Frank Schott, Leipzig
– „Ich sehe meine Leiche.“
– „Ich sehe sie auch. Soll ich sie mitnehmen?“
– „Nee, ich sammle meine Leiche gleich selber auf.“
Dialoge, wie sie sich kein Dichter ausdenken könnte – gehört bei meinem Sohn, der anderen Computergamern zuschaut, die ihre Spiele streamen. Während ich, wenn ich auf dem Hometrainer sitze, Serien oder Filme schaue, verfolgt mein Sohn die Onlinekämpfe anderer Menschen. Eines muss man dem e-Sport natürlich im Gegensatz zu klassischen Drehbüchern zugutehalten – das Ende solcher Matches ist tatsächlich offen.

Am Halloweenabend trafen wir uns mit den Nachbarn an unserer Feuerschale zum Glühweintrinken. Nachdem die Kinder mit ihrer Bitte um Süßes durch waren, kam der wahre Horror ums Eck: Die saufende Jugend, die sich in den bis tief in die Nacht geöffneten Späties mit günstigem Flaschenbier betankte, kämpfte mit ihren übervollen Blasen. Die Kneipen wollen die Fremdtrinker nicht auf ihre Toiletten lassen und bis zum nächsten Baum schaffte man es nicht mehr, geschweige denn nach Hause, also erleichterte man sich in Eingängen und Durchfahrten. Dreimal wurden Säufer, die unseren Innenhof angesteuert hatten, von der Hausgemeinschaft verjagt. Nachdem die Feuerschale ausgebrannt und jeder in seine Wohnung zurückgekehrt war, kamen vermutlich weitere ungebetene Besucher.

Am Freitag konnte ich nach einer alles umfassenden Erschöpfung erstmals wieder meine Standardrunde von gut 8,5 Kilometern laufen, am Sonntag schaffte ich sogar über 11 Kilometer. Die Zeiten liegen immer noch weit hinter jenen vom Halbmarathon – aber hej, es geht aufwärts! Für die Blätter geht es dagegen nur noch abwärts. Die beiden japanischen Zierkirschen, deren Laub den ganzen Oktober über den Vorgarten malträtiert hatten, sind so blattlos, wie das Haupt eines Glatzköpfigen haarlos ist. An meiner Strecke sind die Flüsse und Teiche von einem bunten Herbstteppich bedeckt, so wie die Laufwege selbst auch. Wobei das nur für die versteckten, kaum genutzten Pfade im Wald gilt – auf den regelmäßig von Radlern befahrenen und von Fußgängern und Läufern frequentierten Wegen ist das Laub längst mit Schlamm vermischt und halb verrottet.

Der Sonntag lässt die Läufer sprießen. Es sind ungewöhnlich viele unterwegs. Klar, es ist ein freier Tag. Und es ist heute mild. Doch es mag auch daran liegen, dass endlich einmal wieder für ein paar Stunden kein Regen fällt. Beim Joggen erinnere ich mich an ein interessantes Gespräch mit einem Anwalt vor einer Woche. Irgendwie kamen wir auf das Thema KI, also Künstliche Intelligenz zu sprechen. Er hatte ein schönes Gleichnis parat: „Die KI ist so gut und so schlecht wie jeder andere Mitarbeiter.“ Am Anfang sei sie unwissend wie ein Praktikant oder Azubi, dem man mit Prompts – sprich den richtigen Fragestellungen – alles Wesentliche beibringen müsse. Ebenso müsse man der Künstlichen Intelligenz die Art zeigen, wie man Aufgaben erledigt haben möchte. Auch danach hätten die verschiedenen KIs (er nutzt sie alle) noch ihre Macken, das müsse man einfach wissen und beachten. Manche seien lustlos und kramten das erstbeste Ergebnis raus. Manche seien übereifrig. Manchmal werde sogar gelogen, anstatt Unwissenheit zuzugeben. (wir beide dachten dabei zugleich an ChatGPT). „Wenn man all das weiß und das Ergebnis kontrolliert, kann die KI einem schon die Arbeit erleichtern.“ Man dürfe sich halt nicht blind darauf verlassen.

Nach einer guten Stunde bin ich zurück daheim – weder merklich außer Atem, noch sind die Beine schwer. Während ich mich dehne, lasse ich den Blick schweifen. Unsere Königskerzen strengen sich weiterhin an. Trotz des durch die Nachtkälte deutlich nachlassenden Insektenverkehrs quetschen sie immer noch die eine oder andere Knospe hervor. Auch wenn bereits fast alle anderen Blätter braun und welk sind, trotzen die leuchtend gelben Blüten dem Verfall.
Die ausgehölten Kürbisse an den Hauseingängen der Nachbarschaft beginnen innerlich nun langsam zu schmelzen. Bald werden sie so weich sein, dass man sie kaum noch am Stück anheben kann.

Ich vermute, die Schwere der vergangenen Tage war zum Großteil der gut zwei Wochen zurückliegende Blutspende geschuldet. Ich fürchte, es ist an der Zeit, das Blutspenden gänzlich aufzugeben.
