Helko Reschitzki, Moabit

Mein Blick aus dem Fenster fragt mittlerweile nicht mehr, ob es regnet, sondern wie stark. Wenn ich beim Schwimmen nach oben blicke, erscheinen die Wolkenfarben und die der Schwalbenbäuche im selben milchig-grauen Ton. Zwei Monate nach dem Schlüpfen hat der Haubentauchernachwuchs aus meiner Schlachtenseebucht nun die Größe der Altvögel erreicht. Auch das Jugendgefieder mit den typischen Gesichtsstreifen beginnt langsam zu verblassen. Immer öfter gehen die drei Jungen allein auf Beutezug – ich bestaune die zunehmende Ausdauer, das Tempo und ihre elegante Wendigkeit. Bislang ist das, womit sie auftauchen, rein pflanzlich. Ob die Eltern sie nach wie vor mit Fisch versorgen, kann ich nicht sicher sagen – ich habe in den vergangenen Tagen keine Fütterungszenen mehr beobachtet, auch wenn das dabei typische Fiepen noch zu hören ist.

Anders als die Haubentaucher, die ihre ersten Lebenswochen meist auf dem Rücken der Eltern verbringen, sind Blässhuhnküken schnell mobil. Bereits Stunden nach ihrem Schlupf verlassen sie das Nest, schwimmen eigenständig und beteiligen sich an der Nahrungssuche – wenngleich sie in den ersten Tagen noch auf die Fütterung durch Mutter und Vater angewiesen sind. Sie halten sich bevorzugt in der schilfreichen Uferzone auf – hier finden sie zu fressen und können bei drohender Gefahr in Deckung gehen.Von Anfang an besitzen sie diese arttypisch überproportional großen, gelappten Füße, die es ihnen ermöglichen, sich mühelos auf weichen und schlammigen Untergründen zu bewegen, schnell zu paddeln und zu tauchen.

Mich fasziniert der Widerspruch, dass Blässhühner einerseits ihr Territorium äußerst aggressiv großflächig gegenüber anderen Wasservögeln abgrenzen, andererseits ihre Jungen gleichzeitig in der Ferne alleine schwimmen lassen. Dabei behalten die Altvögel die leuchtend rot-orangenen Köpfchen der Kleinen aber stets im Blick. Am Freitag kam einer der Schwäne einem Küken etwas zu nahe, woraufhin ein Elternteil in irrer Geschwindigkeit dazu eilte – die Attacke auf das größere Tier wirkte allerdings eher symbolisch. Am Samstag versuchte die Altralle den vermeintlichen Angreifer dann durch eine fingierte Flucht vom Jungtier abzulenken. Beide Male zeigte der Schwan keinerlei Reaktion. Er und seine Artgenossen betrachten das Geschehen generell mit großer Ruhe (Hunde und Nervpiepel ausgenommen) – selbst als am Sonntag die Rallen direkt neben ihnen Stockenten jagten, wurde höchstens mal kurz der Hals ausgestreckt, um das Treiben etwas auf Abstand zu halten. Ein urzeitlicher Reigen tierischen Lebens, mit Regeln und Codes, die uns meist verborgen bleiben (zumindest den Nicht-Ornithologen) …

Nicht minder interessant ist der menschliche Nachwuchs: Während zwei vielleicht acht-, neunjährige Mädchen versuchen, mit einem Nivea-Ball unseren S-Bahnwagen zu zerlegen, dichten sie, sich total beömmelnd, ein Lied um: „Ist der Graben auch sehr klein, Bibi passt da noch mit rein. Wir jagen den Wind und reiten geschwind, weil wir Feindinnen sind, weil wir Feindin-nin-nen sind“. Die Mutter der beiden löffelt derweil mit leerem Blick ein Becherchen Fruchtzwerge aus und blättert nebenher in einem Fernreisemagazin – seitenweise jordanische Ruinen. Wahrscheinlich reift in ihr gerade der Plan, über Nacht die Familie zu verlassen und in die Wüste auszuwandern.

