Christoph Sanders, Thalheim

Am Samstag und Sonntag den Umzug der Ältesten von Hildesheim nach Köpenick bewältigt – Autobahnen, Autobahnen, zwischen Wald und Bördeland die schöne, mittelgroße Stadt. Eine Deutschlandreise durch die Fanlager der Fußballclubs: Die Zone der 96er reicht kaum über Hannover hinaus, die blau-gelben Braunschweiger sind genau bis Helmstedt sichtbar. Ab da das Reich des 1. FC Magdeburg: blau-weiß an Masten, Brücken, Lärmschutzwänden. In Nähe des Berliner Rings dann Hertha-Markierungen: Schrift und Motive gestalterisch unbeholfener. Köpenick ist rot-weißes Union-Land, das ist klar.


Der Abschied von Hildesheim stimmt mich fast sentimentaler als die junge Studentin selbst, die nach ihrem BA in Psychologie den Blick bereits klar auf Potsdam-Golm richtet, wo sie einen Masterplatz bekommen hat. Verständlich, zumal ihr Freund in Spindlersfelde wohnt – eine angenehme Ecke: Grüngürtel, von der Spree flankiert; Vorkriegsvillen und solide Mietshäuser, in denen viele BER- und Tesla-Mitarbeiter leben – alles ziemlich international: In Musks Werk arbeiten 12.000 Menschen aus 150 Nationen. Unsere Tochter ist dort aber nur auf Zwischenstation – sie wird „fast absolut sicher“ in den Norden Spandaus weiterziehen, das WG-Casting steht aber noch an.

Mein Sohn ist zweiter Fahrer des Umzugs-Vans. Nach dem Ausladen gehen wir am Phone die Bewertungen der lokalen Döner-Anbieter durch, filtern dabei die allzu aufgeräumte Köpenicker Altstadt weg, und entscheiden uns am Ende für den Bahnhofsimbiss. Ein milder, sehr angenehmer Abend. Heiter gelöste Stimmung vor einer Union-Sportsbar: Eintracht Frankfurt führt nach gut einer Stunde 6:0 gegen Gladbach – das ist surreal. An den Häusern auch kyrillische Graffitis.

Der Rewe um die Ecke bis 24 Uhr geöffnet. Als wir gegen 20 Uhr einkaufen, ist er gut besucht. Vor mir in der Schlange in rotem Großkaro ein anderer alter weißer Dude. Neben uns an der Selfscan-Kasse ein Junger mit Vollbart und in Stufe geschnittenen, blonden Haaren. Durch sein Basecap erinnert er mich an den Sänger von Supertramp, was ich dem Typen vor mir sage. Daraus entwickelt sich ein Gespräch über besagte Band, Kansas und Toto. Er kennt sich gut aus, meint, dass Supertramp live etwas langweilig waren, weil sie die Stücke immer exakt so wie auf ihren Platten spielten.

Sonniger Rückweg mit leichtem Rückenwind. Rund um den BER wird peinlichst auf Temposchilder geachtet, es gibt wohl auch Kontrollen. Neben uns Familienflieger im Anflug – für Frankfurter ist das ein Kindergarten von Flughafen. Auf der A 113 dann Tempomat und ab! Wir rollen an der Nachkriegs-Planstadt Lebenstedt vorbei, sehen parallel zur A7 die Alleen Niedersachsens, Richtung Marburg dann die hesssichen Wälder. Dahinter ist gleich Staufenberg, wo wir nach sechs Stunden Fahrt auf dem Sportplatz des SV Thalheim Zeuge eines umkämpften Spiels gegen den FC Rojkurd Merenberg werden.

Am Montag die Nachricht, dass der Pflegegrad 1 abgeschafft werden soll – beginnende Demenz bliebe ohne Anspruch auf Unterstützung. Es geht um einen einstelligen Millardenbetrag. Es wird interessant, wie sich die mit Megaschulden versehene BRD neu erfindet. Die sogenannten Sozialpläne der Autoindustrie und Zulieferer werden dabei eine zentrale Rolle spielen – dann beginnt das alte Lied Kapital wandert schneller als Arbeitskraft. Ein Strukturwandel, den viele schon 2010 haben kommen sehen – doch Management und Politik schauten lieber auf Quartalszahlen als auf die Wirklichkeit dahinter. Mit diesen Gedanken in einen milden, grünen Herbsttag, an dem Covid bei mir letzte Zeichen setzt. Aber auch das wird vergehen.

Am Nachmittag Pflaumenkuchen mit echtem (!) Hefeteig. Er mundet sehr. Ich versehe das Hinterrad meines Herbst-Winter-Rads (das ist eines mit Schutzblech) mit einem neuem Kranz. Es gab bis 1992 ein geniales System aus einzelnen Steckritzeln (von denen ich noch einige vorrätig habe) – dann begriffen die Hersteller, dass es für sie wesentlich lukrativer ist, die Zahnräder verschweißt oder vernietet als Komplettpaket zu verkaufen. Kleine Probefahrt hinauf zum Netto – dort soll es Überraschungseier mit Playmobil-Panikräumen geben.
