Helko Reschitzki, Moabit
Samstag, high noon, 30°C im Schatten. Ich fahre mit der Ringbahn nach Neukölln. Auf der Hermannstraße fehlen eigentlich nur ein paar tausend wilde Katzen und man könnte sich in Istanbul wähnen. (Die Schultheiß-Nahkampfdielen müsste man sich noch wegdenken.) Der Gehweg flimmert vom grellen Hitzelicht. Die Süpermarketler, Cafés, Wettbuden, Barbiere, Nagelstudios, Shishabars und Bäcker voll. Aus einigen der Läden duftet es nach Gewürzen und Räucherstäbchen. 1-Euro-Shops, Mäc-Geiz, Import-Export … Trashland. Allgemeiner Müßiggang mit kleineren Aktivitätsinterruptionen, ein Geschäftchen hier, ein Geschäftchen dort. Auf den Spätkaufbänken rotgesichtige Almans. Sind überhaupt alle Hautfarben vertreten. Dazu hartflorige Akustikflokatis. Wenn man nur ab und an dort ist, hat das seinen Reiz, ist ein bisschen wie Urlaub. Man darf nur nicht nachdenken. Ist mir insgesamt aber allemal lieber als all die Kollwitzplatz-Bullerbüs.

Mein Ziel ist das Kulturzentrum der Spore Initiative, wo ich mir „Welto and the Sacred Bush – Lernen von karibischen Gärten“ ansehe. Welto kommt aus dem Kreolischen und ist ein poetischer Ausdruck für das Dasein im Schatten, die flüchtigen, nur schwer fassbaren Formen des Lebens, das, was sich dem Auge entzieht. Der heilige Busch verweist auf Pflanzen mit spiritueller Bedeutung, die sowohl medizinisch als auch rituell genutzt werden, auf von Generation zu Generation weitergereichte Heiltraditionen. Soweit der Kontext, von dem ich in guter Traditon erst einmal nichts weiß und somit alles unvoreingenommen auf mich wirken lassen kann.

Ein ornamentales Wandbild aus Zweigen, Blättern, Schoten, Samen. Der schummrige Kühlschrank mit Beuteln, Gläsern und Schalen, die aus Lars von Triers „Riget“ stammen könnten. Geisterwelten. Adern, Flüsse, Kräuterbäder. Mykorrhizafingerchen, die durch das Erdreich schlängeln. Rituale und Mutualismen. Die Hüterinnen der Kreisläufe. Die Netzwerke der Flüsterwurzeln. Das Gesehene spricht mich an, ich höre ihm aufmerksam zu. Mit Werken von Annalee Davis, Aurélie Derard, Françoise Dô, Isambert Duriveau, Mawongany, Kindern der École Clémence Caristan in Martinique, Guy Gabon und Florence Lazar. Werde nochmal hingehen – in die Texte und Filme eintauchen.

Sonntag am See die Wiederbegegnung mit zwei Mitschwimmern aus dem Vorjahr – die sind wie ich seit April im Wasser, da haben wir uns also immer verfehlt. Die Bayerin erzählt, dass sie eigentlich gerade nach Äthiopien wollte, wo ihr Bruder eine Landschule gebaut hat. Wegen des Bürgerkriegs (geschätzt 700.000 Tote und 4,5 Millionen Flüchtlinge seit 2020) riet das Auswärtige Amt davon ab, da man nur in Addis Abeba halbwegs für ihre Sicherheit sorgen könne – wenn überhaupt. Sie verzichtete: „Ich bin ja nicht 77 Jahre alt geworden, um als Geisel zu enden oder erschossen zu werden.“ Wir sprechen darüber, dass manche der großen Katastrophen der Jetztzeit bei uns kaum jemand wahrnimmt – nur was das Fernsehen berichtet, findet den Weg ins Bewußtsein … Freude auf das nächste Wiedersehen.

Unmittelbar danach treff ich den Sachsen – er und seine Frau (noch im Wasser) schwimmen jeden Morgen eine knappe Stunde das Ufer ab und kieken, was los ist. Abgleich unserer Tierjungenzählungen: Die frisch geschlüpften Stockenten sind eine Bucht weitergezogen – mal schauen, wieviele von den zehn Küken überleben werden. Vor der Fischerhütte die jungen Mandarinenten … Haubentaucher und Blässhühner … alle mit Nachwuchs, nur die Schwäne seit bestimmt 15 Jahren ohne – anfangs bauten sie noch Nester. Das war mir neu. Vogelfaunainformationsbörse. Entspannte und lehrreiche Morgen.

