Helko Reschitzki, Moabit
Nachdem meine Totes-Meer-Lotion eingezogen war, hüllte ich mich flugs in eine Wolke Pitralon und verließ, im Hinterhof durchaus noch beschwingt, das Haus. Die frische Nachtschneedecke war bei minus 2° Celsius und weiterem, leichten Flockenfall inzwischen ungefähr vier Zentimeter hoch. Die eh schon deprimierende Baustelle vor der Tadschikenbotschaft wurde leider nicht vom Weiß in irgendetwas Freundlicheres verwandelt, sondern sah verlorener aus als je zuvor. Frontal des Landesamtes für Gesundheit und Soziales sägten sich ein paar Grünflächenamtsmänner wie im Rausch bös lärmend durch die Kronen der Parkbäume des Kleinen Tiergartens. Egal, was hierzlande auch passieren mag – gesägt wird immer und überall, wahrscheinlich selbst Heiligabend nachmittags um vier, neben einem Kinderheim.

Ich holte aus meinem Biomarkt in der alten Bolle-Meierei Spitzkohl, Äpfel, Mohrrüben und ein Stück Butter sowie milchsauervergorenes Sauerkraut. Vorgestern hatte ich durch einen Nebensatz in einer arte-Doku mitbekommen, dass es zur Zeit eine Art internationalen Kot-Tourismus nach Tansania gibt, da dort Jäger und Sammler leben, deren Mikrobiom noch nicht zivilsatorisch zerstört ist. Denen luchsen Westler nun die Ausscheidungen ab, um sich diese dann per Einlauf in die bakterienverarmten Wohlstandswampen pumpen zu lassen. Ich hatte mich dem Themenkomplex Stuhltransplantation mal vor Jahren sehr intensiv beschäftigt – im gesundheitlichen Extremfall ist so ein Fäkaltransfer eine angebrachte Sache, aber in der degenerierten Form des „Body Resets“ oder der „Suche nach einer natürlichen Lebensweise“ schon ziemlich pervers. Wenn wir wieder eine diverse und intakte Darmbesiedlung bekommen wollen, müssen wir unsere Lebensweise ändern und auf Industriefraß, Zucker und Giftstoffe verzichten und vor allem die Verschreibungspraxis von Antibiotika neu organisieren – ostafrikanischen Sammlerinnen und Jägern die Ausscheidungen abzuschachern, wird auf keinen Fall die Lösung sein … im Gegensatz zum Laktobakterienreservoir Sauerkraut in meinem Einkaufskorb.
Als ich bezahlen wollte, gab es an der Kasse Probleme mit der Elektronik. Während die in aller Ruhe gelöst wurden, unterhielt ich mich mit dem Mitarbeiter über die Vulnerabilität von Gesellschaften, die ihre Dinge zunehmend im Digitalen abwickeln. Als Kind in einer Garnisionsstadt, in der Sowjetstreitkräfte stationiert waren, kenn ich noch deren faszinierendes Abakus-System, mit dem im sogenannten Russenmagazin (einem kleinen Lebensmittelladen) auf der Cчёты, einer ohne Strom funktionierenden Maschine, der Einkauf berechnet wurde. Dabei flogen die von flinken Soldatenfrauenfingern bewegten Holzkugeln so schnell hin und her, dass man kaum mit dem Schauen nachkam. Man sah in diesen Lädchen übrigens oft auch moderne Kassen – die dann aber niemand benutzte. Vorhin im Biomarkt hätten sich meine damaligen Sowjetkassiererinnen bestätigt fühlen können.
Psychologisch nicht ganz uninteressant: Die arktische Kaltluft, die uns gerade den Schnee beschert, wurde in der DDR von den meisten Sibirische Kälte genannt, während im Westen eher die Bezeichnung Russenpeitsche gebräulich war (und dort bis heute verwendet wird).
In der Post eine 8-CD-Box mit byzantinischen und gregorianischen Gesängen: Nervenbalsam. Man kann sagen, dass der Niedergang der Musik exakt in dem Moment einsetzte, als der Mensch begann, mit Instrumenten in Gruppen zu musizieren.

