Christoph Sanders, Thalheim

Auch am Donnerstag beobachte ich bei weiterhin sehr ruhiger und kühler Witterung das Weltgeschehen. Den ominösen Buchstaben und Ziffern folgend, verlegen nun belgische Fernarbeiter im Dorf die Glasfaserkabel. Immer neue EU-Baustellen. In den Märkten sieht man auf einmal auffallend viele ermäßigte Putenstückchen in den Kühlregalen (Nicht-Bio). Denkt da gerade ein großer Teil der Kunden, dass das Fleisch voller Vogelgrippeerreger ist? Wahrscheinlich greift das Klima des Misstrauens so langsam auf alle Lebensbereiche über. Je mehr sich einander widersprechende Erzählungen verbreitet werden, desto misstrauischer wird der Unwissende. Und unwissend sind wir irgendwie alle, tappen im Nebel der Behauptungen herum. Als Reaktion darauf bricht sich dann zunehmend mittelalterlicher Aberglaube Bahn – Gerüchte werden zu Glaubenshaltungen. Zumal Themen wie Krankheit, innere Sicherheit, Rente, Pflege, Tod, also die essenziellen Fragen jeder Gesellschaft, ganz dreist über die Köpfe der Bevölkerung hinweg verhandelt werden. Nun müssen sich alle Männer ab dem Jahrgang 2008 mustern lassen – einfach so.

Mein alter Radfreund berichtet frustriert von einer Veranstaltung im Rahmen der „Langen Nacht der Kunst und Genüsse 2025“ in der Mannheimer Buchhandlung seines Sohnes. Vier Kurzlesungen und Bücherflohmarkt. Das Volk kommt nur noch wegen der Häppchen, hört keine Minute zu, zieht weiter. Die Buchhandlung macht so etwas nie wieder. Im Grunde traurig. Aber richtig schlimm wird es erst, wenn die Pauschalreisen storniert werden – damit knackst Du sogar den US-Shutdown. Flugreisenrückgang – da sei Gott vor!!!

Mit Trödler Hassan über sein gerade verkauftes Haus geredet. Der bisherige Mieter, ein rumänischer Clan, ist nach einem Brand und der anschließenden Renovierung fortgezogen. Das Häuschen ist nun in türkischem Besitz, steht aber noch leer. Er und seine Frau bieten ein weiteres Haus an; es gibt sehr viele Interessenten. Hassan zeigt mir einen kleinen Einschlag an seiner Autoscheibe. Er vermutet eine Glashammerattacke von einem der abgewiesenen Bewerber. Die Verteilungskämpfe nehmen zu. Das sind Dinge, die allmählich jeder spürt, wenn auch indirekt, wenn auch unterschwellig. Eine weitere große Ladung Äpfel gepflückt – nur eine Handvoll war von Vögeln angepickt. Meine Magensymptome nehmen langsam wieder ab, ein zäher Krankheitsverlauf ist es dennoch. Zum Mittag gibt es Suppe.

Am Freitag nach Limburg. Dann Kochen und Vorbereitungen für die Tour am Samstag. Milde Temperaturen, kaum Windbewegung und trocken – dennoch nehme ich das Rad mit den Schutzblechen und packe den Regenüberzug ein. Mein größter Feind sind nassse Füße – ich rechne stark damit, auf dem Sauerland-Gipfel Niederschlag zu bekommen. Es geht ab Gießen über 200 Kilometer. Heute nicht aufs Rad, nur im warmen Auto gesessen. Während die Tochter in die Tasten haut und hinter dem Tannenwall die endlose Prozession des Freitagnachmittagsverkehrs vorüberschleicht, verbringe ich eine herrliche Lesestunde mit der detailierten Nabokov-Biografie von Brian Boyd. Sehr spannend ist für mich Nabokovs Arbeitsmethodik des Materialsammelns. Ehe er losschreibt, hat er bereits das gesamte Buch im Kopf. Er besteht auf der Präzision des Künstlers und der Leidenschaft des Wissenschaftlers. Und auf absolute Genauigkeit – es ist zum Beispiel wichtig, die Reihenfolge der Waggons in den russischen Zügen zu kennen, da man ansonsten in Tolstois „Anna Karenina“ gewisse Szenen nicht verstehen würde.

Der Sohn zeigte mir das HD-Video aller Tore vom letzten Heimspiel. Die Kamera wird in drei Meter Höhe an einem Mast befestigt, die Qualität ist grandios. Dein Trainer kann Dir alles beweisen. Irgendwie faszinierend. Aufräumen, Kalorien für die Fahrt aufnehmen. Dabei DAS Violinkonzert des 20. Jahrhunderts hören: Witold Lutosławskis „Partita“, komponiert im Jahr 1948. Zweimal geht es morgen ganz dicht an Staufenberg vobei: bei Kilometer 20 und bei Kilometer 180.
