Helko Reschitzki, Moabit
BVG-Streik sowie Absperrung einer Stadtautobahnbrücke aufgrund der Ausweitung eines bekannten Risses in einem tragenden Bauteil. Die Pressemitteilung vermeldet, dass der Bezirk in Absprache mit dem Senat mit der Gefahrenabwehr begonnen habe. Ich kann dem ausweichen und gehe wie gewohnt zu Fuß zum Haus der Kulturen der Welt – dort gibts ne neue Ausstellung: „Musafiri – von Reisenden und Gästen“. Wie immer hab ich keine Ahnung, was mich erwartet – schon als Kind liebte ich Wundertüten. Diese war gut befüllt.

Absolut fesselnd Diane Severin Nguyens neunzehnminütiges Video „If revolution is a sickness“, in dem ein Teenagergirl (anfangs fast noch ein Kind) in einer zunächst menschenleeren Gegend lebt. Um nicht durchzudrehen, fängt das Mädchen an, zu trainieren: Fitness, Tanzmoves, Notenlesen und Klavier. Plötzlich gesellen sich ein paar Kids dazu. Sie erarbeiten eine Choreo – diese bildet dann als quasi Musikvideo im K-Popstyle den Schluss des Films. Guter Song, gute Bewegungen, gute Einfälle. Der Text erinnert an Revolutionshymnen aus der Mao-Zeit – als alter Czukay-Fan merke ich bei der Zeile „Der Osten ist rot“ auf. Davor werden voice over sozialistische Pamphlete und ein Brief aus der Gefangenschaft verlesen. Alles nicht exakt zu verorten – meine Assoziationen: Stalinismus, Kalter Krieg, heutiger Ostblock und die isolierten Kinder und Jugendlichen in Ländern mit vollkommen überzogenen Maßnahmen gegen SARS-CoV-2. Bei der Liedzeile „Öffentliche Bloßstellung ist öffentliche Heilung“ muss ich an Joshua Kimmich denken, dem 2021, ganz in der Tradition Maos, sehr übel mitgespielt wurde: „Bestrafe einen, erziehe hunderte“. Es stellt sich generell die Frage, wann oder wie jemand über die Körper anderer bestimmen „darf“. Aktuell ist es vollkommen widerlich, dass die Generation, die 2020-2022 diesem Land komplett egal war, von Politik und Medien darauf eingeschworen wird, mit der Waffe in der Hand „fürs Vaterland zu sterben“. Bleibt zu hoffen, dass es so etwas wie die Selbstermächtigung und Widerstandskraft der Tanzgang aus dem Film bei vielen von uns auch im echten Leben geben wird.

Vollkommen aus der Zeit gefallen und tröstlich dann die Arbeiten Ena de Silvas (1922-2015), die Tiere und Pflanzen ihrer Heimat Sri Lanka mit Ornamenten und Planeten in allegorisch und naturreligiös anmutende Wachsgrafiken zusammenfügte. Kunst ist eine Heilerin.

Die von Sternenbildern, Kalendern und Jagdkarten ihrer Vorfahren inspirierten Bambusbilder der Aboriginesnachfahrin Gail Mabo sind dermaßen auf das Wesentliche reduziert, dass sie an Keilschriften oder Piktogramme erinnern – Urformen des Wissenstransfers. Toll!

So könnte ich nun Künstlerin um Künstler hervorheben, seien es Anne Samats Totemskulpturen oder die Pflanzenzeichnungen aus der japanischen Community in Brasilien aus den 1920ern – kurzum: eine Ausstellung, deren Besuch sehr lohnt – ich werde noch ein zweites Mal hingehen. Zwischen den Baumschatten des HKW still hüpfende Nebelkrähen, die Temperatur am Tage wieder zweistellig.

