Christoph Sanders, Thalheim

Als am Donnerstag bei feuchten 0 Grad der Familiendiesel anspringt, ist es noch dunkel. Wider Erwarten wird im Laufe des Tages eine Mindesthelligkeit erreicht. Ich fühle mich mal wieder nicht ganz fit, aber auch nicht richtig krank. Krank ist der Finanzfacharbeitersohn, der am Dienstag bereits angeschlagen hier bei uns eintraf. Da er versuchte, sich mit WICK MediNait und zehn Stunden Schlaf zu kurieren, konnte er erst ab elf Uhr im Büro performen. Seine Projekte laufen gerade in Richtung potemkinscher Dörfer. Er, der oft vierzehn Stunden am Tag arbeitet, lebt in einem elektronischen Käfig – so wie dem Akkugerät die Ladezeit, wird ihm gerade mal die Nachtruhe zugestanden. Immerhin sagt er nicht wie so viele: Wenn ich dafür Zeit hätte, dann … Seine Krankheitssymptome sind mit meinen von zuletzt weitesgehend deckungsgleich: Magenprobleme und eine sehr große Schlappheit. Nach der Koffeinzufuhr steige ich etwas munterer aufs Rad. Die Fahrt verläuft gut, nur ein kleiner Einstich trübt das Fahrvergnügen. Es dauert ungefähr zehn Minuten, den Schlauch zu tauschen – den anderen habe ich dann in Ruhe zuhause ausgebessert. Nachdem Flicken eine Zeitlang Mangelware waren, sind sie nun wieder erhältlich, auch in meiner Größe 0. Ich kaufe in der Regel beim Marktführer TipTop, der die unterschiedlichsten Sets anbietet. Einmal sah ich, wie damit sogar Traktorreifen repariert wurden – mit Flicken, die so groß waren wie eine Langspielplatte, das Vulkanisermittel pinselte man aus einem großen Leimtopf auf.

Beim Trödler kaufe ich eine Monographie über den Stillebenmaler Morandi – die sieht man auch nicht alle Tage. Der Pinakothek-Katalog „Hundert Meisterwerke“ ist mir für heute zu schwer. Die Qualität der Bücher, die bei so einem Haushaltsauflöser landet, ist einerseits erfreulich, andererseits bedrückend – kaum jemand will so etwas noch haben. Im Laden umschwirren Ukrainer und Russen die drei Regalmeter mit feinstem Porzellan. Nach dem Krieg war das bei uns eher Statussymbol als Gebrauchsgegenstand – dafür sparte man sein Geld. Im DLF passend dazu ein fantastischer Satz aus der Wirtschaftredaktion: „In einem anständigen deutschen Haushalt musste der Mercedes mit in die Hausfinanzierung passen.“ Das waren sie, die Lebensziele meiner Eltern – ganz unausgesprochen, ganz unbefohlen. Bei mir müssen lediglich Dvořáks Streichquartette Nummer 8 bis 13 in die Essensfinanzierung passen. Während die Kleine den Ofen anmacht, fährt unser Sohn mit seinem Kumpel zur Spielerbesprechung. Nur ein Punkt aus den letzten vier Spielen, da muss jetzt aber mal ein Ruck durch die Mannschaft gehen! Ein wunderbarer Abendhimmel – die Wolken sehen nach Schnee aus.

Am Morgen minus vier Grad, klar und trocken. Um 8:02 Uhr kriecht ganz weit rechts die Sonne über den Horizont. Der vorher etwas orientierungslose Hase trottet aus dem Stall – endlich findet er die frischen Möhrenschalen und Knabberringe. Erträglicher Radausflug in die kleine Stadt für die üblichen Besorgungen. Ab Mittag deutliche Hektik auf den Straßen. Es ist Freitag – „Aktionen“ und „Angebote“ locken, die Netze der Discountfischer sind ausgeworfen. Die ersten Holzbuden für die Weihnachtsmärkte wurden angekarrt, die ersten Weihnachtsbäume errichtet. Bei meinem Trödler widerstehe ich der Versuchung, wegen eines einzigen Cézanne-Aquarells den ganzen Band mit Werken der Neuen Pinakothek München zu erwerben. Dafür nehme ich eine gummierte, wasserdichte sowie schlagfeste LED-Taschenlampe mit, die mit Standard-Mignonzellen läuft. Die kann man immer gebrauchen, z.B. wenn man draußen etwas sucht.
Bei Thalia in den Literaturregalen viele Buchcover, auf denen vor schwarzem Grund rotes Blut fließt. Auch im Sortiment: So eine Art Goldstaubzucker in Standardplastikmühlen. Nur 5,99 Euro! Essbarer Glitzer, Dubaischokolade und Angstpornos – Deutschland 2024/25 …

Die letzten Beeren von unserer Eberesche sind nun vernascht, in der kleinen Stadt entdecke ich einen weiteren wunderschönen Baum. Am Nachmittag väterliche Chauffeursdienste zum Musikunterricht und Fußballtraining. Am Abend am Feuer Oolong, die Nacht wird kalt, Nordostwind oblige, es werden Wintergäste im Garten erwartet. Der gestrige Morandi-Band erweist sich als absoluter Glücksgriff. Dann tiefer in die Nabokov-Biografie und Viola-Sonaten von Brahms.
