicher Brutkasten. Von dort aus lernen sie dann nach und nach die Umgebung kennen und rutschen dabei immer wieder kurz ins Wasser, um Schwimmen zu üben. Zum Ausruhen kehren sie auf die Erzeugerrücken zurück, wo sie zudem besser vor Raubvögeln und -fischen geschützt sind. Praktischerweise werden sie vor Ort auch gleich gefüttert – das Gerangel um den besten Fressplatz, inklusive Runtergeschubse der Geschwister, ist jedes Jahr ein großartiges und herzerwärmendes Schauspiel – das hat die Natur doch alles äußerst klug eingerichtet.
Nach dem Baden schaue ich zwei deutlich agileren Verwandten des maladen Hofhähers bei ihren Kurzflügen, beim Hopsen, Hüpfen und Geflatter zu: Nebelkrähen in Aktion. Faszinierend. Immerzu so viel los – man kommt gar nicht hinterher mit dem Sehen, Hören, Staunen.
Frank Schott, Leipzig
Wegen einer Familienfeier sind wir am Wochenende in Schwerin. Ich habe das Gefühl, die doch recht kompakte Altstadt beherbergt mehr Eisdielen als das sechseinhalbmal so große Leipzig insgesamt. Alles ist voller Besucher, so dass nur Schlendern möglich ist. Was mir gar nicht behagt.
Also habe ich die Laufschuhe geschnürt und bin vom Pfaffenteich, einem kleinen Binnensee mit Fähre, am Westufer des Ziegelsees entlang bis zur Wickendorfer Straße gelaufen.
Verdammte Eiszeit. Wir sind hier in Mecklenburg und vor mir liegen Steigungen, vor denen die Fahrradfahrer mit 13%-Schildern gewarnt werden. Ich laufe durch eine Siedlung gepflegter Eigenheime. Der See gerät nie lange außer Sicht. Historische Bootshäuser säumen die Ufer. Eine Schafherde gerät leicht in Panik, weil ich, als es mal wieder mal bergauf geht, ziemlich laut vorbeistampfe. Der Ausblick auf den See ist meine Belohnung. Dann erreiche ich die Landstraße und kehre um.
10,97 km in knapp 54 Minuten. Keine Bestzeit, aber ganz ordentlich für einen Hügellauf mit mehreren zu überquerenden Straßen.
Christoph Sanders, Thalheim
Der Mittwoch unter deutlichem Atlantikzeichen. Gegen 10 wechseln sich blauer Himmel und Wolkengebirge ab – Ende der Regenphase. Ich nehme die Motorsäge, um aus dem Rückschnitt Ofenholz zu machen. Hassan, der Tunesier, wohnt etwas weiter unten im Tal und handelt mit Gebrauchtwaren. Neulich führte er mir das fachgerechte Anwerfen an einer schönen Stihl MS 211 vor. Jetzt hab ich den Trick raus – mir war mein Gerät im ganzen Frühjahr nicht ein einziges Mal angesprungen. Hassans Dachsolarkollektoren liefern Strom für acht Stunden, das reicht für den Verkaufstag. Wenn es regnet, kurbelt er das Vordach raus, dann bleibt die Ware trocken. Er schläft in einem italienischen Laika-Wohnmobil, das innen mit Holz vertäfelt ist, die Sitze sind aus cremefarbenem Leder.
Gegen Mittag zieht ein Gewitter vorbei: dramatische Wettermauern aus dunkelstem Schiefer. Danach immer neue Ballungen und Wände in allen Schattierungen von Grau. Weiße Wolken sind langweilig. Gerste, Roggen und Weizen stehen bombig am Halm, sie haben in zwei Tagen sicher 10 cm zugelegt. Die Ernte wird genau jetzt, in diesen Tagen, entschieden. Blaugrün schimmernde Horizonte, die Wildrosen als blasse Sterne am Wegrand.
Christi Himmelfahrt ist Ruhetag. Mit der Zwölfjährigen nach einer kleinen Billardpartie schätzungsweise vierhundert Socken sortiert und dabei eine alte „Wildtöter“-Kassette gehört. Rothäute und Skalpjäger, Kopfgeld von der Regierung, Menschenverschleppung und Geiselnahme. US-Alltag vor der großen Republik. Könnte man heute null veröffentlichen, egal wie differenziert die coopersche Darstellung auch ist. Stattdessen werden Feenpüppchen erfunden, die ungefährlichste Erlebnisse haben – über die sie sich aber sehr aufregen. Feen in die Verschenkzelle, „Wildtöter“ und „Moby Dick“ behalten, Lindgrens reifere Werke ebenso (also nicht Pippi L.)
Zwei Großwäschen. Nebenbei durch einem Auktionskatalog der Berliner Galerie Bassenge geklickt. Lauter mir unbekannte Namen, vieles gut, manches sehr gut. Drucke, Zeichnungen, Grafiken. Nur ein Warhol erreicht Immobilienpreise – die Schere ist so immens, dass es nichts mit der Qualität zu tun haben kann. Hauptsache also: machen. Was draus wird, weiß kein Mensch.
Mild windig, Wolken harmlos, der Regen fällt traditionell auf den Höhen und wird bis morgen weitergezogen sein. Dann ist der große Törn; das Wenige, was zu tun ist, ist getan. Ruhe und Ernährung. Salat und Joghurt nach der Bolognese. Gleichzeitig gespannt und entspannt – ich bin die Strecke schon dreimal gefahren. Um 7 muss ich auf dem Rad sitzen, dann schaff ichs vor der Finsternis zurück.
Helko Reschitzki, Moabit
Morgens im Starkregen geschwommen. Um mich herum Enten. Auch zwei Exemplare der Art, die ich noch nicht identizifieren konnte. (Die AI-Robots und Vogelportale ebenso ratlos. Vielleicht Nachkommen der „Albinoente vom Schlachtensee“?) Die Bodenfeuchtigkeit deckt das Buffet neu – fünf Stockentenmännchen machen sich hurtig auf die Suche nach ihrer liebsten Proteinquelle. Mein An- und Ausziehen geht routiniert vonstatten, man muss nur in der Modder einbeinig das Gleichgewicht halten können. Trotz des Wetters einige Jogger und Gassigeher unterwegs. Eine mir unbekannte Hundeausführlady wünscht äußerst nett einen „Guten Morgen!“ Den wünsch ich ihr auch. Mal sehen, ob wir uns ohne Kapuze wiedererkennen werden.
Bin noch angenehm platt von den dreieinhalb Stunden Tischtennis gestern. Wir werden alle immer besser. Gute Gespräche mit dem Ex-Hells-Angels sowie einem jungen syrischen Kriegsflüchtling, der seit ein paar Wochen dabei ist – krasse Parallelwelten, mitten unter uns.
Nachdem ich das herausragende „Die Kranken im Mittelalter“ von Schipperges ausgelesen habe, lege ich nach mit Robert Hoenigers „Der schwarze Tod in Deutschland: Ein Beitrag zur Geschichte des vierzehnten Jahrhunderts“, erstveröffentlicht im Jahr 1882. Dank des akribischen Quellenstudiums des Autors wurden dort (trotz Lücken) Chronologie und Verortung der Pestzüge gut erfasst. Interessant: Zuerst kamen Judenverbrennungen und Flagellanten, erst danach die Seuche – diese verstärkte die Pogrome und den religiösen Wahn. Bis heute stellt man das meist in einer anderen Kausalität dar. Viele der zeitgenössischen Berichte gehen auf eine einzige Quelle zurück – die Aufzeichnungen eines Arztes aus Avignon. Die wurden jeweils regional und zeitlich zurechtgebogen, ausgeschmückt und im Lauf der Jahrhunderte immer wieder komplett kritiklos übernommen. Etwas Ähnliches erleben wir ja auch gerade, wo trotz der Leaks der internen Sitzungsprotokolle und innerbehördlichen Mails des RKI die große Mehrzahl der Journalisten und Politiker die alten, widerlegten Coronanarrative wiederkäut. Faktenchecks anhand von Primärtexten und „Follow the science“ gelten halt nur, wenn es gerade passt.
Milder Tag, Westströmung, atlantisch feucht. Vor dem Regen mäht der Sohn noch eine strategische Schneise in den Hintergarten. So können wir den wuchernden Cotoneaster eindämmen, der sich zu einer üppigen Wand entwickelt hat. Traurig dürr der Buchshalbkreis, die Pfingstrosen in der Spätblüte.
Für den nächsen Törn das Hinterrad getauscht – zwei Zähne mehr sind manchmal sehr hilfreich. Bei der Aktion die Linsenhutmutter der Ausfallendenschraube verloren. 3 x 20 Minuten vergeblich das Pflaster abgesucht … in dessen Ritzen sich unglaublich viel tut: Asselarten, es gibt sogar ganz kleine hellbunte. Kleinstameisen, die irgendwas irgendwohin schleppen. Eine Erdbiene, die mehr gräbt als umhersummt. Bei einem Rundumblick blitzt mir aus einem Meter plötzlich die kleine Mutter entgegen – völlig andere Richtung, Zufall.
Die Kolonnen mit dem Glasfaserkabelbohrer kommen voran. Sind um 19 Uhr noch bei der Sache. Hören erst auf, wenn der Netto schließt oder das Tageslicht fort ist. Ein Tankwagen versorgt die Maschine mit Spülwasser für den Kabeltunnel.
Hassan, der tunesische Trödler an der Ecke, hat mir ein rotes „Ciao“ Mofa angeboten. Wer auch immer von uns das Ding fahren wird – morgen werde ich schwach.
Nachdem Toni Morrisons „Jazz“ etwas an Luft verloren hatte, kommt die Story nun wieder in Fahrt: Starke Rückblenden in den Süden – die riesige Distanz zu den Weißen, der unglaubliche Riss, der dieses Land der Freien spaltet. Wie leicht dagegen wir es heute haben, wie vergleichsweise wenige Glaswände unsere Leben durchziehen …
Christoph Sanders, Thalheim
Guter, frischer Morgen. Ausgeruht! Bis auf ein leichtes Ziehen in der rechten Rückenpartie – da bekannt, piano. Demnächst wird der erste Solo-Dreihunderter angepeilt – die Fünf-Stauseen-Tour mit Anfahrt aller nördlichen Mittelgebirge von hier war immer meine liebste Herausforderung. Eine Reise durch ein verschlossenes Gebiet, wo der autoritäre Katholizismus bzw. Lutherismus die Grenze bildet -auch eine architektonische: irgendwann fällt der Schmuck weg. Ausgangspunkt Elberfeld (und die Bibel gleichen Namens), über das Siegerland und die Täler bis nach Dillenburg. Ein Territorium lose verbundener Freikirchen, mit teilweise okkulten Differenzen. Kein einig Land, nie gewesen.
Am Vormittag die ersten wilden Erdbeeren des Jahres genossen. Damit sich in der Nähe nicht so viele Fressfeinde niederlassen können, werde ich die Pflanzen kreisförmig einmähen.
Buchhandlungen sind Shitbürgerkathedralen – schönes Poschardt-Interview in der Berliner Zeitung. Wer muss sich da eigentlich von ihm angegriffen fühlen – es ist ja eher ein Weckruf, mal den eigenen Sollzustand und dessen Grundlagen zu hinterfragen. Er beschreibt pointiert den typischen bundesrepublikanischen Mikroklassenkampf, der sich über Tennisplätze definierte, was bis in die 5000-Seelen-Stadt hinab ja wirklich der Fall war. Und heute findet man nicht mal mehr die Leute, die die rote Asche abziehen wollen und nimmt dann gleich den Kunststoffbelag.
Mit unserer Jüngsten in einem DDR-Standardbuch über Fliegerei geblättert. Bis auf die kuriosen Ausführungen zur angeblichen sozialistischen Überlegenheit ein gutes, sachliches Buch. Wir untersuchen den US-Höhenaufklärer YF12, das Verhältnis von Luftdichte zu Widerstand, warum auch normale Passagierflugzeuge so hoch fliegen. Die Lockheed erreichte 1960 über 3000km/h und verbrauchte 30.000 l in der Stunde – das sind schlappe 300 l auf 100 km – so kann man das am Küchentisch überschlagen. Bereits 1970 sind die Grundlagen unseres Flugwesens vollendet, danach wurde und wird verfeinert, so werden wir in naher Zukunft zum Beispiel Lackierungen in sogenannter Haifischhaut („Riblet-Folie“) sehen, das reduziert den Luftwiderstand nochmals.
Im Tagesverlauf mild – nach dem gestrigen Regen blühen wie irre die Rosen auf.
Helko Reschitzki, Moabit
Am Freitag wie üblich als allererster Tagesgruß das Zwitschern der Hofamsel, der Rest im Haus noch ruhig – es ist halb 5. Inhalieren, Kurzdusche, Müsli mit Joghurt, Nüssen, Rosinen und einem Apfel, Teeaufguss, mit dem zweiten wird die Thermosflasche befüllt. Ich mache mich auf den Weg zum Schlachtensee. Auf dem S-Bahnhof Westkreuz ragt aus einem Speedo-Rucksack ein Bein – ich lese es als weiblich und künstlich. Das Wetter wie zuletzt kühl, mit Schauern und ziemlich böig. Auf dem Wasser sammelt ein mir gut bekanntes Haubentaucherpärchen die vom Wind gelösten Schilfblätter und Baumzweige und verbaut diese in seinem anscheinend nie fertig werdenden Nest. Während die Blässhühner Wellenberg- und Talbahn fahren, fliegen die Schwalben hart unsere Schwimmerköpfe an – man kann sich hundertprozentig darauf verlassen, dass sie kurz vor einem möglichen Aufprall in jedesmal vollkommen überraschenden Volten die Richtung wechseln (so wie das Fledermäuse auch tun). Ist die Lufttemperatur einstellig, hab ich die Bucht meist für mich. Das Wasser dieser Tage um die 17 Grad und somit für mein Empfinden genau richtig – lieber warmschwimmen als warm schwimmen.
Einen Tag später trinken sich am Westkreuz Arminia-Fans voller Vorfreude Richtung Olympiastadion, wo ihre Mannschaft später das Pokalfinale gegen den VfB verlieren wird. Ein Polizeitrupp plaudert entspannt über Fitnessstudios – es sind keine Randale zu erwarten.
Am Sonntag geh dann auch ich zum Fußball – der SC Union 06 spielt gegen den 1. Traber FC Mariendorf. Zu meiner Freude treffe ich am Spielfeldrand nach langer Zeit mal wieder einen alten Fußballbuddie von mir. Mit dem sah ich schon so manche Partie; er geht auf die 90 zu und kennt wirklich jeden Spieler, Trainer, Linienrichter, Platzwart und Grashalm quer durch die berliner Ligen, da partizipiere ich gern. Im fiesen Starkregen führt Moabit nach herrausragendem Spiel zur Halbzeit 3:0, kommt dann aber durch unkluge Auswechslungen und taktische Neupositionierungen aus dem Fluss und kassiert so zwei Gegentore. Die letzten 25 Minuten (inklusive Nachspielzeit) werden zur Zitterpartie – mit Ach und Krach hält man das 3:2 und die drei Punkte fest. Union punktgleich mit dem FC Amed, der dank der um vier Treffer besseren Tordifferenz auf einem Aufstiegsplatz steht. Noch drei Spieltage, am letzten Union auswärts gegen Amed – es bleibt spannend …
… genau wie meine Serie, wo es Drunter und Drüber geht, seit aus dem Nichts ein Raumschiff voller tiefgefrorener Strafgefangener auftauchte, die dann irgendein Trottel aufgetaut hat. Nun kann wohl nur noch das sich ebenso urplötzlich durch die Handlung fightende Nachtblut-Mädchen den kümmerlichen Menschheitsrest retten …
Hit der Woche: Graham Waterhouses „Chieftain’s salute“, gespielt vom English Chamber Orchestra und dem Endymion Ensemble mit Graham Waller an der Highland Bagpie – Dudelsack trifft kleines Orchester. Das hab ich so auch noch nie gehört. Großartig!
Christoph Sanders, Thalheim
Am Samstag 180 Kilometer übers Rothaargebirge und Gladenbacher Bergland, Zwischenhalt in Gießen. Unter immer dichter werdenden Wolkenbänken fahre ich acht Stunden dem Regen davon, auf den letzten 10 Kilometern fängt er mich ein. Ein reicher Tag in der tiefen, bunten Mitte Deutschlands mit einer wundervollen Vegetation und viel, viel Merkwürdigem. Zum Beispiel einem bizarren Frauentrio vor dem Herkules-E-Center in Haigar – keine Ahnung, ob sowas unter Folklore läuft oder nicht. Obwohl man hier nie reich war, ernüchtert mich der Zustand der kleinen Dörfer und Städte im Lahn-Dill-Kreis.
Bei „Music Attack“ in Gießen ein älterer Typ mit fettiger Zopffrisur, der sich lautstark und redundant mit dem Verkäufer unterhält, man merkt, dass die Festplatte nicht mehr intakt ist. Der Verkäufer bleibt geduldig und antwortet teilweise im Lokalidiom. Abgang arme Sau, während ich am Boden die CD-Körbe mit der unbearbeiteten bzw. untinteressanten Ware durchforste. Die Karajan-Aufnahme von „Tod und Verklärung“ (inklusive kleinem Wasserschaden) rausgefischt. Das Sneaker-Publikum kommt herein, ich versuche, nicht im Weg zu hocken. Der Verkäufer geht kurz raus, eine rauchen. Hermann Prey, hmm. Ich könnte Opern kaufen, intakt, sauber, Verdi. Bin aber weder Fan noch Kenner. Eine späte Schubert-Schumann-Einspielung von Harnoncourt fällt mir in die Hände. Interessant, aber zerkratzt. Ich reiche sie mit Fragezeichen über den Tresen – man überlässt sie mir für 50 Cent. Zuhause kann ich sie problemlos abspielen.
Am Sonntag Regeneration – 180 Kilometer sind schon ein Batzen, aber ein guter. Trotzdem wollen einige harte Anstiege verarbeitet werden. Blick auf den feuchten Garten, es regnet seit zehn Stunden leicht und beständig. Die ersten wilden Erdbeeren sind reif. Tauben liefern sich von den Dächern her ein Wettrufen.
Bei verhangenem Himmel und Mikrosprühregen das 1:0 des FC Dorndorf II gegen FSG Bad Camberg-Dombach gesehen. Verdienter Sieg, der hätte höher ausfallen müssen. Auf Dombacher Seite ein Jamaikaner mit souveräner Leistung, im Dorndorfer Tor ein 120-kg-Routinier, der aus dem Winterschlaf geholt wurde und den Kasten durch großartiges Stellungsspiel sauber hält. Am Spielfeldrand mit dem Sohn Hefeweizen genossen. Die Besucherparkplätze voll.
Frank Schott, Leipzig
Ich war zweimal laufen in dieser Woche. Kleine Runden, nur gut fünf Kilometer jeweils, in gemütlichem Tempo. Beide Male überquere ich die Sachsenbrücke, die ich zuletzt gemieden hatte, weil mich ihr chemischer Gestank abschreckte.
Was da stinkt, ist die Versiegelung der sogenannten Klimastreifen. Die ließ Leipzig 2022, drei Jahre nach der kommunalen „Ausrufung des Klimanotstands“, dort aufmalen, um den Anstieg der globalen Temperaturen zu visualisieren. Ein erster, rund 10.000 Euro teurer Versuch fiel rasch dem Regen und dem Abrieb zum Opfer. Daraufhin wurde im vergangenen Winter alles erneuert und mit Polyurethan beschichtet, eine Chemikalie, die bei längerer Schadstoffausgasung gefährlich werden kann und zudem biologisch nicht abbaubar ist. So eine Klimaschutzkampagne geht offenbar vor Gesundheits- und Umweltschutz.
Aus beruflichen Gründen weiß ich eine manipulative Grafik sehr zu schätzen. Und die „Warming Stripes“, blaue Temperaturen noch um 1950, tiefrote ab dem Jahr 2000, sind wirklich äußerst einprägsam – es ist kein Wunder, dass die Klimakids fürchten, dass bei Erhöhung des langfristigen Durchschnitts um 2 Grad die Wälder brennen.
Eine der Laufrunden drehe ich abends. Es ist deutlich ruhiger, weil die Spielplätze leer sind. Ein älteres Pärchen kommt mir entgegen. Der Mann versucht sie zu beruhigen, aber die Frau schimpft lebhaft: „Das ist ein Park. Wir wollen hier die Ruhe genießen.“ Einen Grund ihres Ärgers höre ich schon: Auf einer Plattform am Inselteich übt eine größere Gruppe zu Musik aus einer Box lateinamerikanische Tänze. Später sehe ich drei Trommler, die ganz in ihren Rhythmus versunken sind. Weil sie meinen Atem aus dem Takt bringt, mag ich Musik beim Laufen überhaupt nicht – zu diesem Abend passt es.
Da nur wenig Verkehr ist, habe ich mehr Augen für die Umgebung. Eine Rose, die ihre Fesseln sprengt und weit über den Zaun hinaus wuchert, begeistert mich. Vielleicht sollten wir stärker der Natur vertrauen.
Christoph Sanders, Thalheim
Blauer Himmel, Wolkentupfer, frischer Hauch. Bei mir Schlaffheit, Räuspern, brennendes Halskratzen. Von den Kindern hängen aber nur noch zwei am schleimlösenden Salbei-Thymian-Ingwer-Tropf aus der großen weißen Porzellankanne. Der Thymian wächst hier in zwei Varianten: eine großblättrige grünere, die andere mit kleinen und eher krausen Blüten, an diesen erkennt man die Verwandschaft.
Die Kaninchen bekommen von mir dreierlei Grün: Schachtelhalm, Löwenzahn und Klee plus langes Gras und die schlaffen Salatblätter, die für den menschlichen Verzehr ungeeignet sind.
Abziehen der Kurbelschrauben, ein Innnenlager tauschen, mit dem neuen nochmals den Berg rauf.
Der erste Schauer seit Wochen! Die Pferde springen wild auf ihrer Koppel umher. Die Girlies stallen die Hasen ein. Der Sohn bereitet sich mit ChatGPT auf die mündlichen Prüfungen vor, was erstaunlich gut funktioniert. Meine Frau lässt inzwischen ihre Standardbriefe und Stellungnahmen von der KI fremdverfassen.
Nachdem der Roma-Paprika-Putenbrust-Salat restlos vertilgt wurde, hüpfen Teile der Familie durch die Zimmer und schreien „Sau!“ über die Treppe. Manchmal wär ich gern wie mein hanseatischer Freund, der, nachdem penibel das Abendbrot vom Tisch geräumt und das Gläschen gefüllt ist, DIE ZEIT zur Hand nimmt, diese wie die Bibel liest und neue Gewissheiten daraus schöpft.
Im letzten Licht des Donnerstages noch eine Hausrunde. Die dritte Pfingstrose steht kurz vor der Entfaltung.
Am Freitag Alltagserledigungen und die Planung des Ritts ins kleine Tal am Fuß des Rothaargebirges am Samstag. Ich bin noch nicht zu 100% fit – es wird aber reichen. Der Halskatarrh der Kids verflüchtigt sich, was mit großer Schlappheit einhergeht. Der Tee zirkuliert nach wie vor in riesigen Mengen. Weiterhin frisch, dramatisch dunkle Wolken wechseln sich mit einem strahlendem Blau ab, die Blätter der Bäume wiegen sich im Wind.
Faszinierende Morgenmusik: „Quatuor pour la fin du Temps“, das Messiaens in einem Gefangenenlager der Wehrmacht komponierte. Am Abend auf Flightaware eine usbekische Cargogessellschaft entdeckt, die permanent zwischen Ben Gurion und Asien unterwegs ist. Man wundert sich immer wieder.
Olivier Messiaen bei der Uraufführung im Stalag VIII A in Görlitz am 15.01. 1941
Bevor ich mich zur großen Tour aufmache, ist es eiskalt (3° Celsius). Die ersten Wolken zeigen sich, besser, ich bin vor der verkündeten Schauerwand wieder hier. Die Buchsbaumraupe hat das Angebot zur Waffenruhe möglicherweise angenommen. Direkte Verhandlungen werden am Montag fortgesetzt.
Frank Schott, Leipzig
Es ist kalt an diesem Freitag. Immer wieder jagen Regenschauer übers Land. Auch den Katzen ist es momentan zu nass im Garten.
Ich habe Reis und Ente für die Familie geholt vom Vietnamesen unseres Vertrauens. Aber der Besitzer hat gewechselt. Statt Reis mit gedünstetem Gemüse und einer Soße deiner Wahl zur Ente gibt es nur noch Bratreis. Niemand isst auf, selbst um die letzten Stücke Ente reißt sich niemand. Ich fürchte, das Restaurant hat uns als Kunden verloren.
Ich muss noch eine Runde gehen. Unsere Azalee ist in voller Blüte. Der Vorgarten hat seinen eigenen Charme mit den Wassertropfen. Wenigstens regnet es momentan nicht.
Zwei Kindergeburtstagsgruppen begegnen mir. Eine rein weiblich, eine nur Jungs. Beide haben Luftballons in den Händen. Dazu die obligatorischen Eltern des Vertrauens
Später habe ich Schwierigkeiten an einem Pulk von Jugendlichen vorbeizukommen. Möglicherweise eine Klassenfahrt. Ein Mädchen spricht mit der Betreuerin über einen neuen Jungen. „Er ist aus Spanien?“, fragt sie. „Nein, aus Albanien.“
Offenbar kann das Mädchen mit der Auskunft wenig anfangen. „Und aus welchem Dorf oder so ist er?“ – „Aus Tirana.“ Verständnisloses Schweigen. „Das ist die Hauptstadt“, erläutert die Betreuerin. Wie das Gespräch weitergeht, erfahre ich nicht. Denn jetzt kann ich den Pulk überholen.
Der Himmel ist wieder dunkel geworden, aber ich schaffe es trockenen Fußes nach Hause.
Susanne Kasperowski, Gadebusch
Außenkamera Garten, 00:12:09, 21-05-25
Frank Schott, Leipzig
Ich habe heute mal wieder eine größere Runde gedreht. Diesmal nicht mit den Laufschuhen, sondern mit dem Rad. Seit meinem schweren Fahrradunfall vor etwas über zwei Jahren habe ich keine größere Radtour mehr gemacht. Zumal damals mein Rennrad stark beschädigt wurde und mein Anwalt sich immer noch mit der Versicherung des Autofahrers streitet.
Nach der Arbeit wollte ich mich einfach austoben. Und laufen wollte ich sicherheitshalber nicht, weil mir gestern nach dem Training mit den Kids etwas das Knie geschmerzt hat. Also rauf aufs Gravelbike. Die Seentour war mein Plan: Markkleeberger und Störmtaler See umrunden, etwa 50 Kilometer.
Kaum in Markkleeberg angekommen: Ach ja, stimmt, die Brücke ist gesperrt. Es gibt dort zwar einen Behelfsweg für Fußgänger und Radfahrer, aber nee, ich habe keine Lust auf Schieben. Also machen mein Rad und ich einen 8 Kilometer Umweg und umrunden einen Großteil des Cospudener Sees, um wieder nach Markkleeberg zu kommen. Viel Betrieb: Spaziergänger, Jogger, Skater und natürlich Radfahrer. Relativ wenig Rennradfahrer, denn mit dem starken Publikumsverkehr ist die Strecke nur bedingt rennradtauglich. Diesmal kein Fotostopp bei den Rentieren oder den Eseln.
Weiter geht es nach Gaschwitz. Ich hätte Appetit auf etwas Kleines, aber der Radlerhof ist noch geschlossen. Weiter geht es über die filigrane Neuseenbrücke, unter welcher die B2 verläuft. Südlich des Markkleeberger Sees will ich an der stillgelegten Schleuse zum Störmthaler See, aber das Teilstück ist ebenfalls gesperrt. Es gibt eine Umleitung für Radfahrer.
Hinter der Sperrung steckt ein klein wenig Großmannssucht. Im Süden von Leipzig entstanden nach Ende des Braunkohleabbaus vier riesige Baggerseen. Die drei erwähnten (Markkleeberger, Cospudener, Störmthaler) und der Zwenkauer See. Die Vision Leipzigs und der Nachbargemeinden war, alle Seen über Kanäle zu verbinden und für die Schifffahrt nutzbar zu machen. Den Anfang machte der Kanal zwischen Störmthaler und Markkleeberger See, der wegen des Höhenunterschieds mit einer Schleusenkammer versehen war.
Seit 2021 ist die Verbindung gekappt. Wegen Rissbildungen war die Stabilität der Schleuse in Gefahr. Klar ist wohl, dass bei Planung und Bau Fehler passiert sind. Es zeigte sich, dass die Komplexität des Untergrunds, sprich Sand, Ton etc. sowie die Tatsache, dass es teilweise Halden sind, zu den Problemen beigetragen haben – der Untergrund für den Kanal war halt nicht normale Erde. Jetzt geht es primär darum, alles zu sichern, weil ein Bruch der Bewehrung zu großflächigen Überschwemmungen führen könnte. Deswegen ruhen auch die Pläne für den Kanal zwischen Cospudener und Zwenkauer See. Es wird hier bereits von Kosten in dreistelliger Millionenhöhe gesprochen – und auch bei diesem Kanal besteht das Problem des Höhenunterschieds und des schwierigen Untergrunds …
Ich fahre also die Umleitung, überquere die A38 und komme am Bergbau Technik Park vorbei. Den alten Abraumabsetzer des Tagebaus Espenhain (ca. 2400 t, Baujahr 1985, bis zu 10.000 m³ Förderleistung) sieht man bereits aus großer Ferne, aber so nah war ich ihm noch nie. Dann bin ich endlich am Störmthaler See. Hier ist Schluss mit Wanderern, Joggern und Skatern. Es gibt nur noch Rennfahrer, einige weniger Pendler und ein paar mittelschnelle Radfahrer wie mich.
Die Umfahrung des Störmthaler Sees ist die ruhigste und gleichzeitig die anspruchsvollste Teilstrecke. Mehrere Anstiege mit 8, 9 oder sogar 11 Prozent Steigung gehen in die Beine und kosten Luft. Dafür ist es wunderbar ruhig. Im Schilfstreifen am Westufer quaken die Frösche. Eine Elster hüpft über den Weg. Schwärme von Mücken tanzen in der warmen Luft und bereiten sich aufs Diner vor. Gerade werden sie aber eher Opfer von mir, indem ich die eine oder andere durch den offenen Mund einatme.
Langsam wird der Hunger bohrend. Am Ostufer hat zum Glück der zum Imbiss umgebaute Bauwagen geöffnet. Es gibt hier aber nur noch „Snickers oder Mars“. Ich entscheide mich für einen Snickers, der direkt aus dem Kühlschrank kommt. Eine echte Herausforderung für die Kauwerkzeuge, während ich mit gemütlichen 20 km/h weiterfahre. Aber langsam nervt nicht nur der Hunger. Mich plagen auch Schmerzen in Schulter und Nacken, weil ich das vorgebeugte Fahren nicht mehr gewohnt bin.
Also ist Schluss für heute – ab nach Hause. Über Wachau geht’s am neugebauten Gefängnis vorbei, dessen chinesische Mauern hoch vor mir aufragen. Am Ende waren es knapp 58 Kilometer, die ich mit Foto- und Snickerstop in 2:21 Stunden zurückgelegt habe. Ich sollte es wieder mal tun – wenn nichts mehr weh tut.
Christoph Sanders, Thalheim
Ein weiterer Maientag aus dem Fotoalbum, leicht schwüle Strömung, das Wetter sich also ändern. Bis dahin ist die Wäsche aber trocken. Mittags portugiesische Süßkartoffeln mit Babylattspinat, deutsche Biokartoffeln dann erst wieder erst mit der nächsten Lieferung. Kurz den Berg hinauf, um nochmals den Blick schweifen zu lassen – das kann man nie genug machen! Die Graserträge der Mittelgebirge sind in diesem Jahr hervorragend; die Brotgetreide stabil unterm Niveau von 2024, Geflügel und Eier dito; das Nadelholz aus den Wäldern wird vermehrt nachgefragt; die Erdbeerernte bislang extraordinär. Was für ein Monat! Kann mal bitte einer diesen Mai loben?
Eine iberische Melone genossen, die reif wie im Sommer war. In der 6. Klasse meiner kleinen Tochter wurde der Nachteil von spanischen Bewässerungskulturen und migrantischer Saisonarbeit gegen den himmlischen Genuss einer reifen Melone für 2 Euro aufgewogen. Der Genuss hat selbstverständlich gewonnen. Es sind Übergangszeiten – mit all ihren Verwerfungen … Und es ist auch die zweite oder dritte Revolution des Internets. Das Glasfaserkabel ist nur noch wenige hundert Meter von unserem Dorfschild entfernt – es wird die alten Telekomleitungen und LTE-Masten in die Steinzeit rücken, aus den Rasenstücken der Vorgärten ragen hie und da bereits die orangenen Anschlüsse hervor. Bald wird die KI den Urlaub buchen und die Oma an eine Pfleger-App verweisen. Über die allgemeine Verflachung der Informationmach ich mir keinen Kopf – für die Normalbevölkerung der Kleinstädte, Dörfer, Weiler, Vorstädte war sie noch nie relevant. Da kommt es auf Müllabfuhrtermine an, auf die Öffnungszeiten der Ämter. Produzent ist man hier im Hinterland immer nur für seine Grundbedürfnisse: Haus, Anbauten, Garagen und Garten. Gemüse, eingemachtes Obst, gern auch Marmelade und Schnaps, Reparatur und Instandnsetzung der Motorgeräte, von der Heckenschere bis zum Traktor. Der Rest wird von Außen herangetragen und geliefert. Alles andere ist fremd, außerhalb des eigenen Wirkungskreises, da hält man sich eben raus, ist mißtrauisch.
Kaum ist der Salat gedresst, das Graubrot im Toaster und der Ravel ausgeklungen, ziehen Wolken auf, dazu Böen. Drei von vier meiner Kids sind wieder mit Halskratzen unterwegs. Die Immunsysteme werden wohl noch lange brauchen, bis sie wieder funktionieren.
René Schwettge, Lehnitz
9.05. Raum
Hell ists noch, obgleich „schon“ kurz nach 7. Die letzten paar Tage ist die Luft feucht. Geregnet hat es auch ganz sacht, aber immer wieder. Die frühen Blättertriebe sind vielerorts frostverbrannt, doch es schiebt sich neugrün nach. Die halbwüchsige Kiefernschonung ist dicht, beinahe unterholzig.
Unten stehen kleine Maiglöckchenwälder. Es ist ein kleiner Raum, oben zu. Der Hall ist grossartig und wie ich mich drehe, weitergehe ist es ein Vorgelstimmenkunstkopfhörspiel. Weiter hinten, wo der Hochwald beginnt, die Abstände grösser sind und der Himmel sichtbar, klingts anders. Weniger gross, stiller.
An der Motorradsperre liegt ein Flummi mit dem Winnieh Puh Tiger. Der sprang doch auch immer auf seinem Schwanz durch die Welt? Ich begegne niemandem und kann die Schleppleine an Emma ausprobiern. Eher muss ich mich daran gewöhnen. Geht ganz gut.
Christoph Sanders, Thalheim
Das befriedigende Gefühl, als am grauen, kühlen Sonntagmorgen der Sencha durch den regenerierenden Körper läuft. Nordwestwind, daher Naturstille. Bei den Robinien und Kastanien zögert die feuchte und frische Luft das Verblühen hinaus. Eberesche und Tulpenbaum konkurrieren Seite an Seite ums Licht. In Böhmen sehe ich die Esche häufig als Alleebaum, ein angenehmes, helles Laub. Der Rhein liefert gerade perfekte Vorlagen für Klimakatastrophenposter. Ich brühe frisches Koffein auf und öffne das neue Orangenmarmeladenglas.
Auf den Straßen fehlen die E-Bike-Kohorten – die mögen es nicht unter 20 Grad und erst recht nicht mit Wind. Kurzbesuch der Galerie auf dem Berge. Die Wienerin Alice Kammerlander zeigt dort gerade echt irre, teilweise papierfeine Keramik. Dazu Gemälde von Dénesh Ghyczy. Die Choreografie einer Ausstellungseröffnung. Pflichtreden (gähn!) als Einstimmung auf die Verkaufsveranstaltung. Das kleine Buffet. Der Wein, der die Stimmung hebt. Das Erwachsenentheater beim Taxieren der Ware. Seitenblicke, man kennt sich. Die Künstler, die betont beiläufig danebenstehen. Der einsetzende Blues, als die letzten Bekannten und Verwandten gegangen sind. Spekulationen, was verkauft wird und was nicht, wer von den Sammlern noch „Platz an der Wand hat“. Immerhin konnte ich mit der Wienerin wunderbar plaudern, was sie vermutlich sehr entspannt hat.
Der Montag ein sehr schöner Tag auf dem Rad. Im Supermarktland erratische Schwankungen. Nachdem der Hersteller meiner neutralen schweizer Btterschokolade kürzlich deren Preis verdoppelte, zogen die anderen Großanbieter von sogenannnter Markenschokolade nach: Innerhalb von zwei Wochen pendelten sich alle bei 199 Cent ein. Was den Kunden zu teuer war. Jetzt beginnen aufs Neue die Preiskämpfe – wo kein Absatz ist, wird auch nicht geordert. Schade, dass wir nur so wenig aus den Hinterzimmern der Lebensmitteldeals hören. Auf den Parties meiner Töchter wird so etwas natürlich null thematisiert. Da geht es, so erzählten sie mir, um TikToks aus der Peer-Group, um die Video-Clips der angesagten Jungs. Da tobt die Geschlechterrivalität ungebremst und (wie eh) verdeckt. Der Rest wird größtenteils über die Seifenoper Kirmes geregelt – meist in unzurechnungsfähigem Zustand. Wer noch Konversation betreiben kann, erprobt und reproduziert die Erfolgsnarrative seiner Eltern: Sonnenuntergangsbilder aus Urlaubsorten und das Vorzeigen des Statuskonsums … Man gibt sich fleißig, sparsam und ordentlich – hier bei uns, im provinziellen Raum, haben die 80er nie aufgehört.
Helko Reschitzki, Moabit
Die letzten Tage wolkenverhangen mit gelegentlichen Schauern. Die Luft- und Wassertemperatur am und im Schlachtensee in der Spitze bei 17 Grad. Am nordwestlichen Ufer hat nach den Stockenten nun auch eine der Blässhuhnfamilien Nachwuchs bekommen. Mit einem kleinen Köpper tauchen die Alten nach Algen, Insekten und Fischen, die Küken zupfen diese dann direkt aus dem Erzeugerschabel – so wie seit Anbeginn des Blässhuhnlebens auf Erden.
Am im und unterm Wasser liegenden Baum, auf dem, wie bei diesem Sonnenstand üblich, diverse Vögel und teils exotische Schildkröten sitzen, komme ich wie immer mit jemandem ins Gespräch. Man redet dort naheliegenderweise über Bauchfarben und Panzerformen und vergleicht diese mit jenen, die man mal irgendwo im Urlaub gesehen hat. Welche importierten und später ausgesetzten Arten da neben der einhemischen Sumpfschildkröte den Kopf herausstrecken, ließ sich aber bislang noch nicht verifizieren. Circa zweihundert Meter weiter badet ein Mann, dessen Hund auf einem Schwimmbrettchen vor ihm hertreibt – ein Jogger und ich rufen ihm die Surfscherze zu, die er wohl von allen Vorbeikommenden hören wird. Ein Graureiher besorgt sich aus einem von Mäusen besetzten Hohlbaum Fressen, seine Pick- und Schlucktechnik sind in ihrer Effektivität faszinierend.
In meiner Bucht ist zunächst niemand, später kommt ein Pärchen hinzu. Wir gleichen unsere Wasservogelnachwuchssichtungen ab. Der Mann sah schon vor Wochen am Südufer junge Haubentaucher und glaubt, dass das frühe Schlüpfen mit der Warmphase Anfang März zusammenhängt. Wer weiß. Die tief zickzackenden Schwalben bestätigen die Wetterprognose der zunehmend dickeren Wolken. Die leichte Brise wird stärker und somit auch der Wellengang. Ich mag das, das Pärchen nicht. Vom Gun-Powder-Wermutkraut-Tee aus der Thermosflasche aufgewärmt, gehts zurück Richtung Moabit. Nach drei Stationen schlagen die ersten Tropfen an die S-Bahnscheiben. Zum Regengeprassel und Schienenbeat lese ich in Schipperges „Die Kranken im Mittelalter“ sehr Interessantes über die Temperierung des menschlichen Daseins: Augenblicke, Stunden, Tage, Monate, Jahre, Jahrhunderte, Zeitalter – eine „rhythmische Zweckmäßigkeit“, die mir durch unsere Flucht in virtuelle Parallelwelten zunehmend aus dem Takt zu geraten scheint.
Komplett analog das Sonntagmittagsspiel von Union 06 – Borussia Pankow auf einem Nebenfeld des Poststadions. Moabit dicht an einem Aufstiegs- und Pankow auf dem Abstiegsrelegationsplatz. Da gehts um jeden Punkt, und fünf Spieltage vor Saisonende auch um die Tordifferenz – was alle total verkrampft: Viel Rumgestochere und unfassbare Fehlpässe, die man selbst in der Herrenbezirksliga sonst kaum sieht. Die Regenschauer, die den Kunstrasen wässern, machen exakt nichts besser. Ich sitze mit zwei Spielermüttern von Borussia auf einer Bank. Nach nicht einmal fünf Minuten hat sich die eine bös mit dem Linienrichter angelegt. Beide schreien sich an (immer ein Alarmzeichen, wenn man dabei irgendwann zum „Sie“ übergeht!) Ein ziemlich verpeilter Typ im Trikot des 1. FC Köln (?!?) mischt sich ein und verschärft den Disput – die ostberliner Soccer Mom fragt, ob es bei uns im Verein ein Drogenproblem gibt. So beginnen Kriege. Auch wenn ich weiß, dass es vollkommen sinnlos ist, versuche ich etwas zu deeskalieren. Erst als ausgerechnet der Sohn der Aufgebrachten einen blöden Elfmeter verursacht, ist sie so abgelenkt, dass sich die Lage bis auf ein paar gelegentlich nachkleckernde Verbaleruptionen beruhigt. Die andere Kickermutti und ich unterhalten uns die ganze Zeit prächtig. Endstand 2:2. Im zum Abpfiff einsetzenden Starkregen durchgeweicht nach Hause. Ein äußerst unterhaltsamer Nachmittag.
Frank Schott, Leipzig
Ist es das Alter? Will ich mir beweisen, dass ich es noch drauf habe? Ist es der berufliche Stress, der ein Ventil braucht? Sind es die gesellschaftspolitischen Entwicklungen, die meine Gedanken in deprimierenden Spiralen kreisen lassen und durch Sport für einen Moment gedämpft werden?
Bei der Laufrunde am Samstag war eindeutig die Politik der Antrieb. Am Frühstückstisch las meine Frau eine Nachricht vor: Der Virologe Drosten muss aktuell in Dresden vor dem Untersuchungsausschuss des sächsischen Landtags zur Corona-Politik aussagen. Was mich auf die Palme brachte, waren nicht die typischen Ausreden wie „Wir haben es nicht besser gewusst“ und „Es war ein Konsens von Politik und Wissenschaften“, sondern seine Aussage, man habe die Kinder weggesperrt, weil man befürchtete, dass Covid bei ihnen schwere Spätfolgen, wie man sie von Mumps kennt, auslösen könnte – um Panik zu verhindern, wurde das dann aber nicht kommuniziert.
Ich war so voller Wut, dass ich die Laufschuhe schnürte.
Und das tat gut.
Auch wenn große Teile des Auwalds mitten in der Stadt liegen, sind die kleineren Waldwege auch am Wochenende vormittags in der Regel menschenleer. Das Volk nutzt die breiten, oft asphaltierten Strecken, um schnell zwischen Ost und West zu wechseln oder von Süd nach Nord zu kommen. Auf den Pfaden bin ich alleine mit mir und dem Geruch des Waldes, den diesmal der verwelkende Bärlauch dominiert. Ich höre die Vögel. Eine Amsel nimmt ein Bad in einer Pfütze und fliegt auf, als ich näherkomme. Gevatter Krähe lässt sich überhaupt nicht stören und trippelt entspannt von der einen auf die andere Seite. Auf dem Deich hüpft eine Bachstelze an mir vorbei.
Am Sonntag laufe ich erneut. Die gleiche Strecke. Und wieder ist es am schönsten auf den Waldpfaden. Der Wind weht und lässt die Bäume die Regentropfen abschütteln. Über einer der Brücken kreist ein Raubvogel mit einer beachtlichen Flügelspannweite. Vielleicht ein Habicht oder Bussard? (Was wir alles nicht mehr wissen und unsere Eltern noch wussten …)
Es hat kräftig geregnet in der Nacht. Die Pollen wurden von den Blättern gespült und bilden Schlieren auf den Pfützen. Die Luft ist kühl und ausgesprochen rein. Meine Beine heben und senken sich, die Oberschenkel stampfen wie die Kolben einer Dampfmaschine. Es fühlt sich gut an. Lebendig. Beim Laufen kann ich fast alles andere ausblenden und finde zu einer inneren Ruhe. Da ist mir dann auch der Drosten mit seinen verzweifelten Rechtfertigungen egal.
Christoph Sanders, Thalheim
Nachdem eine weitere Wasserwerferaktion gegen die wirklich zähe Raupenarmee zumindest Teilerfolge zeigte, zur Ballettprobe. Danach Großeinkäufe aus dem Lebensmittelmassensortiment – wer vier Kids im Vollwachstum nährt, kann bei Normaleinkommen kaum eine volle Bioversorgung betreiben, da heißt es schnell: ein paar Schuhe oder satt werden. Die Supermarktparkplätze voll, Ü50-Geschubse, drei mal hat unser Bäcker das eigene Rogggenbrot nicht da. Auch kein Kopfsalat mehr vorrätig und keine Kartoffeln aus Deutschland: die Lieferungen kommen nicht mehr in gewohntem Umfang nach. So etwas geht offenbar ganz schnell, wenn es in der Kette ruckelt.
Nach dem Einkaufsmarathon versuche ich, meine psychische Grundverfassung wiederzuerlangen: Während die Rasenmäher ihr Samstagnachmittagslied angestimmt haben, dringe ich, den kleinen Airport streifend, mit dem blauen Rad bis zur Stadt Koblenz vor.
Der Rheinpegel inzwischen so niedrig, dass teilweise die Durchfahrt für die Frachtschiffe eingeschränkt werden muss. Süddeutschland bekommt nun seine Waren auf dem Landweg, was wahrscheinlich zur Folge hat, dass weit und breit die Laster ausgebucht sind und mein kümmerlicher Dorf-Aldi nicht mehr ausreichend beliefert wird. Seidene Fäden. Überm Hunsrück/Rheingau weist eine Wolkenwand auf Regen hin – noch aber steht die monumentale Ruine des nie gelaufenen AKW Mülheim-Kärlich an dünnem Wasser. Im Sayntal das Wiedersehen mit einem lonely wolf auf gelber Maschine, auf den ich vor Jahren schon mal traf. Ich erkenne ihn an der Haltung und seinem gleichmäßigen Tritt. Und so fahren wir in zehn Metern Abstand unter einer günstig stehenden Sonne an den Kühen vorbei.
Zu Hause alles in bester Ordnung, die Girls haben aufgeräumt und die Wäsche gemacht. Es besteht also Hoffnung, dass der Kampf gegen die kleinen Displays noch nicht verloren ist.
Zahnputz und Tiefschlaf.
Walter Kintzel, Parchim
In der Not besinnt sich der Mensch auf die Natur (II)
Kaffeeersatzwerbung während des Ersten Weltkriegs
Wie bereits in einem Beitrag ausgeführt (botaniktrommel.de/in-der-not-besinnt-sich-der-mensch-auf-die-natur/), entdeckt der Mensch in Notzeiten oft Naturerzeugnisse, die er vorher nicht beachtet oder gar geschmäht hat. So wurden während des Ersten Weltkriegs auch Lupinen (regional Wolfs-, Heide- oder Wilde Bohne) vermehrt zu Nahrungsmitteln (und vielem anderen mehr) verabeitet.
Was man aus diesem Hülsenfrüchtler herstellen kann, sah man im Oktober 1918 in Hamburg beim Lupinenfestessen der „Vereinigung für angewandte Botanik“, die auf ihrer Tagung auf einem Tuch aus Lupinenfasern eine Lupinensuppe, in Lupinenöl gebratene und mit Lupinenextrakt gewürzte Lupinen-Beefsteaks, Lupinenmargarine, Käse aus Lupineneiweiß sowie Lupinenschnaps und Lupinenkaffee auftischte. Beim Toilettengang konnten die Teilnehmer Lupinenseife und Handtücher aus Lupinenfasern benutzen. Für Korrespondenzen stand Briefpapier aus Lupinenstroh zur Verfügung, die Gummierung der Umschläge war mit einem Lupinenklebstoff versehen.
Ernst Gilg & Karl Schumann „Das Pflanzenreich“, Verlag J. Neumann, Neudamm, 1900
Der züchterische Weg der Lupine, der auf einer Neukombination von Genen beruhte, war lang und die Forschung eine Sisyphusarbeit, da viele Auslese- und Kreuzungsschritte notwendig waren. Ein Blick in die Geschichte: Die ersten ernstlichen Einbürgerungsversuche für Weiße Lupinen in Deutschland liegen in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts, als Friedrich II. von Preußen („Friedrich der Große“ alias „Der alte Fritz“) wiederholt aus Italien Lupinen in sein Reich einführen ließ. Im Preußischen Staatsarchiv liegen aus jener Zeit einige Aufzeichnungen über den Lupinenanbau vor:
„Die Lupins werden demnächst eingepflügt und die Lucerne darin gesät, damit künstliche Wiesen daraus werden.“
Aufgrund ihrer Fähigkeit, auch auf sandigen, nährstoffarmen Böden zu gedeihen, war die goldgelb blühende Lupine (Lupinus luteus) als Vorfrucht sehr gut geeignet. Sie lieferte im Vergleich zu anderen Futterpflanzen auf kargem Grund noch ansehnliche Erträge – nicht von ungefähr wurde sie im Volksmund „Gold des Sandes“ genannt.
Frederik Willem van Eeden „Flora Batava“, De Breuk & Smits, Leiden, 1877
Aus der Wildform der Gelben Lupine wurde die Süßlupine gezüchtet. Der Urtyp hatte einen hohen Bitterstoffgehalt, hartschalige Samen, die die Keimung behinderten, sowie platzende Hülsen, was die Samengewinnung zusätzlich erschwerte – diese Merkmale galt es auszumerzen. Ziel war, eine Pflanze zu züchten, die als Viehfutter geeignet war – sie musste bitterstoffarm, also „süß“ sein. Dieser Aufgabe unterzog sich dann der Botaniker, Pflanzenzüchter und -genetiker Dr. Reinhold von Sengbusch vom Kaiser-Wilhelm-Institut für Züchtungsforschung in Müncheberg. Zunächst entwickelte er eine Schnellbestimmungsmethode des Bitterstoffgehalts, wofür im Jahre 1929 1,5 Milionen Einzelpflanzen untersucht wurden. Dabei fand er fünf, die praktisch frei von Alkaloiden waren. Aus diesen wurden dann die drei ausgesucht, auf die das bis heute verwendete Saatgut zurückgeht. Die Anbaufläche vergrößerte sich rasch – waren es 1931 nur 2 ha, wurden daraus bis zum Jahre 1938 78.456 ha.
Die gezielte Kreuzung zur Kombination der Merkmale bitterstoffarm, platzfeste Hülsen und weiche Samenschale zeigt, wie erfolgreich Züchtung sein kann, weist aber gleichzeitig auf die beharrliche und oft mühselige Arbeit der Forscher hin – es sei hierbei auf den Tod von rund 14000 Schafen im nordostdeutschen Raum hingewiesen, die nach mehrjähriger Lupinenfütterung verendeten. Da der für die Bitterkeit verantwortliche Alkaloidgehalt dominant vererbt wird und Lupinen teilweise fremdbestäubend sind, kann es durch Mutationen, Einkreuzungen oder Rekombinationen immer wieder zur Entwicklung bitterstoffreicher Pflanzen kommen.
Ich entsinne mich, dass wir Kinder in den ersten Nachkriegsjahren dazu angehalten wurden, aus den Feldern der gelblühenden Lupine, die blauen, schmalblättrigen Exemplare auszureißen – heute würde man sagen „Wir haben selektiert.“ Als Grund wurde uns gesagt, dass die blaublühenden Exemplare Bitterlupinen sind.
Die heutige Wiederentdeckung der Lupine als Koffein- und Fleischalternative.
Die zugrundeliegende sowie weiterführende Literatur und andere Quellen können gern beim Autor angefragt werden. (botaniktrommel@posteo.de)
Christoph Sanders, Thalheim
Die sonnenstrahlende und trockene Maiwoche geht weiter. Es ist wundervoll, morgens von Vögeln geweckt zu werden, noch übertönt ihr Reviergesang das endlose Rauschen von der Landstraße. (Ich bin einfach übersensibel geworden.) Die Türkentauben haben jetzt das Haus für sich, die Blätter blickdicht für Feinde. Ich mags, wenn sie wieder ein Nest hinbekommen. Nach ein paar Tagen Abstinenz sind die Hasen gierig nach Löwenzahn. Ein gewisser Mangel steigert also den Genuss. Pfingstrose und Gelbe Iris. Harmonie und Ruhe. Außer am Buchs, über den die nächste Welle der Raupenarmee marschiert. Dieser Plage werde ich nicht Herr. Erneute Kampfwässerung.
Kleiderprobe für das kleine Schulkonzert der vereinten Bad Emser Musikschulen. Aus meiner Zwölfjährigen wurde in fünf Minuten eine Dame. Erstaunlich. Mit den Mädchen im Auto nachgedacht, warum hier 90% der Häuser weiß gestrichen werden – weiß ist sauber und ordentlich. Spermüllfunde: Eine Küchenmaschine und ein orangener Krupps-Mixer, der voller Mehl war. Die AEG Finesse Plus äußerlich noch gut erhalten, aber nach kurzem Lauf mit unschönem Geräusch elektrisch wieder tot, der 3 Mix läuft. Mit dem Sohn dann ein, zwei Gartendinge erledigt. Wäsche und Toast, anschließend aufs Rad. Bei Aldi die Schütte mit den israelischen Kartoffeln als einzige noch voll.
Frank Schott, Leipzig
Schließlich regnet es doch ein wenig. Am Nachmittag waren die ersten größeren Wolken aufgezogen. Als ich am frühen Abend eine Runde zur Drogerie ging, um Leckerlis für die Katzen zu holen, versprach der dunkle Himmel tatsächlich Regen. Und siehe da! Die ersten Tropfen trafen mich an der Haustür. Wenig später regnet es etwa zehn Minuten am Stück. Hoffentlich reicht es, um die Luft etwas zu reinigen.
Die letzten zwei Tage war es kaum auszuhalten. Die Temperaturen waren angenehm, aber der Wind trug jede Menge Sandstaub mit sich. Der biss in die Augen, reizte verstaubte Nasen zum Niesen und brachte den kratzigen Hals zum Husten. Wieviel Staub aufgewirbelt worden war, sah man auf jedem Autodach, überhaupt auf jeder metallischen Oberfläche, welche dem Wind schutzlos ausgeliefert war.
Zuvor war ich trotz tränender Augen, juckender Nase und kratzigem Hals laufen. Es war besser, als befürchtet. Ich lief überwiegend im Wald, wo es nicht nur kühler und die Luft feuchter war. Die Bäume mit ihrem speziellen Waldklima hielten den Wind säuberlich draußen.
Erstaunt bin ich immer wieder, wie wenig das Vernetzen der Technik tatsächlich funktioniert. Ich habe ein Handy und einen Fitnesstracker desselben Herstellers (er fängt nicht mit A an). Der Tracker überträgt alle Daten von der Anzahl an Schritten über den Puls bis hin zur zurückgelegten Strecke an die App des Smartphones. Die listet das auch in meiner täglichen Erfolgshistorie auf: „Wunderbar, du bist mehr als 6.000 Schritte gegangen, warst mehr als 90 Minuten aktiv und hast dabei über 500 kcal verbraucht“. Nun behauptet die App aber stur und steif, ich sei noch nie mehr als 5 Kilometer gelaufen und empfiehlt mir, dies doch einmal zu tun. Weil der Akku leer war, hatte ich heute die App und nicht den Tracker mitlaufen lassen. Und bekam prompt ein Lob von der App. „Toll gemacht, deine schnellsten jemals zurückgelegten 5 km“. Ich frage mich: Warum reden die nicht miteinander? Vermutlich sind Tracker und App wie ein altes Ehepaar. Sie reden über das Gleiche, aber sie verstehen sich nicht.
Egal. Die wirkliche Belohnung nach dem Lauf war der Blick in den Vorgarten, wo der Flieder immer noch blüht und die Azalee sich gerade zur vollen Blütenpracht entfaltet.
Susanne Kasperowski, Gadebusch
Außenkamera Garten, 03:47:43, 12-05-2025
Christoph Sanders, Thalheim
Strahlender Morgen, Wasserkampf am Buchs – Hemizyklus: Strauch maximal freilegen, durchblasen, Raupennester zersprengen!!! Gelbe, wild ausgesäte Lilien am Weg, eine Päonie in Purple – das sind die Farben des Tages. Am Nachmittag im Küchenradio plötzlich Stevie Wonders „Too High“. 1973. Fender Rhodes, Chor, Moog, Bass und Drums trennen sich sauber von der Stimme. Bin jedesmal aufs Neue von den haarscharf dissonanten Linien begeistert. Man gratuliert zu seinem 75ten Geburtstag. Dann kommt, woran sichunsere Hörer erinnern: „Happy birthday“ und „I just called“ Wie flach. Wieder aufs Rad, erneut das Vorderrad platt. Der Mantel hats nun hinter sich.
Lore Morr, Parchim
Jetzt, wo es wärmer ist, sind wir immer mit geöffneten Autofenstern zu unseren Ausflugszielen unterwegs. Damit wir ja nichts von der Landschaft verpassen, fährt meine Nachbarin auch ganz langsam. Ab und an müssen wir an den Straßenrand und warten, bis uns die anderen überholt haben, manche Fahrer hupen schon ganz wild.
Gerade waren wir in Mooster in der Nähe von Sukow, um uns dort die Pferde anzuschauen. Es waren ganz viele Fohlen mit ihren Müttern auf der Koppel. Die Jungen waren aber schon etwas größer, ich denke, ungefähr vier, fünf Monate alt. Damit die Tiere genug zu trinken haben, hat ihnen der Bauer blaue Wassertonnen hingestellt.
Christoph Sanders, Thalheim
Ein klarer, frischer Montagmorgen. Der Sohn mit Diskus und Speer zur Abiprüfung Er ist sehr nervös und bekommt das Porridge kaum herunter, ich hingegen könnte ohne gar nicht erst in den Tag. So verschieden sind wir. Weiterhin im Schädlingsbekämpfungseinsatz: Der Rückschnitt und die intensive Wässerung der Hecke haben alles übersichtlicher gemacht. Mein Jagdauge ist allmählich trainiert – in der aufgehenden Sonne verraten sich die Tiere durch glitzernde Härchen. Farblich sind sie dem Buchsblattwerk perfekt angepasst – wenn sie sich nicht regen würden, wären sie kaum auszumachen. Die Hauptnester liegen offenbar an den Extremitäten der kleinen, halbrunden Hecke. Mit dem Sprühkopf kann ich chirurgisch genau vorgehen, was auch nötig ist. Das Wachs macht dann seine Arbeit und trocknet an der Luft aus. Das Kriechöl ist nur partiell tauglich.
Mit dem roten Rad Aufbruch zu den notwendigen Besorgungen. Die losen Äpfel aus dem Alten Land die zweitbilligste Wahl heute: 2,49 pro kg. Doch gegen 1,99/kg aus Chile kommt niemand an. 3,49 für die Bioäpfel. Die sind riesig. Dann teilt man sich zu dritt einen Apfel – gehts noch?! Klar, geht. Verzicht beim Parmesan (Grana Padano), da zu teuer. Dann halt Bio-Emmentaler, der wesentlich preiswerter ist.
Mathematik mit der Zwölfjährigen. Die Anfänge der Algebra. Die Kunst, das unbekannte Dritte ausfindig zu machen. Das verkümmert dann meist ab dem achtzehnten Lebensjahr auf dem Weg zu den Brotarbeiten. 90%ige Schokolade und Mokka, der nächste 40-km-Fahrdienst. Wie gut, dass ein Diesel-KfZ weniger als 7 Liter auf 100 Kilometern verbraucht. Das haben hier manche auf dem Schirm.
Bradbury beendet. „Marschroniken“ wirklich beeindruckend. Ein in Skizzen geschriebener Roman, in dem sich ein Glanzstück an das nächste reiht: Auf die halluzinierte Begegnung eines Kolonisten mit einem Marsianer, die beide völlig unterschiedliche Welten, sich dabei aber gegenseitig sehen, ein hartes Südstaaten-Kapitel, wo gerade der Exode der schwarzen Bevölkerung beginnt. Die haben eigene Raketen gebaut und hauen damit jetzt von den alten weißen Männer ab. Deren Gewalt, Erpressung, Lynchjustiz nur angedeutet, aber großartig und klar auf den Punkt gebracht. Wer dergleichen liest, macht sich wenig Illusionen über Großamerika.
Mit Lutoslawskis Cellokonzert weiter Richtung Nacht: Viel Humor, offen. Der Österreicher Heinrich Schiff sehr gut, müsste nur etwas näher an eine Jazz-Phrasierung ran …
Helko Reschitzki, Moabit
Aix galericulata
Die Lufttemperatur zuletzt bis zu 18°C. Sender Wolfsschlucht meldet fürs Schlachtenseewasser komfortable 17-18° – bin jeden Tag etwas länger schwimmen. Die imperialistischen Mandarinenten haben nun den gesamten Bereich um den See erobert – wenn du jeden Tag unauffällig einen Meter weiter watschelst, hast du irgendwann halt das Territorium der anderen besetzt. Ist trotzdem noch genug Platz da, zum Beispiel für brütende Blässhühner, auch wenn das eine Nest in der Süduferbucht zerstört ist – es gab an der Stelle Dauerbeef mit den Stockenten. Bei diesen ist der erste Nachwuchs der Saison da: Fünf winzig kleine Junge, die dicht neben ihrer Mutter schwimmen.
Bin seit ein paar Tagen (an der Seetaille gerade rüber) ans Nordufer gewechselt (was mit dem Sonnenstand meiner neuen Badezeit zu tun hat). Komme dort mit einer interessanten Dame ins Gespräch: Wirbelsäulenspezialistin an der Charité, die vor langer Zeit aus Israel abgeworben wurde. Sie wollte zunächst nicht in die von der Klinik angebotene Wohnung nach Zehlendorf ziehen, weil sie dachte, das „dorf“ stehe für so etwas wie ein Kibbuz. Nun ist sie froh, so schön zu wohnen. Verbringt am See oft ihre Mittagspause. Operiert lieber Kinder, da diese in der Nachversorgung begeistert zeigen, was sie bereits alles wieder können, während Erwachsene oft beklagen, was alles noch nicht geht. Sie sagt, dass „der Deutsche“ überhaupt viel meckert und nicht wenige unzufrieden sind, und das, obwohl es uns hier vergleichsweise gut geht (trotz all der Kritik, zum Beispiel am Gesundheitswesen und der Altenpflege). Ich gebe ihr recht.
Brütendes Blässhuhn
Klar, dass wir uns auch über die Vögel vor unserer Nase unterhalten. Und das tolle Filtersystem des Sees, die Heilkraft von Wäldern und Gewässern. Ich kann etwas aus Heinrich Schipperges „Die Kranken im Mittelalter“ erzählen, das ich gerade lese. Über die vielen Russen in Berlin kommen wir auf unsere Kindheiten zu sprechen – sie fragt mich über das Verhältnis der DDR-Bürger zu den Sowjets aus. Wir vergleichen das mit den US-Besatzern. Ich erzähle, wie besonders es war, ab und an einen Streifen Wrigley’s Spearmint zu kauen oder eine Apfelsine zu essen. Dass man gute (d.h. im DDR-Fall echte) Schokolade genüsslich und lange im Mund schmelzen ließ, kennt sie auch noch. Und heutzutage quellen die Supermarktregale über (REWE: 65 Sorten Senf!) – und die meisten motzen. Uns fehlt Demut. Und der Vergleich zu anderen Ländern. Interessanterweise ordnet sie mich herkunftsmäßig sofort als eine Art Ausländer ein, viele der Westdeutschen, die ich so kennenlerne, machen das nicht. Da sie noch Visiten auf der Kinderstation hat, muss sie sich dann wieder aufs Rad schwingen. Sehr nette Verabschiedung (sie bedankt sich nochmal für meinen Tipp mit den selbstbefüllbaren Teebeuteln). Wir hoffen beide, dass wir unser Gespräch einmal fortsetzen werden.
Christoph Sanders, Thalheim
Gute Samstagsfahrt, auch wenn der Anfang deutlich im einstelligen Temperaturbereich lag – Überhandschuhe und die leichte Windjacke haben Schlimmeres verhindert. Zäher Beginn dennoch. Die Autozahl per km verdichtete sich stündlich, ab Mittag völlige Mobilmachung. Freizeitland D: Kollisionen von E-Bikern mit Rollern, Oldtimern und Rad-Paraden. Der Rheingraben von Mainz bis Ludwigshafen eng besiedelt. Die Arbeiterquartiere der Hemshof-Kolonie im Kraftfeld von BASF – überschuldete Kommunen, seitdem dort Werksteile geschlossen wurden. Mein Radkumpel von Worms bis Altlußheim dabei. Er wickelt gerade den Hausstand seines Vaters ab. Seit dem Tode der Mutter gibt es keinen Familienzusammenhalt mehr, die fünfhundert Fotoalben, in denen seit 1955 exakt jedes Festessen abgelichtet wurde, überlässt er dem Altpapier. Seine Frau bestellt für die Buchhandlung des Sohnes immer mehr bei Amazon: die liefern schneller als der Grossist, bei dem auch die Rückgabe komplizierter ist. (Was den nicht daran hindert, nun den Monatsbeitrag um 30% zu erhöhen.) Die Kunden werden immer ungeduldiger und wollen am Tag nach der Talkshow das Buch im Laden sehen. Amazon-Boten arbeiten rund um die Uhr, so wie all die anderen Divisionen unserer Schattenarmee auch – ab und an sah ich welche neben der Straße.
Sonntag Ruhetag. Der Kampfeinsatz gegen die Gartenschädlinge geht natürlich trotzdem weiter. Die Waffen sind Wachs, ein Rechen und WD 40. Das Kriechöl mit direkter Wirkung – ich hatte es bereits gegen ein Wespennest im Fahrradschuppen eingesetzt. (Vielleicht eine Art Nervengift?!?) Nachdem ich das Rondell nach Nistgewebe durchgekämmt habe, Übergang zur Vertikalwassersprengung in den Buchs: Harter Strahl mit drei Atü direkt auf die Nester der unentwegt nagenden Tiere – ein Inferno für diese Raupenbrut! Montagfrüh dann Phase 2 – die beiden wichtigsten Angriffspunkte sind nun bekannt. Warum nur interessiert sich die Vogelwelt nicht für den Strauch? Der Garten ja ansonsten friedlich und harmonisch, wie das nach einem langen Maientag sein soll. Die Kinder bekamen sogar Eis spendiert!
Am Frühabend El-Clásico-Stream. Erstaunliche Fehler in der Real-Abwehr. Aber für Fehler ist auf diesem Niveau keine Zeit!!! Mbappé doch tatsächlich mit einer Schwalbe … Barça gewinnt 4:3.
Wochenenderkenntnis: Der steigenden Sonne hinterherzusehen und selbstgebrannten Mirabellenschnaps zu probieren hilft generell sehr.
Frank Schott, Leipzig
Wildschweine fressen keinen Bärlauch. Wenn man mit diesem Satz ein Gespräch beginnt, hat man vermutlich die Aufmerksamkeit eines jeden Gegenübers erweckt. Warum die Wildschweine den Bärlauch verschmähen, weiß ich nicht. Ich beobachte es aber jedes Jahr aufs Neue in deren Gehege in unserem Wildpark. Während der gesamte Boden erdigbraun vom Durchwühlen mit Schnauzen und Hufen ist, bilden die Bärlauchpflanzen eine einzige grüne Oase.
Doch es gibt auch Neues von den Wildschweinen zu berichten: Die jüngste Generation ist auf die Welt gekommen. Die Frischlinge trotten ihrer Mutter hinterher – und wie diese ignorieren sie den Bärlauch! Dessen Zeit nun zu Ende geht: Brennnesseln, Kräuter und Jungbäume verdrängen ihn. Im Verwelken sondert er von Tag zu Tag mehr von seinem charakteristischen Geruch ab.
Zum Joggen fahre ich momentan lieber ein Stück mit dem Rad zum Wald, als von zuhause aus zu starten. Wegen der vielen Baustellen ist der Verkehr (besser der Dauerstau) teilweise so dicht, dass man selbst als Fußgänger Schwierigkeiten hat, die Straßen zu queren.
Ich laufe eine gemütliche Runde durch den Auwald. Die kleinen Pfade abseits der breiten Wege, die aus der Stadt heraus zu den Seen im Süden Leipzigs führen. Mir begegnet mir kaum ein Mensch. Wenn, dann sind es Hundebesitzer mit ihren Tieren oder andere Jogger. Man hört den Kuckuck, den Specht, Spatzen und Meisen und noch viele andere Vogelstimmen, die ich nicht zuordnen kann. Ein Zwischenfall: Ich verschlucke eine kleine Fliege oder Mücke. Danach kratzt der Hals, bis ich mich freigehustet habe.
Ich mache einen Schlenker die Pleiße entlang. Auf dem Fluss sehe ich die ersten Kanufahrer – seit April ist die Schleuse Connewitzer Wehr wieder geöffnet. Ansonsten das pure Waldidyll. Schließlich bin ich nach gut einer Stunde und etwas mehr als 10 Kilometern wieder am Ausgangspunkt. Heute war mir nicht nach Bestzeiten zumute. Stattdessen habe ich einfach nur den Wald auf mich wirken lassen.
Christoph Sanders, Thalheim
Ein klarer Donnerstagmorgen, kaum Tau, kühl. Der Wettstreit der Amseln ist beendet, nur noch sporadisch dringen Strophen aus dem immer dichteren Grün. Schade, dass der Zaunkönig nicht sesshaft wurde – der wird anderswo dichteres Gebüsch gefunden haben.
Kampfmitteleinsatz gegen die heimtückischen Raupen. Am Morgen den Buchs zurückgestutzt und das Schadensbild analysiert: 30% Kahlfraß. Die ersten Tierchen kriechen hervor. Perfekte Anpassung an die Blattfarbe, nur die grüngelben Längsstreifen verraten sie. Und die Bewegung. Man kann auch wahnsinnig werden! Die Niststelle ist von einer Art Spinnwebe gesichert. Noch. Der direkte Sprüher wirkt schnell und sicher. Mein Mittel der Wahl ist ein Fahrradkonservierer, der dem Wert eines Fahrrads entspricht – das sind Wachse, die beim Trocknen einen zähen Film bilden. Die toten Raupen wirken auf den Blättern wie festgeklebt. Diese Buchshecke muss gerettet werden, die Kugel weiter rechts ist wegen ihrer Schattenlage nicht gefährdet.
Freitag weiter mit strahlendem Hochdrucklage, der Phonekompass bestätigt die Windrichtung Nordost. Das ist wichtig, weil es morgen mit dem Rad 240+ Kilometer nach Südwesten geht. Zwei Gänse prüfen den Landeplatz Kirchturm und kreischen wieder ab. Der neunzigjährigen Nachbarin aus dem Garten lila Flieder für das Grab ihrer Mutter (Jahrgang 1900) geschnitten. Kurz den Rasen gemäht. Die Teeniegirls zur Musikschule gebracht. Trost für unsere Kleine, deren Freundinnen immer illoyaler werden und eindeutig von TikTok gesteuert sind (was deren Eltern leugnen). Siesta auf dem Parkplatz der Schulleitung mit Sicht aufs Lahntal, den Bahnhof, den Limburger Dom. Ringsum helles Laub, in der Ferne Rotoren. Anschließend den Sohn aus einem 7 Kilometer entfernten Kaff abgeholt, weil er nach der Abiprüfung (5h30 Mathe und Speerwurf) nicht rechtzeitig aus dem Bus gestiegen war. Ich konnte dem völlig Platten das letzte (sehr gute) Stielkotelett mit Feldsalat und Frühkartoffeln kredenzen, nun gehts ihm besser. Fleisch sollte man immer bei dem Metzger kaufen, der die Namen seiner Viehzüchter kennt.
Waschmaschine leeren, die Wäsche aufhängen. Der Teenie wurde von mir mit der Zubereitung des Abendbrots beauftragt: Lernen, sich um die Gastschülerin zu kümmern. Das Rad ist gerüstet, auch die Wahl der Kleidung steht fest, der letzte kleine Infekt ist durch, da ist vor allem das Ausruhen wichtig. Angepeilt sind 240 Kilometer in 10 Stunden mit Haltepunkten in Mainz und Worms und einer Eisdiele im Kraichgau für den letzten Schub. Allmählich sinkt die Sonne.
Frank Schott, Leipzig
Momentan ist mir abends oft nach einem Spaziergang zumute. Meist, obwohl ich vorher schon sportlich aktiv war. Eine innere Unruhe treibt mich. Häufig führt mich der Weg an der größten katholischen Kirche im protestantischen Leipzig vorbei – der 2015 geweihten St. Trinitatis Kirche. Oder Sankt Tetris, wie der Sachse ob der kubischen Form, spottet.
Wenn man aus dem Süden kommt, erstreckt sich vor dem Bau seit langem eine Baugrube. Vor etlichen Jahren wurden mit großem Elan Bäume gefällt, die Fläche wurde beräumt. Bagger rückten an, um von den Archäologen gestoppt zu werden. Ob viel gefunden wurde, weiß ich nicht. Mir sah das nach typischen Kellergewölben von Gründerzeithäusern aus. Seither erobern sich hinter dem Zaun Bäume und Büsche das Areal zurück, auch wenn große Bauschilder weiterhin große Bauwerke verkünden.
Noch eine Anekdote. Die große katholische Kirche steht direkt gegenüber dem Neuen Rathaus – eine sehr exklusive Adresse. Dummerweise heißt die Straße davor Martin-Luther-Ring. Da war guter Rat teuer. Am Ende wurde eine schmale Straße auf der Rückseite der Kirche mitgebaut und für diese entdeckte man den schönen alten Namen Nonnenmühlgasse wieder. Da sind die Leipziger Stadtentwickler wohl mit knapper Not dem Fegefeuer entgangen.
Christoph Sanders, Thalheim
Mit der kleinen Tochter (Atemwegsinfekt) und dem Abiturienten zu Hause. Im vergangenen Jahr eine ganz klare Häufung von Infekten mit Husten bei uns, das war schon auffällig. Dann Anfang des Jahres eine Welle, die wirklich heftig war, allerdings nicht für jeden: Die Zwölfjährige war deutlich leichter erkrankt als die Sechzehnjährige, dann folgten abgeschwächt der Sohn, meine Frau und ich. Ob das Grippe ist oder Covid oder sonstwas, werden wir nie erfahren, es gibt ja seit 2022 keine Homekits oder anderweitigen Tests mehr, vielleicht nicht einmal mehr eine ernsthafte Mutationsforschung.
Auf dem wunderschönen Weg nach Wetserburg und zurück intensiv mit meiner Ballerina das 19te Klavierkonzert von Mozart studiert -Haskil 1955 vs. Brendel 1978. Haskil und die Berliner Philharmoniker sind locker fürs Finale qualifiziert. Ein Orchester, ein Klavier zum Singen bringen, zu Dialog und Drama, das ist die Kunst. Wobei 99% der Orchester diese Stücke vermutlich fehlerfrei abspulen können -aber eben nicht mehr. Und da ich sowieso schon wie ein Kultursnob klinge, packe ich meine Orangenbittermarmelade aus und esse dazu Grapefruitschalen. Grapefruits waren den Winter über problemlos und verdammt günstig zu haben – dass der Kilopreis unter dem der Massenäpfel liegt, zeigt, dass da etwas grundlegend nicht stimmt.
Ray Bradburys „Marschroniken“ (1948) wunderbar – alles knapp und unspektakulär gehalten, gute Dialoge, starke Gedanken. Nichts ist zu genau ausgeführt und damit null gealtert. Keinerlei Eruierung von Technikproblemen oder Maschinenbedienungen – man landet eben und steigt aus. Die Marsmenschen halten die Astronauten für andere Marsmenschen und das Raumschiff und die Spaceanzüge für eine Halluzination – für sie sind das perfekte Irre mit perfekten Hallus und darum gefärlich, weshalb sie dann getötet werden. Nach der dritten Befliegung sind die Marsianer aufgrund einer Windpockenepidemie ausgerottet, der Planet wird zum Fluchtpunkt für die Erdlinge, die vor der nuklearen Katastrophe fliehen. Einer der Neu-Siedler hat die Idee, durch Baumpflanzungen den Sauerstoffgehalt der Marsluft zu erhöhen. … undsoweiter … Wirklich großartig!
Auf der Erde der Ostwind inzwischen wieder auf Nordost. Außer einem mühsamen Tausch von Zahnkranz und Kette ist nichts weiter geschehen. Jetzt PSG – Arsenal mit dem Sohn, der immer noch vom Ausscheiden des CF Barcelona frustriert ist. Dembélé auf der Bank. Kommt in der 70., zwei Minuten später spielt er den entscheidenden Pass. Endstand: 2:1. Finale: PSG gegen Inter Mailand. Gute Nacht.
Christoph Sanders, Thalheim
Ein kühler, zum Teil blauer Morgen. Etwas ruhiger als sonst, aber in den Bäumen doch bewegt. Die Tauben dringen ins Astwerk ein, die Verteilungskämpfe mit ihren Hauptfeinden Elster, Häher und Specht scheinen beendet. Unser Haus riecht nach dem Vollwaschmittel, das irrtümlich besorgt wurde und mit dessen Dunst ich auf Kriegsfuss stehe. Fast alle dieser Sorten sind in einer Weise pafümiert, die wohl eine penetrante Form von aggressiver Sauberkeit signalisieren soll. (Einer der Gründe, warum ich Rennradfahrer in Lycrazeugs meide.)
Bei steifer Nordwestbrise kein guter Tag auf dem Rad: Am Bahnhof Steinefrenz ein Plattfuss – Zweitschlauch eingezogen, mit der vierzig Jahre alten SKS Rennstar befüllt. Zu Hause Flickstunde: Nadelstich und ein neuer Mantel, nicht nur der Abrieb ist dessen Feind, auch UV-Licht, durch das neuere Gummimischungen spröde werden.
Im Bahnhof Steinefrenz wird der Westerwald-Ton verladen und nach Norditalien gebracht, wo inzwischen die großen Produktionsstätten ansässig sind. In unserer Ecke gibts nur noch etwas Fliesenindustrie (Steuler) und die interessante Weiterverarbeitungsfirma Witgert in Herschbach, die Ton zu keramischen Fertigmassen aufbereitet. Das regionale Gedächtnis der Zunft befindet sich im Keramikmuseum Westerwald, das regelmäßig aus den Nachlässen Töpferware kauft.
Nachdem mein neues Smartphone mehrfach plingte, hab ich es jetzt kurzerhand ausgestellt. Ich werde nicht damit warm, dass mir jeder jederzeit IRGENDWAS zusenden kann. Das Festnetz wird von den meisten nur benutzt, wenn es brenzlig ist und man ein wirkliches Gespräch sucht. Die Email ist eine großartige Erfindung, scheint aber eine eingebaute Hemmschwelle zu haben. Mein Verdacht: All diese omnipräsenten Geräte stehlen uns Zeit und erzeugen nur ein Grundrauschen aber keine Kommunikation. Einzig reeller, zählbarer Sinn: Die Erweiterung und Beschleunigung der Verkaufszone.
Brauche mehr Schlaf.
Susanne Kasperowski, Gadebusch
Außenkamera Garten, 23:38:04, 05-05-2025
Christoph Sanders, Thalheim
Mit „Der eingebildete Kranke“ auf Youtube am Sonntag zur Nacht. Krankheit als Selbstschutz und toxische Strategie – keine schlechte Variante. Der Montagmorgen mit den üblichen Startschwierigkeiten: der Teenie verschläft sowie Zugausfall, da noch einige sturmgefällte Bäume auf dem Gleis liegen. Am Unwettersamstag hatte ich einen Aha-Effekt, was Kommunikationsmittel angeht: Als ich meine Frau warne, was da auf uns zukommt, ist ihre Reaktion, sie habe gerade Wichtiges zu erledigen, alles andere könne warten. Also bringe ich allein einige Sachen in Sicherheit. Das Unwetter tobt schlagartig los. Ihr späterer, überraschter Kommentar: Ihre App habe das gar nicht angezeigt! Nun habe ich begriffen, warum die Ahrtal-Katastrophe so kam, wie sie kam: Da es keine offizielle Durchsage gab, versuchten alle an ihrer Tagesroutine festzuhalten. Einschließlich der politischen Verantwortlichen, die gedanklich bereits im verplanten Wochenende steckten. Und so wird dann eben kein Katastrophenalarm ausgelöst, da kann der einsame Polizeihubschrauber noch so viele Videos der Wärmekamera in Echtzeit senden. Die Weiterleitung der Nachricht unterbleibt, weil keiner sie richtig ernst nimmt. Durch das mentale Delegieren an (imaginäre) Apparate, geht unser Instinkt und die Nutzung der humanen Intelligenz komplett verschütt. Und auch der Rest: Wir speichern täglich Bilder (und anderes) und leisten damit eher Verdrängungs- als Erinnerungsarbeit. Dadurch verlieren wir komplett unser persönliches historisches Bewußtsein, die Etappen der eigenen Existenz gehen in einer Art Brei unter. Peter Kurzeck schrieb alles auf, weil er Angst vor diesem definitivem Verschwinden hatte. In unserer Familie gelte ich als Beeinträchtigter des Digitalen.
Für alle Bolognese gekocht. Dann aus Bradburys „Marschroniken“ vorgelesen – die Jüngste fands witzig. Weiter mit Musik und Text. Nach einer Dreiviertelstunde ergebnisarmen Gefrickels am alten, festgefressenen Zahnkranz und einer Hinterradbremse entkrampfe ich, während das Teewasser heizt, meinen Rücken. Mit Pai Mu Tan die Radionachrichten. Dann aufs Rad. Ich bekomme beim Trödler einfache Manschettenknöpfe aus vernickeltem Metall. Am Zug, der den Steinefrenzer Ton Richtung Sassuolo bringt, ein neues Graffiti: „Der Soldat, der Liebesromane schreibt.“ Ich stelle mir immer vor, dass das einer dieser ausgemergelten, aus dem Kloster entronnenen Mönche sprayt, die an großen Häfen und Bahnhöfen herumlungern.
Nachtruhe bei frischen, einstelligen Temperaturen.
Frank Schott, Leipzig
Bereits am Samstag kündigte es sich an: Es wird wieder kühler. Nach ausgiebigen Regenfällen bis in den frühen Morgen sind es lediglich frische 12° als ich am Sonntagvormittag meine Laufschuhe schnüre. Der Wetterumschwung zeigt sich auch darin, dass deutlich weniger Menschen unterwegs sind – weniger Fußgänger mit und ohne Hund, weniger Radfahrer, kaum Jogger.
Das Laufen hält warm, zumal ich mich dieses Mal für Intervallläufe entschieden habe. Ich zähle Schritte, was mir extrem hilft, den Kopf von allen Sorgen zu befreien. Grob geschätzt laufe ich etwa drei Minuten im normalen Tempo, dann ziehe ich für ca. eine Minute das Tempo an.
Ich bin erstaunt, wie wenig Pfützen es auf der Strecke gibt, trotz der teilweise heftigen Niederschläge. Der Boden hat überraschend viel Wasser aufgenommen. Ich liebe die Spiegelungen der Natur in den Pfützen, aber die meisten sind zu klein für spektakuläre Bilder.
Kurz vor Ende werde ich auf Höhe der Pferderennbahn doch noch belohnt. Nach dem Motto, Platz ist in der kleinsten Pfütze, hat es sich ein Entenpärchen an einer Stelle gemütlich gemacht, wo sonst nur Gras wächst. Tatsächlich gibt es hier eine Senke mit lehmigem Untergrund, in der das Wasser oft lange stehen bleibt. Für Liebhaber von Spiegelungen auf Regenwasser – oder Joggern – ein echter Hingucker.
Christoph Sanders, Thalheim
Ein Grauer und milder Morgen. In der Nachbarschaft suchen sich die Amseln jeweils den höchsten verfügbaren Wipfel, um gegeneinander anzusingen. Für uns ist es dann ein Chor. Weitere Regeneration und Gartenpflege. Nach Wochen verblühen jetzt die Tulpen, wobei die Färbung der Blüten immer dichter wird. Das Haus liegt in tiefer Ruhe.
Das Haus seit dreißig Minuten in Bewegung. Kleine Einkäufe mit dem jüngsten Kind. Mit diesem Monat die ersten reellen Preisrückgänge: Nudeln, Müsli, teilweise auch Milch. Wie zuletzt wieder Löwenzahn genascht. Bärlauch hingegen ist nicht so meine Sache – lieber mit Knoblauchzehe anbraten. Die Sonne kommt durch. Samstagslaune.
Am Spätnachmittag wär ich dann fast von der Sonne in die Traufe gekommen: Ein viertelstündiger Guss mit fernem Grollen. Angesichts der schwarzen Wetterwand drehe ich aber vorsichtshalber bei und sichere den Bereich um unser Haus. Zehn Minuten nachdem alles unter Dach und Fach ist, geht der Zauber auch bei uns los: Heftiger Wolkenbruch, die Temperatur fällt um 12 Grad, Böen peischen die Bäume … Genau zu der Zeit ist der Sohn unterwegs! Später berichtet er, dass sein Auto so heftig aus der Spur geschoben wurde, dass er sich lieber in Sicherheit brachte und auf einen Rastplatz fuhr.
Wie richtig es war, gestern umzukehren, sehe ich dann heute: Drei Kilometer nördlich von uns haben die Orkanböen auf einem Korridor von etwa fünfhundert Metern Bäume aus der Erde gerupft und quer über die Wege gelegt. Auffällig, wie schmal die Schneise ist: Davor und danach nur Astbruch, in der Todeszone gefallene dreißigjährige Eichen oder Buchen – selbst mitten im Wald, wo sie einfach in der Mitte auseinandergebrochen sind. Da einige Siedlungen komplett von der Außenwelt abgeschnitten wären, machen sich zupackende Gartenbauer mit mächtigen Traktoren an die Arbeit und räumen alles beiseite. Man stelle sich vor, wie in Hannover oder Göttingen auf die Genemigung eines Sonderauftrags gewartet werden müsste …
Der Sonntag sehr kühl, leicht windig und durchgehend bewölkt. Mein Körper fährt thermisch langsam wieder hoch – ich fühle mich nach der Tour am 1. Mai endlich regeneriert. Ob es am Ozon lag?
Lore Morr, Parchim
Meine Nachbarin ist mit mir zum Siebengiebelhof gefahren, einem urigen Bauernhof in den Ruhner Bergen. Außer uns waren noch viele andere Leute dort. Im Hauptgebäude befinden ein Café, ein Laden und eine Bibliothek. Tageszeitungen gibt es wohl auch, zumindest lasen einige welche beim Kaffeetrinken.
Wir genossen wirklich hervorragende, frische Johannibeerstorte. Dazu trank ich einen sehr guten entkoffeinierten Kaffee. Danach kauften wir Schwarzbrot aus Roggenmehl und Dinkelmehl sowie Kalbsleberwurst. Die schmeckt so, wie ich sie noch aus meiner Kindheit in Erinnerung habe. Man riecht, dass das Fleisch frisch geschlachtet ist, ich komm ja auch vom Hof. Die machen das da alles selbst – so wie wir früher auch. Selbst wir Kinder mussten damals immer wieder mithelfen, ob am Schlachtetag beim Umrühren des Blutes, beim Rübenziehen oder dem Entfernen der Keime von den Kartoffeln, die dann in den Futtertrögen gedämpft wurden.
Auf dem Hof ist alles bio! Die Tiere haben viel Platz, ob im Stall oder draußen, wo sie frei herumlaufen oder -flattern. Das Kälbchen war noch ziemlich wacklig, da es gerade auf die Welt gekommen ist -während die Mutter gemütlich vor dem Haupthaus lang spazierte.
Ich musste mich aber erst einmal dran gewöhnen, wie unaufgeräumt das da ist. Überall standen Werkzeug, Pflüge und andere Maschinen herum, das Gras wuchs sogar aus den Treppenstufen. Sowas kenn ich nicht von früher, da haben wir immer darauf geachtet, dass alles ordentlich ist. Vielleicht haben wir damals auch übertrieben damit, mit den Pflanzenschutzmitteln auf jeden Fall. Aber es war dort nicht dreckig! Nur etwas mölig. Vielleicht fehlt ja zum Aufräumen die Zeit. So ein Hof macht ja sehr viel Arbeit und Personal gibts auch kaum.
Der Hofhund hat uns überhaupt nicht beachtet, erst als ein anderer Hund kam und bellte, wurde er plötzlich munter und sprang auf.
Der Hof ist gar nicht weit weg mit dem Auto, wir haben beschlossen, dass wir öfter mal dorthin fahren; die bieten auch einen Mittagstisch an, wo wir dann essen können. Nachbarn von uns machen das auch.
Frank Schott, Leipzig
Der Ruf der Natur: Unsere beiden Kater sind eigentlich Stubentiger. Aber jetzt zieht es sie mit aller Macht raus in den kleinen Garten. Lauern, anpirschen, nach fliegenden Insekten haschen. Optisch ist der getigerte Kater im Vorteil – versteckt er sich im Dickicht der Blumen und Büsche ist er auch von uns kaum zu entdecken. Der schwarzweiße ist auffälliger, aber genauso ein geduldiger Jäger.
Sie beobachten, nur die Ohren wackeln ein klein wenig. Manchmal zittert auch unmerklich ein Schnurrhaar. Die Schwanzspitze zuckt ganz leicht. Sie fixieren das Ziel und dann, wie von der Sprungfeder gelöst, springen sie mit explosiver Kraft auf ihr Ziel.
Jetzt die spannende Frage für alle Soziologen, die über die Macht und Wirkung von Elternhaus, Erziehung und Umfeld debattieren: Beide Kater, Geschwister übrigens, sind mit circa zehn Wochen zu uns gekommen. Niemand hat ihnen irgendetwas gezeigt oder gar beigebracht. Steckt vielleicht doch viel mehr von dem, was wir tun und wie wir uns verhalten, in den Genen? Unsere Tiger jedenfalls sind so katzig, wie Katzen nur sein können.
Christoph Sanders, Thalheim
Tagesstart mit Beethovens 5. Klavierkonzert – Bernstein und Serkin. Ruhetag nach dem Ausflug in die üppig grünende Rheinebene. Es duftete nach Wildrose, Jasmin und Flieder. Ich freute mich über die vielen Kinder, die schlingernd ihre bunten, neuen Räder ausfuhren. Am Flussufer Partymeilen. Während ich in Beuel an der Schlange vorm „Bikini Beach“ vorbeischlängelte, wummere Techno durch meinen Bauch. Ein Dutzend Beinahekollisionen mit Feierfreudigen.
Hinter Bonn dann Richtung Porz. Eine 20 km lange Folge sauberer Siedlungen westdeutscher Machart. Habe starke Sossenheim-Vibes. Vor dem Portal der großflächigen Einrichtung für psychisch Kranke treffe ich einen Schulfreund, der früher ein geweihter Mönch war. Nachdem er das Kloster verließ, bekam er von der Kirche eine journalistische Ausbildung und arbeitet seit zwanzig Jahren beim Domradio des Erzbischofs. Er wurde sehr spät Vater und hat einen jetzt achtjährigen Sohn. Seine Frau ist Gestalttherapeutin. Ich hoffe, auf ein Wiedersehen – unsere zwei Stunden waren einfach zu kurz.
Fährt man mit dem Rad durch dieses Land der Vororte, versteht man die allseitige Lähmung. Viele sind mit Bezahlung und Verteidigung ihres privaten Eigentums befasst. Ein immenser Beharrungssockel, den man gar nicht richtig beschreiben kann. Anders der Typ auf dem Balkon über dem Pfandhaus in Porz Central – der war bereits aus allem raus und sah dann auch genau so aus.
Der Rückweg unter praller Sonne, ich bekomme (vermutlich vom Ozon) zeitweise Kopfschmerzen. In Neuwied eine Boulette mit Senf gegessen (Senf hilft!) und weiter unter den Maiheimkehrern in den Westerwald. Erschöpft gegen 21:30 Uhr zuhause eingetrudelt – das Dorf lag stille.
Heute Regeneration und kleine Einkäufe für die junge Schar. Der Rasenmäher als Ausgleichssport für meine Sohn, dem Lamine Jamal von Thalheim. Immer noch sonnig, aber etwas diesiger als gestern. Südostströmung direkt aus der Puszta. Abends die nächste 20-km-Autofahrt für einen Geburtstag. Das Landleben 2025.
Deutschland hat seine erste Weltraumfahrerin! Rabea Rogge aus Schöneberg. Vom 01. bis 05. April war die Robotik-Doktorandin der TU Trondheim mit der von Musks Firma Space X gecharterten Fram2 im Kosmos. Finanziert wurde der Trip vom chinesischischen Bitcoin- und Blockchainmilliardär Chun Wang. Die Berlinerin und er hatten sich während einer Ski-Expedition an der Arktis kennengelernt. (Der Flug führte dann auch passenderweise über Nord- und Südpol.) Mit in Rabeas Gepäck: eine Kopie der Freiheitsglocke aus dem Rathaus Schöneberg: „Möge diese Welt mit Gottes Hilfe eine Wiedergeburt der Freiheit erleben.“ Sehr gut! Der erste Funkspruch der Pilotin ging coolerweise ins Kabuff des Amateurfunkclubs ihrer ehemaligen Uni TU Berlin: „Delta kilo zero tango uniform i got you loud and clear.“
Mein Schreck, als ich feststelle, dass KI-Anwendungen nach nur drei Wochen inzwischen in der Lage sind, feine Ironie und Wortspiele zu erkennen und entsprechend zu reagieren. Die Chat-Robots werden bald viele der menschlichen Kommunikationsspartner ersetzen – in nicht wenigen Fällen wird das eine Verbesserung darstellen.
In der Berliner Zeitung ein Artikel über einen Kammerjäger. Ich kieke das Foto an und denke, den kennste doch! Genau: Der war vor zwei Jahren wegen der Taubenplage in unserer Hausanlage und gab uns Mietern individuelle Tipps. Nachdem ich ihm öffnete, flitzte er direkt zum Balkon und sagte, zackzack auf die jeweiligen Stellen zeigend: „Dit is n Krieg. Entweder bauste n Bunker, oder du schießt zurück. Hier, machen se Haken ran, hier ooch, Stahlseile spannen, Plane rüber, fertich. Dann hamm se aber natürlich keen Licht mehr. Oder se ballern zurück! Gehn se in nen Spielzeigladen und koofen da ne Wasserpumpgun. Damit schießen se den Tauben immer uffen Arsch. Det mögen die nich. Die merken sich det und bleiben dann weg. Viel Glück!“ Weg war er. Ich liebe es, wie Berliner uffen Punkt kommen.
Der NDR-„Ernährungsdoc“, der beiläufig rät, dass Vollverschleierte bitte Vitamin D substituieren sollen. Das vielleicht ja ein vollkommen neuer Markt. Ich mag die Ernährungsdocs. Die haben einen der wichtigsten Hebel für mehr Gesundheit und Wohlbefinden in den Mainstream der Jetztzeit gebracht. Dazu ne gute Vermarktung und Medienpräsenz. Unterhaltung, die Verzweifelten hilft.
Am Ostersonntag lese ich vor dem Einschlafen Briefe Ernst Barlachs, die er vor genau einhundert Jahren schrieb – gut, wenn man ab und an daran erinnert wird, wie die damaligen Lebensverhältnisse waren. Andauernd stirbt jemand an heute (zumindest in einen reichem Land wie der Bundesrepublik) einfach zu heilenden oder von vornherein vermeidbaren Krankheiten oder einfach an Schwäche. (1925 betrug die Lebenserwartung der Männer bei uns 55 und die der Frauen 58 Jahre.) In der vorbildlichen Briefgesamtausgabe von Suhrkamp wird zu meiner Freude ein Satz aus „Seespeck“ zitiert: „Tagelang lag er dann versteckt in seinem Bau, kochte selbst und las oder simulierte stillvergnügt im Verborgenen der allgemeinen Unentbehrtheit.“
Christoph Sanders, Thalheim
Zentimeterweise wächst das Grün ringsum, nur die Eiche ziert sich. Sämtlicher Löwenzahn ist nun verblüht. Bevor sie wieder für ein Jahr verschwindet, hole ich uns noch eine Wildprimel ins Haus.
Für Gemüse und Motoröl in die Konsumschlacht: Das frische Geld wurde rechtzeitig vor dem Feiertag ausgegeben – volle Körbe, lange Schlangen. Genug Zeit für einen Blick auf das Zeitschriftenregal:
Da Studien herausfanden, welches Viehfutter am verdaulichsten ist, was Produktionszuwächse verspricht, zeigt sich das „Wochenblatt für Landwirtschaft“ optimistisch. Der Eierpreis steigt weiter. Außerdem: Wer kommt für Schäden kaputter Windkraftrotoren auf, wenn Carbonfasern im Feld liegenbleiben? Landwirtschaft real.
„Aero International“ berichtet über den DHL-Subunternehemer EAT (European Air Transport), ein Frachtflug-Vorzeigeunternehmen am Hub Leipzig/Schkeuditz. Die Flotte besteht aus rund 30 Maschinen, ein dutzend Airbusse vom Typ A300 sind im Einsatz. In der Leipziger Halle können mehrere Flugzeuge gleichzeitig gewartet werden, die allermodernsten Simulatoren sind vor Ort. Frachtflug ist ein 24h/7 Business, da gibt es keine Standzeiten, und falls doch, dann ist das sofort massiv verlorenes Geld. Piloten werden weiterhin gesucht.
Im „Zeit-Magazin“ ein Interview mit einem Forscher, der sich mittels KI über die Sprachformen und geheimen Zeichen der Tiere beugt.
Zum Mittag Hähnchen, Risi e bisi und Blumenkohl in Sahnesauce, dazu Möhrensalat. Die Temperaturen längst jenseits der 20°. Siesta.
Im „SZ-Magazin“ ein sehr aufschlussreiches Gespräch mit dem Cousin von JD Vance, Nate Vance. Der war gerade im Kampfeinsatz in der Ukraine. Die Beschreibungen der russischen Truppenführung gleichen denen vor 80 Jahren. Deprimierend.
In der Post: Ein französisches Buch über altdeutsche Malerei. Der Antiquar in Bayonne hatte es erwähnt. 400 Seiten pures Gold! Die Werkerläuterungen präzise und interessant – Wissenschaftler und Konservatoren unter sich. Mit der Entdeckung der perspektivischen Darstellung war der ganz große Schritt getan. Alle Farben sind da, der Realismus könnte krasser nicht sein. Mit den Religionskriegen endet diese Epoche. Bin glücklich, diesen Fund gemacht zu haben.
Littells „Die Wohlgesinnten“ eine gute Ergänzung zu meinen Karoli-Nachforschungen. Die Himmler-Reden, mit denen alle zu Mitwissern, Mitnickern und Mittätern gemacht werden, die Unterredungen der Organisatoren, die Form der Codes, die auch Vance, der Ex-Marine und UKR-Kämpfer (Sturmregiment „Da Vinci Wolves“) beschreibt.
„Peintures germaniques des collections françaises (1370-1550)“, INHA, 2024
Ein exzellenter Kopfsalat für unsere Kinder, die nachmittags auf der Lahn Tretboot fuhren. Die Lokalbahn wie immer mit schwankender Form, viertelstündige Verpätungen sind normal, obwohl auf den 1,5 Gleisen maximal drei Züge unterwegs sind.
Vergleich der Aufnahmen von Lutosławskis „Sinfonie Nr. 3“: Esa-Pekka Salonen sehr gut, Wit mit dem Polnischen Nationalradio-Sinfonieorchester auf Naxos besser (mehr Schwung drin). Beide Aufnahmen aber großartig! Es ist über so geringfügige Differenzen zu reden, dass diese im Landkreis niemanden interessieren dürften.
Helko Reschitzki, Moabit
Ich gehe einmal die komplette Bernauer herunter. Im Mauerpark seh ich eine Frau mit dem coolen Glitzeraufnäher „I LOVE MOSCHINO“. Am Vinetaplatz blüht duftend Flieder. Touristenhorden überlaufen die Mauergedenkstätte. Wo einst Menschen starben, macht man heute dümmliche Posefotos. Aber besser Selfiegrinser als Soldaten mit MPs, Selbstschussanlagen und auf Menschenjagd zugerichtete Hunde. Ich schaue mir das Areal hinter der Kapelle der Versöhnung an. Ein Stück der sogenannten Hinterlandsicherungsmauer steht noch. Im Ex-Niemandsland befindet sich der Gemeinschaftsgarten „NiemandsLand“, ein Projekt zweier Kirchgemeinden. Blühwiese, Pflanzenkübel, Kräuterwildwuchs – alles angenehmunordentlich.
Auf einem an der Wand lehnenden Grabstein steht als Name schlicht Mutti. Die wurde so alt, wie ich es gerade bin. Direkt daneben dösen auf Liegestühlen ein paar Sonnentanker mit Thermoskannen. Stille.
Vom Garten geht es überganglos auf den im Jahr 1844 eingeweihten St.-Elisabeth-Friedhof. Die dort 1892 errichtete Versöhnungskirche befand sich nach dem Mauerbau mitten auf dem Todesstreifen. Da sie für die Grenzer ein toter Winkel war, wurde sie 1985 gesprengt. Große Wut und tiefe Trauer in beiden Teilen der Stadt – ein weiterer Sargnagel für den dahinsiechenden sozialistischen Staat. Auf und aus den Trümmern der gesprengten Kirche wurde 2000 die Kapelle der Versöhnung errichtet – ein Ort des Gedenkens und Innehaltens, ein Ort der Demut. Ich freue mich, dass ich dort nun einfach so herumgehen und mich an der schönen Friedhofsanlage erfreuen kann. An einigen der Gräber hocken Frauen und zuppeln an Pflanzen herum, harken und gießen. Jemand hat einem der Engel ein paar Rosen in die Hände gelegt. Blauer Himmel, eine wärmende Sonne. Ein entspannter Nachmittag in einem Land, das nicht auf die schießt, die es verlassen möchten, weil sie es dort nicht mehr aushalten.
We were heroes just for one day.
Christoph Sanders, Thalheim
Das Benzin für den Rasenmäher ist da. Da das Gras aber noch voller Tau ist, werde ich erst am Nachmittag loslegen. Zunächst einmal nur die Randstreifen – für die kommenden Wildblumen soll ausreichend Wiese bleiben. (Es gibt bereits einen englischen Ausdruck für diese Verweigerung von 3 mm Rasenöde – ich habe ihn aber vergessen …)
Mit dem Rad ins Städtchen, um frisches Gemüse zu besorgen. Die letzte Monatswoche ist die Woche der orangenen Etiketten auf der Kühlware. Und der Sonderangebote: Joghurt für 40 Cent das Pfund – da freut sich der Familienvater. Und die Kids über die von mir zubereiteten Potatoes mit Baby Blattspinat (: Aldi Bio für 99 Cent!)
Später im Großkaff Westerburg auf die Ballerina gewartet. Nachdem ich sehe, dass die Bücherverschenktelefonzelle mit zwei massiven Vorhängeschlössern gesichert ist, observiere ich vom Parkplatz aus die, die einen Kurzstopp beim Bäcker machen. Trost finde ich in den Libellen, die im Sonnenlicht über die Straße jagen. Während ihnen der Wind in großer Zahl Insekten zuträgt (die ich im ersten Moment für Pappelsamen halte), schweben sie wie Hubschrauber. Nur leiser.
Ein durch und durch strahlendheller Tag. Der Mäher springt nach fünf Monaten wieder an und quält sich durchs üppig-feuchte Gras. Da ich eine längere Trockenphase befürchte, werde ich dort erst einmal nur das Nötigste machen. Außerdem möchte ich mir wieder Zebraspinnen heranziehen. (Wie überwintern solche Tiere eigentlich – und was machen die in der Zeit? Oder sehen wir jedes Jahr nur am selben Ort das Produkt ihrer Vermehrung?)
Charles Bukowski „Hollywood“, Coverdesign: Barbara Martin, Black Sparrow Press, 1989
Bukowskis „Hollywood“ ein sehr reifes Buch und ganz erstaunlich gut gealtert (Erstauflage vor 36 Jahren). Nichts hat sich geändert – weder am Business noch an den ganzen Konflikten; am Alkohol sowieso nicht, außer, dass Fentanyl und anderes dazugekommen ist. Also alles noch krasser als einst.
Letzte Abendkurve mit Lutoslawski und dem Einsortieren von Ligeti. Die Amseln singen ihr Lied – der Rest ist auffallend ruhig.
Frank Schott, Leipzig
Der eine liebt ihn, der andere fürchtet ihn. Waldbesitzer schätzen seine Arbeit. Eigentümer von modernen, mit Styropor gedämmten Häusern versuchen, ihn mit Flitterkram und Raubvogelimitationen zu verjagen. Wenn ich morgens mein Fahrrad in den Innenhof unseres Bürogebäudes schiebe, höre ich ihn manchmal. Heute früh, mit den Augen auf eine Bewegung reagierend, sehe ich ihn dann auch auf einem Ast vor meinem Fenster: Den Buntspecht. Oder wie man in meiner alten Heimat Norddeutschland sagt: Boomhacker.
Christoph Sanders, Thalheim
Kühler blauer Morgen. Komme gerade von der Wiese zurück, auf der synchron ungefähr viertausend Löwenzahne erblühen. Nachdem die Häschen dran waren, hab auch ich eine Portion Blätter verdrückt – herrlich bitter, das zieht im Gaumen richtig nach.
Gestern schwebte überm Garten eine Bienenwolke – ein ungeheures Geräusch! Zum Glück kannten wir das alle schon, bekamen also keine Panik. Der Schwarm formierte sich an einem Baumstamm im Kindergarten gegenüber. Während tausende Immen die Astdicke verdoppelten, schwirrten die anderen paar tausend kreisend in der Luft – wie die Elektronen um den Kern, erratisch aber in definierter Distanz. Wir beobachteten das aus fünf Metern – mit ausführlichen Erklärungen aus der Bienen AG der Klasse 5: Die Tiere sind gerade mit sich selbst und ihrer neuen Staatenbildung beschäftigt. Wir spekulierten, ob der Schwarm die Nacht auf dem Kinderspielplatz verbringen und dann am Morgen Kreischanfälle auslösen würde. Aber wie ein Spuk war nach einer Viertelstunde alles vorbei – das Volk hatte für seine junge Königin einen passenden Ort gefunden.
Tag der Regeneration. Reifenflicken, Nabenfetten, Konen einstellen. Letztere eine der schönsten Arbeiten, die Feingefühl beim Kontern verlangt – danach sitzt alles wieder für mindestens ein Jahr. Viele Freizeitflieger in der Luft. Ein Akrobat übt Rollen und Loopings auf einer alten Kunstflugmaschine mit auffälligem Flügelmuster. Zwei Weltkriegsveteranen kommen von einem Treffen zurück. Eine alte Airbusmaschine in gebrochenem Weiß und ohne jegliche Kennung überfliegt das Haus. In mittlerer Höhe ein Geschäftsjet im Anflug auf einen der lokalen Flughäfen: All das bietet heute der blaue Himmel. Darunter summt und zwitschert es. Wenn Elstern und Tauben sich um ein Nest streiten, kann es sehr laut werden.
Nach Lachs und Paprikazwiebelnudeln erneutes Reifenflicken – eigentlich ist das Winterarbeit. Am Nachmittag ein Abenteuerbuch aus dem Caritas-Eimer gefischt: Drei Jungs aus Köln werden 1947 zu Erntehelfern und merken, dass sie vom schwäbischen Bauern nicht satt gemacht werden, sondern ausgenutzt. Sie treten den Rückmarsch an. Könnte was für meine Zwölfjährige sein. Ich selbst legte gerade nach einer grottigen Waldkindbeschreibung Christian Krachts „Air“ beiseite (‚Sie war ohne Schuhe, sie war ein einfaches Mädchen, sie störte die Armut nicht, sie kannte nichts anderes.‘) Der ganze Roman ist viel zu schlecht um ironisch zu sein. Lieber schnell zurück zu Bukowski, der mit „Hollywood“ ein streckenweise großes, selbstreflektiertes Buch geschrieben hat. Der Verhandlungsstil der Produzenten, die Anwälte, die Telefonate und ungedeckten Schecks: alles ziemlich trumpesk.
Gegen Abend einen Streifen Gras gemäht – so ist die Wiese über den Sommer zugänglich.
Frank Schott, Leipzig
Ein Vierteljahr nach meinem ersten individuellen Halbmarathon wollte ich es noch einmal wissen. Ich habe den gleichen Startpunkt wie im Februar, laufe jedoch zum Beginn eine größere Schleife, in der Hoffnung, streckenmäßig halbwegs eine Punktlandung zu erreichen. Es ist sonnig, aber kühl – perfektes Laufwetter.
Ich merke, dass es kein Winter mehr ist. Alles ist satt grün und ein Vielfaches an Fußgängern, Radfahrern und, auf dem asphaltierten Rundweg des Cospudener Sees, Inlineskatern unterwegs. Die sich von hinten nähernden Sportler versuche ich anhand des Geräuschs einzuordnen. Das Rollen der Skateräder. Das Surren der E-Bike-Motoren. Das satte Summen der Mountainbike-Reifen. Das Klicken einer Kettenschaltung im Leerlauf. Es ist erstaunlich, was man so heraushören kann.
Im Wald komme ich an einem Mann etwa meines Alters vorbei, der am Saxophon übt. Es klingt nach Jazz-Versatzstücken. Vermutlich beschweren sich seine Nachbarn, so dass er hierher in den Forst ausweichen muss.
Nach sieben Kilometern bin ich am See. Ich laufe an zwei riesigen Gänsen vorbei, die auf einer Wiese watscheln, sehe eine Rinder- und eine Elchherde, passiere ein Gatter mit Eseln, beobachte einen Sperber oder Falken (für einen Adler definitiv zu klein) und treffe natürlich viele Hunde mit und ohne Leine.
Am Zörbigker Hafen herrscht reger Betrieb. Die Bootsbesatzungen machen klar Schiff. Ein Sportler kommt gerade mit seinem Segelboot auf dem Anhänger aus dem Winterquartier. Ich überhole grüßend meine Nachbarn, die am Ufer einen Sonntagsspaziergang machen. Ich würde gerne etwas trinken, aber alle drei Ausschänke, an denen ich am See vorbeilaufe, sind geschlossen. Also geht’s ohne Pause zurück.
Mit einem Durchschnitt von 11,6 km/h war ich laut Fitnesstracker unterwegs. 1:53:17 Minuten habe ich benötigt. Am Ende sind es sogar 21,93 km, etwas mehr als die offizielle Halbmarathon-Distanz. Vieles tut weh, Schultern und Rücken, die Oberschenkel sowieso. Aber es ist ein tolles Gefühl, es nach meiner Grippeerkrankung im Februar wieder einmal geschafft zu haben. Und – ich habe meine Laufstrecke gefunden.
Christoph Sanders, Thalheim
Am Samstag eine gute Sonnenrunde mit dem Mannheimer Freund. Hinüber ins Wiedtal, dem man 30 Kilometer lang bis an die Mündung folgen kann. Kleine Abbiegung nach Neustadt-Telegraf, zum Domizil, das Rudi Gutendorf bis zu seinem Tod im Jahr 2019 bewohnte: Eine umgewidmete Lichttelegraphenstation, Vorgänger des Telephons für Staats- und Kriegsnachrichten – da bedienten seinerzeit drei Beamte die Schwenkarme. Aus dem letzten Wegstück, das fast ungeteert ist, ragen Glasfaserkabel. Ein Mähroboter versorgt den hektargroßen Park rund ums Refugium, dessen schmiedeeisernes Tor offensteht.
Viele Kleinstädte auf der Strecke sind anatolische Gewerbeoasen geworden, so Ransbach-Baumbach. Der ursprüngliche Einzelhandel ist aus der Innenstadt komplett verschwunden, die Türken fangen den totalen Leerstand auf und renovieren die vor sich hinrottenden Häuser. Im Ortskern sind nach acht Monaten Großbaustelle endlich 400 Meter Straße geteert. Zu Beginn der Arbeiten wurde eine alte Keramikfabrik gesprengt – einst ein stattliches Gebäude, jetzt ein übergrünender Schutthaufen. Im Vorbeifahren freuen wir uns über jedes Haus, das überleben wird. Am Ortsende umkreist eine blonde Frau in den besten Jahren mit dem Rasentraktor den makellosen, sorgfältig eingezäunten Bungalow. Nur hundert Meter weiter am Waldrand ein Altbau der 1950er, von Büschen und Bäumen umringt, auf der wilden Wiese Schaukel, Plastiktraktor und Trampolin.
Richtg multikulturell dann unser Bäckerstop in der Rheinebene. Auf dem Parkplatz vom Kaufcenter in Bendorf wieder riesiger Flohmarkt. Das Publikum identisch mit dem von neulich an gleicher Stelle – man spricht Russisch, Bessarabisch und anderes. Dabei null Aggression. Mit dem Nötigen versorgt, setzen wir die Fahrt und unser Gespräch über Bücher fort. Über Chlodwig Poths Meisterwerk „Last Exit Sossenheim“, mussten wir beide sehr lachen, besonders er als Mannheimer – denn genau „das ist der Sound an der Kasse, beim Fleischer, beim Bäcker …“ Zum Glück sind sie bald weg, diese unerbittlichen, kryptofaschistischen Deutschen, so das Fazit. Das Buch, eine Studie der alten BRD, sei allen warm ans Herz gelegt.
In der neuen Bundesrepublik hingegen wird an sonnigen Samstagen rasant und unentwegt Auto gefahren. Motorräder schwärmen aus, Wohnmobile werden ausgemottet. Sonst bin ich da unempfindlich, doch die latente Aggression die von einigen dieser Freizeitmenschen ausgeht, ist spürbar. Während sie dich überholen, überholen sie sich auch noch gegenseitig. Und wenn du dann in eigentlich entspannter Abendstimmung aus einem nach Gras riechenden Audikombi zudem von einem rotgesichtigen Mittdreißiger angebrüllt wirst, weil du als Radfahrerden Verkehr aufhältst, weißt du: es sind die Kinder ihrer Eltern. Advantage Sossenheim.
Nun der zweite Teil des Sonntagsfrühstücks – ein Sencha mit seiner milden Nuss-Heunote. Die Hasen haben frischen Löwenzahn – den wir gestern auf der Tour an einem unverdächtigen Standort auch zupften und dann roh genossen. Der Mannheimer Freund erzählte viel von seiner Familie. Unter anderem vom Obstbäume pflanzenden schlesischen Pionier, der in der Nachkriegszeit die kleine Scholle urbar machte, die man gemeinsam gekauft hatte. Dreißig Jahre später war das wertvolles Bauland – und die Bäume wieder weg.
Während der Rest der Familie im Urlaub war, hat unser haushütende Sohn den Blattspinat im Kühlschrank komplett übersehen. Ich esse alles, was nach den zwei Wochen noch genießbar ist – ein zarter, leicht herber Geschmack. Unser Tisch ist reich gedeckt.
In Kriegszeiten, Nachkriegszeiten und in anderen Notzeiten, greift der Mensch verstärkt auch auf die Naturprodukte zurück, die er vorher nicht beachtet oder gar geschmäht hatte. Exemplarisch soll dieses anhand der Rotbuche und Saatkrähe dargestellt werden.
Im Mittelalter wurde die Rotbuche ein „bärend bom“ genannt, das bedeutet, ein gebärender, also fruchttragender Baum. Dass Bucheln (Bucheckern) in der Waldmast als Schweinefutter genutzt wurden, ist uns geläufig – in manchen Gegenden Deutschlands überlebte im Volksmund das Sprichwort: „Eine blinde Sau frisst keine taube Buchel.“
Neben der Nutzung in der Tierhaltung können die Früchte auch für die menschliche Ernährung verwendet werden. Beim Verzehren größerer Mengen müssen diese vorher mit kochendem Wasser abgebrüht werden, weil sie u.a. Blausäure-Glykoside enthalten, die beim Zerkleinern, Kauen oder Verdauen giftige Blausäure (Cyanid) freisetzen können. Das aus Bucheckern gewonnene Öl, das nach dem Zweiten Weltkrieg zu Margarine verarbeitet wurde, war jedoch völlig unbedenklich und ein mildes, haltbares Speiseöl. Aus alten Aufzeichnungen ist ersichtlich, dass sich aus einem Zentner der Früchte „zwölf Pfund reines, zu Speisen gutes, und vier Pfund trübes Öl zum Brennen in den Ampeln“ pressen ließ.
In den Jahren des Ersten Weltkriegs und der Nachfolgezeit erlangte Buchenöl eine große wirtschaftliche Bedeutung. 1916 verbot aus diesem Grund der damalige Bundesrat, Bucheckern zu verfüttern; die gesammelten Früchte mussten direkt an den Kriegsausschuß für Fette und Öle geliefert werden.
In der „Verordnung des Kriegsernährungsamtes“ vom 13. Juli 1918 und der „Mecklenburgischen Ausführungsverordnung“ vom 30. August 1918 wurde dieses bekräftigt: „Weil die Ölgewinnung am meisten not tut“, durften die Bucheckern nur zu diesem Zwecke herangezogen werden, eine anderweitige Verwendung war nur im absoluten Ausnahmefalle gestattet.
In einem Aufruf des Großherzogtums Mecklenburg-Schwerin vom 13. September 1918 heißt es: „Wie im ganzen deutschen Vaterlande, so hängen auch unsere Buchenwaldungen in Mecklenburg-Schwerin voller Buchenmast. Seit Menschengedenken hat der Buchwald nicht so zahlreiche Früchte getragen, wie er uns in diesem Herbste bescheren wird, und wohl niemals hat die gesamte Bevölkerung der unscheinbaren Frucht der Buche so sehr ihre Aufmerksamkeit gewidmet, wie in diesem Kriegsjahre. Die reiche Ernte muß so vollständig wie möglich geworben werden. Gelingt dies, dann wird uns aber in diesem Segen der Natur eine ungeahnt große Hilfsquelle erschlossen, sowohl für die Volks- wie für die Viehernährung, und auch der Buchenwald wird sein Teil dazu beitragen, den Wirtschaftskrieg siegreich zu bestehen.“
Bildpostkarte, Deutsches Reich, 1917
Mit den folgenden Hinweisen waren einzelne Abschnitte des Aufrufs überschrieben:
Wo darf gesammelt werden?
Wann muß gesammelt werden?
Wie muß gesammelt werden?
Freigegeben für jedermann war die Sammlung in allen Waldungen, die unter landesherrlicher Verwaltung standen; an städtische und private Besitzer war der Aufforderung ergangen, ihre Buchenwälder auch der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen, wobei „unbedingt hinsichtlich des Betretens der großherzoglichen Forsten die von den Forstbehörden erlassenen Anordnungen zu befolgen sind“.
Zur Art und Weise des Sammelns hieß es u.a.: „Die einfachste Art des Sammelns wird das Auflesen mit den Händen sein. Es wird dies auch wohl die am meisten zur Frage kommende Art und Weise der Werbung bleiben, zumal sich jedermann, auch kleine Kinder daran beteiligen können. Auf diese Weise ist es auch am einfachsten, die tauben Bucheckern gleich auszuscheiden, da der geübte Blick diese bald erkennen wird.“ Man empfiehlt aber auch andere Methoden, z.B. beim Abschütteln der Zweige einen umgekehrten Regenschirm zum Auffangen der Früchte zu benutzen.
In allen größeren Orten waren Annahmestellen errichtet worden, die ebenfalls mitgeteilt wurden. Der Höchstpreis war mit 1,50 M für ein Kilogramm lufttrockener Bucheckern angegeben. Der Sammler bekam bei der Ablieferung einen Ölbezugschein oder Schlagschein. Auf Grund des Ölbezugscheines konnte er 6% des Gewichtes der abgelieferten Buchecken in Öl beziehen. „Gegen Ausstellung des Schlagscheines hat der private Sammler das Recht, eine gleiche Menge Bucheckern, wie er abgeliefert hat, für sich zu Öl schlagen zu lassen und er hat zu gleicher Zeit einen Anspruch auf den hierbei gewonnenen Ölkuchen“.
Es folgte der Hinweis, dass Bucheckern im zerkleinerten Zustand zwar an Schweine, Wiederkäuer und an das Federvieh verfüttert werden können, jedoch nicht an Pferde und sonstige Einhufer, weil die Früchte für letztere giftig seien, was auch für die Ölkuchen gilt.
Angelo Fairfax Muckley, Illustration zu Arabella B. Buckleys „Aus dem Leben unserer Vögel“, 1911
Nun zur tierischen Nahrung. In der Norddeutschen Post aus Parchim findet sich im Mai 1916 dieses: „Bei der gegenwärtigen Lage des Fleischmarktes ist es geboten, ihm auch sonst weniger beachtete Nahrungsmittel zuzuführen. Zu diesen gehören die durchaus wohlschmeckenden jungen Saatkrähen.“
Weiter wird ausgeführt, dass die rabenartigen Vögel Rabenkrähe, Nebelkrähe, Saatkrähe, Elster und Eichelhäher Gegenstand des freien Tierfanges sind: „Es empfiehlt sich aber, die Saatkrähen in diesem Jahr darüber hinaus planmäßig der Volksernährung nutzbar zu machen.“ Der Abschuss der Vögel kann durch den Eigentümer des Gehölzes, in dem sich die Krähenkolonie befindet, erfolgen oder ist durch andere „zuverlässige Personen zu gestatten“. Für den Fall, dass Schützen fehlen oder die Preise für die Munition zu hoch seien, empfahl man das Erklettern der Bäume, auf denen sich die Nester befinden. Die noch nicht flüggen Krähen sollten herabgescheucht werden. Näheres wurde vom Ministerium für Landwirtschaft in der „Verfügung über die Nutzbarmachung von Saatkrähen für die Volksernährung“ festgelegt.
Und dieses war in den Jahren der Hungersnot ebenso geregelt: „Sowohl bei der behördlichen wie bei der geschlossenen Sammlung genießen die Schulen, wenn sie zum Sammelorte die Eisenbahn benutzen wollen, den Vorzug, daß sie auf Fahrscheinen zum halben Preis der 3. Wagenklasse befördert werden.“
Ich weiß zum großen Teil noch aus eigenem Erleben, dass es ohne die Kinder in solchen Situationen nicht geht. Mir seien deshalb an dieser Stelle einige persönliche ergänzende Angaben gestattet.
Im Winter 1946/47 hatten wir Temperaturen bis zu minus 25 Grad und Dauerfrost über 40 Tage. Die Kälte war noch grimmiger als in den Vorjahren und dauerte lange an. Man sprach damals von einem „Jahrhundertwinter“ (tatsächlich war jener Winter der viertkälteste im Zeitraum von 1881 bis heute). Eine Folge dessen war, dass die eingemieteten Kartoffeln erfroren und verdarben. Wärend dieses Winters starben allein in Deutschland über 500.000 Menschen an den Folgen von Hunger, Kälte und Mangelkrankheiten.
Sobald das erste Grün erschien, wurden von uns allen Brennnesseln und Melde gesammelt und das dann zu einer Art Spinat verarbeitet – nur in Wasser gekocht, ohne Fett oder gar einem Ei. Wochenlang ging das so, ich habe noch Jahrzehnte danach keinen Spinat mehr essen können. Aus Haferstroh wurde Tee gemacht und aus den Maitrieben der Gemeinen Kiefer Sirup, ein Brotaufstrich, der von uns Kindern, sicherlich auch auf Grund des aromatischen Geschmacks, gern gegessen wurde.
Ein weiteres großes Problem in den Kriegs- und Nachkriegsjahren war die Versorgung mit Trinkwasser. Von den Bewohnern unserer Straße wurden Regentonnen, Eimer und Badewannen mit Schnee befüllt, und wenn es taute, das ablaufende Wasser von den Haus- und Schuppenwänden aufgefangen. Die Tropfen vom Dach nahmen wir mit Lappen auf und verwendeten diese zur Körperreinigung. Einige Familien holten ihr Wasser aus dem Fluss, was man selbst im Malzkaffee noch herausschmeckte.
Diese Zeiten liegen gar nicht so lange zurück.
Die zugrundeliegende sowie weiterführende Literatur und andere Quellen können gern beim Autor angefragt werden. (botaniktrommel@posteo.de)