Helko Reschitzki, Moabit

Freitagmorgen ziehen auf drei Ebenen unterschiedliche Wolkenarten vom Atilay Ünal Taifun Wertstoffhandel übers Kraftwerk Moabit hin zum Robert-Koch-Institut. Meine Augen sind noch unjustiert, sodass ich auf der Digitalanzeige über dem S-Bahnsteig „Ersatzverkehr mit Russen“ lese – ich trete die Fahrt trotzdem an. Am Schlachtensee erwische ich punktgenau die zehn Minuten, in denen ich im Regen schwimmen kann. Dabei entdecke ich – nach Wochen – endlich mal wieder Haubentaucher. Zwei Alttiere, etwa dreißig Meter von der Bucht entfernt. Einer der Vögel trägt etwas im Schnabel – um zu erkennen, was es ist, bin ich zu weit weg. Da er seine Fracht immer wieder kurz unterdukt, wird es sich um einen Fisch handeln. Was wiederum darauf hindeutet, dass sich im angesteuerten Schilf Junge befinden. Das typische Fiepen, das normalerweise vor, während und nach einer Fütterung zu hören ist, vernehme ich aber nicht – was an der Entfernung (und meinen gebrauchten Ohren) liegen mag.

Auf dem Rückweg sehe ich einen Angler, der beim Auswerfen mit dem Haken (oder dem Bleistück) in einem Baum hängenbleibt und das Ganze nun mühsam auseinandertüdeln muss. Als er damit fertig ist, schnappt er sofort seine Sachen und geht sehr zügig, fast schon laufend, so, als ob er die Entknotungszeit aufholen möchte, zwanzig Meter weiter. Dort lässt er dann, ohne eine Sekunde zu zögern, bis auf die Angel wieder alles zu Boden fallen. Der neue Wurf gelingt.

Ein weiteres gutes Buchtbankgespräch. Ich kann mich erstmalig privater mit der einen Asiatin unterhalten: Sie kommt ursprünglich aus Bali und hat ihr Berufsleben durchgearbeitet: „Montag bis Sonntag, morgens bis abends, Essen nur schnell zwischendurch, oft das Trinken vergessen. Alle zehn Jahre Urlaub.“ Vor einer Weile merkte sie, dass sie ausgebrannt ist und machte daraufhin mit ihrem Mann eine Art „Privatkur“ in Bayern – Massagen, Meditation, Sauna, regelmäßige, gesunde Mahlzeiten. Das ganze Programm. Im Moment ihrer Abreise – sie wollten gerade mit ihren Koffern das Zimmer verlassen und auschecken – streikte ihr Körper mit einer partiellen Lähmung. Sie schaffte es kaum ins Auto. Icke: „Da fällt es einem schwer, das nicht psychologisch zu deuten.“ Sie: „Genau.“ Jetzt bekommt sie Cortison gespritzt – in ein paar Tagen beginnt die Physiotherapie. Ich erzähle ihr von meinen Erfahrungen in der Richtung und wie es mir gelang, „Wellnesskur“-Momente in den Alltag zu übernehmen. Ihr leuchtet davon vieles sofort ein, da sie „ein spiritueller Mensch“ sei – was ich innerlich bestätigen kann: Als ich sie zum allerersten Mal sah, streute sie bedächtig Blüten übers Wasser, was sehr harmonisch und absolut angebracht aussah. Wir stellen fest, dass sich unsere Kindheiten auf Bali und in der DDR ähnelten, was die materielle Versorgung und das immerwährende Flicken und Reparieren betraf (und beide spielten wir Volleyball und waren gute Läufer). Gegen die Schmerzen empfehl ich ihr die tolle Salbe mit Jojoba-Öl, Pfefferschoten und Ingwer von Altapharma.

Am Sonnabend die „Lange Nacht des Klimas“ in der Kulturfabrik Moabit. Ich schaue mir den Vortrag „Wie Moor und Landwirtschaft gemeinsam Klima schützen“ an. Es sprechen: Die Biologin Susanne Abel vom „Greifswald Moor Centrum“ sowie Lucas Gerrits, Gründer und Geschäftsführer der Firma „ZukunftMoor“, die in Niedersachsen Moorflächen wiedervernässt und dort dann Torfmoos anbaut. Beide sind sehr kurzweilig, ohne dabei auf Krampf zu entertainen. Etwa dreißig Leute hören eine Dreiviertelstunde lang konzentriert zu und stellen anschließend smarte Fragen – Menschen, die selbst Flächen beackern, u.a. ein brandenburger Kleinbauer. Eine angenehme Atmosphäre – die moralisierenden und meist arg selbstverliebten Apokalyptiker, die noch vor zwei Jahren die ersten Ausgabe dieser Veranstaltung dominierten, sind wohl vom „Klimaschutz“ auf andere ideologische Schlachtfelder weitergezogen. Die Moderatorin fällt nicht weiter auf – abgesehen davon, dass sie als Einzige gendert. Fein, so hör ich das auch mal in echt. Zentrales Vortragsthema: Die Paludikultur, bei der Moore erhalten bzw. wiederhergestellt werden – in der BRD sind 95 % der Moore trockengelegt. Auf den hydrologisch renaturierten Flächen werden besagte Torfmoose angebaut, die als nachhaltige Alternative zum umweltschädlichen Torf in Gartenerden sowie als natürlicher Rohstoff für ökologische Dämm-, Bau-, Dämm- und Verpackungsmaterialien genutzt werden können. Für dieserart Verwertung haben sich die norddeutschen Moorbauern mit Partnern wie OBI, LEIPA oder dem Ottoversand zusammengetan. Sowohl Abel als auch Gerrits betonen mehrmals, dass Nachhaltigkeit und eine ökologische Transformation nur in einem stabilen wirtschaftlichen Umfeld und durch enge Zusammenarbeit gelingen können. Vor Ort funktioniere das hervorragend, da alle in der dörflichen Kommune und Kreisstadt an einem Strang ziehen und erste Erfolge sehen (was sie insgesamt fundamental von den Degrowthern unterscheidet). Absolut lähmend ist das deutsche Fördergeldsystem, da es die Planungshorizonte auf den Genehmigungszeitraum verengt; hinzu kommt eine völlig überbordende Bürokratie – in Mecklenburg dauern Genehmigungsverfahren bis zu sieben Jahren, so die Forscherin. Das alles bestätigt meine Erfahrungen und Beobachtungen – nur wenn Ökologie und Ökonomie ineinandergreifen, kann Nachhaltiges entstehen; Bürokraten, Ideologen und reine Subventionsempfänger zerstören am Ende jede gute Idee. Interessant: Als Saatgut dienen Torfmoos-Fragmente, die mithilfe von Drohnen ausgebracht werden.

Wochenend-Presseschau: Forscherinnen der Universität Hohenheim haben herausgefunden, dass man aus der Zusammensetzung des Speichelmikrobioms die Beschaffenheit des Magen- und Dünndarm-Mikrobioms ablesen kann, was hilft, das Individualrisiko für diverse Erkrankungen abzuschätzen. Perspektivisch könnten per einfachem Mundabstrich Diagnosen gestellt werden, die bislang nur durch Gastrokoloskopien möglich waren. (Zuende gedacht, wäre das ein weiteres Werkzeug im Kampf gegen Antibiotikaresistenzen.) Dann prüft die Dresdener Staatsanwaltschaft gerade Aussagen des Virologen Prof. Dr. Christian Drosten, die dieser vor dem Corona-Untersuchungsausschuss des Sächsischen Landtags gemacht hatte. Es geht dabei um eine mögliche „falsche uneidliche Aussage“. Außerdem wurde ein gelähmter Schlaganfall-Patient von einem Forscherteam der University of California in San Francisco in die Lage versetzt, per KI-unterstützter Gedankensteuerung mit einem Roboterarm Objekte zu greifen, zu bewegen und wieder abzulegen.

In der S-Bahn zaubert der alte, balkaneske Schifferklavierspieler mit seiner herrlich vor sich hin mäanderden „Que Sera, Sera“-Version allen ein Lächeln ins Gesicht, um dann sliwogewitzt in die Rocco-Granata-Samba „Marina, Marina, Marina“ überzugehen – sein Hut wird reichlich mit Münzen befüllt. Pfeifend gehe ich nach hause.
Wunderbares Mädchen, bald sind wir ein Pärchen / Komm, und lass mich nie alleine / Oh no, no, no, no, no.
