Maria Leonhard, Spornitz

Herrlichstes Herbstwetter. Die Jagdhunde mussten bewegt werden. Mein Mann und ich beschlossen, zur kleinen Ulme in den Wald zu fahren. Die hatte meine Cousine als Trieb vom Sperrmüll gerettet und dann auf ihrem Balkon gepflegt. Vor ungefähr sechs Monaten haben wir ihrer Bitte entsprochen und das Bäumchen in den Wald gepflanzt. Mein Mann hatte es über den Sommer immer wieder gegossen, man konnte fast zusehen, wie so nach und nach neue Zweiglein wuchsen – und das, obwohl unser junger Hund kurz zuvor beinahe alle Triebe abgeknabbert hatte. Schön! Ich hatte vermutet, die Ulme in herbstlicher Farbe vorzufinden und war sehr erstaunt, dass sie immer noch grün aussah und sich hübsch von dem bereits gelb-braun verfärbten Laub abhob. Vielleicht ein Zeichen dafür, dass sie gut durch diesen Winter kommen wird.

Der Oktober war gefüllt mit Arbeiten, die ich mir teilweise selbst auferlegt hatte. Manchmal muss man über seinen Schatten springen – einfach, um anderen eine Freude zu machen, sein Selbstbild zu stärken oder sich zu erfreuen. In unserer kleinen Dorfkirche fand zum ersten Mal der Tag der Musik statt. Mehrere Chöre aus der Umgebung waren eingeladen, man rechnete mit vielen Besuchern. Ein großes Ereignis! Am Tag davor wurde rund um die Kirche von Ehrenamtlichen sauber gemacht und in vier Räumen die Kaffeetafeln eingedeckt. Ich war dabei, obwohl sich zu Hause die Arbeit türmte. Beim Helfen ging mir ein Sprichwort durch den Kopf: Bestelle nicht das Feld eines anderen, wenn auf Deinem das Unkraut wächst. Hier ging es jedoch nicht um mein oder dein Feld, dachte ich – hier geht es um unser Feld, unsere Kirche, unser Dorf. Das Dorf, in dem ich wohne und für das ich jetzt einen kleinen Beitrag leiste, damit es sich hier gut leben lässt. Der Tag der Musik wurde ein voller Erfolg. Alle Zuschauer und Beteiligten hatten viel Freude – der Slater Posaunenchor hatte sich sogar Verstärkung aus dem benachbarten Brenz geholt. Vielleicht wird es ja im kommenden Jahr wieder so etwas Schönes geben.

Ein anderes gemeinschaftliches Erlebnis war die Ernte von Evas Äpfeln auf der Streuobstwiese des Pfarrgeländes. Im Laufe der Jahre setzten Brautpaare, die sich in unserer Kirche trauen ließen, und Eltern, deren Kinder hier getauft wurden, Obstbäumchen auf die Wiese. Diese trugen nun reichlich Früchte. Es kamen viele Helfer. Unentwegt wurde gelacht und gescherzt. Nach der Ernte saßen wir alle in der Pfarrhausdiele, aßen Schmalzbrote und eine leckere Suppe und tranken dazu Apfelschorle. Am meisten hat mir gefallen, dass die Alteingesessenen Plattdeutsch snackten. Da kam so etwas Heimatliches durch, ein richtiges „Wir gehören doch zusammen“-Gefühl. Es war einfach schön, dabei zu sein und das miterleben zu dürfen. Ein wenig dazuzugehören als „Zugezogene“ (selbst nach 30 Jahren) – denn ich konnte ab und zu mit den Plattsnackern mithalten und zugleich von ihnen Neues lernen. Aus den Äpfeln wird nun Saft gemacht – der Verkaufserlös kommt der Kirchgemeinde zugute.

Dann hatte man mich noch gefragt, ob ich unsere Senioren an einem Nachmittag mit plattdeutschen Texten erfreuen könnte. Ich sagte zu. Aber was sollte ich vorlesen? Nach langem Suchen entdeckte ich in der Bibliothek „Köster Klickermann“ von Rudolf Tarnow, einem Dichter, der von 1867 bis 1933 ganz in der Nähe lebte. In dem Vers-Epos geht es um einen Dorfschullehrer und Küster – was könnte geeigneter sein, in unserer Pfarrhausdiele vorgelesen zu werden! Ich suchte ein paar Abschnitte heraus, von denen ich dachte, dass sie den Zuhörern ein Lächeln ins Gesicht zaubern würden. An meiner Aussprache arbeitete ich mit Tarnow-Audiobüchern, die ich während der Hausarbeit rauf und runter hörte. Am Ende konnte ich sogar schon einige Texte mitsprechen. Das Vorlesen sollte also gelingen.

Nun blieb noch meine Angst vor der Unterhaltung mit den Senioren – Menschen, die das Plattdeutsche praktisch mit der Muttermilch aufgesogen haben. Die Älteste in der Runde war 93 Jahre alt! Meine Mutter kam aus Leipzig!!! Ich holte mir aus der Bibliothek die elf CDs von Fritz Reuters „Ut mine Stromtid“, gelesen von Gerd Micheel – ein Genuss! Man muss es sich nur oft genug anhören und so ganz nebenbei lernt man das Platt. Kurz vor dem Nachmittag begann ich sogar schon plattdeutsch zu denken. Trotzdem wollte sich keine innere Ruhe einstellen – die ewigen Selbstzweifel … Am Ende wurde es für alle ein schöner Nachmittag, an dem man sich erst viel später voneinander verabschiedete, als es sonst üblich ist.

Freude schenken ist doch etwas Schönes – und manchmal kommt die Freude zurück.
