Helko Reschitzki, Moabit
Monatsspreu 02/2025

Auf vielen Reklametafeln quer durch die Stadt die Nachricht, dass der Alpenschneehase von der Deutschen Wildtierstiftung zum „Tier des Jahres 2025“ gewählt wurde. Ein Tier, das stark gefährdet ist, weil es aufgrund der Erderwärmung Lebensraum einbüßt und wir es durch Jagd, Wintersport und Tourismus ausrotten. Neben dieser Meldung großflächige Plakatwerbung für Reiseunternehmen.
Im „Russischen Haus“, dem Kulturzentrum in der Friedrichstraße, die Fotoausstellung „Mach dir ein Bild von Wissenschaft!“. Mir gefallen besonders die beiden Vulkanbilder von Ilia Bolshakov, Dmitry Utkins „Rußflut“, Valentin Yakovlenkos “ Mensch und Element“, Anastasia Vyatkinas „Neugieriger Rabe“. Vor Ort viele Kinder, die sich für eine Feier schick gemacht haben, ein paar Frauen, die Schleifchen fest- und Scheitel nachziehen. Ein fröhliches, aufgeregtes Gewusel, die ребя́тки naschen nebenher Gurkenstückchen. (Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt vorfreudig aufgedrehte Kinder Gurken essen sah. Oder ob überhaupt jemals.)
Kevin Kostners „Horizon“ gesehen. Wann fingen wir eigentlich damit an, auf die Toten Kalk zu werfen – und wo wird das heute noch so gemacht außerhalb von Epidemie- und Kriegsgebieten?
Lese in der Zeitung, dass der Tierpark Berlin als Neuzugang ein 26jähriges Aye Aye-Weibchen vermeldet – Primat der Gruppe der Lemuren, beheimatet in Madagaskar, vom Aussterben bedroht. Bevor diese Fingertiere Insekten aus Baumritzen holen, erwärmen sie ihren Pul- und Kratzfinger um 6 Grad. Wissenschaftler vermuten, dass dadurch die Nervenzellen besser durchblutet werden und sich der Tastsinn erhöht. In derselben Zeitung die Nachricht, dass wieder ein Elektrorollerakku explodiert und in Brand geraten ist. Vielleicht sollten die Hersteller mal mit einem Fingertier-Forscher telefonieren.
Im Tagesspiegel vom 19.02.: „Verglühende Teile einer Raketenstufe sind in der Nacht auf Mittwoch über Deutschland zu sehen gewesen. Wie ein Sprecher des Weltraumkommandos der Bundeswehr im nordrhein-westfälischen Uedem mitteilte, habe es sich um einen unkontrollierten Wiedereintritt des Objekts Falcon 9 R/B, ein Stück einer Raketenstufe, in die Atmosphäre gehandelt. Die Trümmerteile seien in einer Höhe von 80 bis 100 Kilometern über Deutschland geflogen. Es gebe keine Erkenntnisse, dass Trümmerteile auf Deutschland fallen könnten.“ Ich mag diese Expertensprache.
Aus einem südkoreanischen U-Boot- und Bombenentschärferfilm lerne ich das schöne Wort Täuschkörper. Wer weiß, wozu ich das noch gebrauchen kann.
Der Obdachlose auf dem U-Bahnhof Turmstraße, der „Fisherman’s Blues“ von den Waterboys hört. Er könnte ungefähr mein Alter sein, aber das kann man oft nicht mal auf zwanzig Jahre genau schätzen.
Im Kaufland in der Ollenhauer Straße in Reinickendorf, einer eher ärmlichen Gegend der Stadt, zähle ich 65 Sorten Senf im Regal.
„Männer, und Frauen, und Kinder sitzen um die Tische. Sie essen Brot, und Brot, und Brot. Um arbeiten zu können im Wald und im Schacht, essen die Männer Brot. Um Wäsche in den Fluß zu tauchen oder am Fließband zu stehn, essen die Frauen Brot. Um auf der Hängebrücke zu schaukeln oder über den Bauschutt zu laufen, essen die Kinder Brot. Und um später einmal Brot zu essen, essen die Kinder Brot. Und wenn sie dreimal Brot gegessen haben, ist ein Tag vorbei. Es ist Sommer. Es wird Winter sein.“ Die im rumänischen Teil des Banat geborene Herta Müller in ihrem Erzählband „Der barfüßige Februar“, Rotbuch Verlag, West-Berlin, 1987.

