Christoph Sanders, Thalheim
I was the shadow of the waxwing slain / By the false azure in the windowpane / I was the smudge of ashen fluff – and I / Lived on, flew on, in the reflected sky. / And from the inside, too, I’d duplicate / Myself, my lamp, an apple on a plate: / Uncurtaining the night, I’d let dark glass / Hang all the furniture above the grass.
Vor dem Einschlafen lese ich das lange Gedicht, mit dem Nabokovs „Pale Fire“ einsetzt. Ich lese es drei Mal. Es ist Aufhänger und Zentrum des 1962 erschienenen Romans und ein sehr dichter Text voller starker Bilder. Gleich zu Beginn prallt ein Seidenschwanz gegen eine Fensterscheibe; der Abdruck einer Feder ist das Einzige, was vom toten Vogel bleibt. Im Internet findet man unzählige Blogs voller großartiger Fotografien von Federn mitsamt geistreichen Abhandlungen darüber – dennoch werde ich all meine guten, alten Vogelbücher behalten, diese Almanache der bunten Gefährten.

Der Dienstag mit klassischem Septemberwetter: Der sternenklaren Nacht folgt ein kalter Morgen, der in einen warmen Tag übergeht, mit einer Sonne jener Art, die einen nicht mehr verbrennt. Die letzten Brombeeren wandern noch im Garten ins Müsli; die Sträucher haben wir selbst gepflanzt. Der Finanzfacharbeitersohn ist für ein paar Tage bei uns. Er kam gegen 23 Uhr und hat sich vor 6:30 Uhr in den Hauptstrom der Pendler eingereiht. Um acht erwartet ihn in den Bürotürmen ein Call – und mich der Höhenkamm, einmal hin, einmal her, jeweils 13 Kilometer. Dort kann ich bei stetem Rhythmus ganz in mich gehen, den Takt halten und Tritt üben. Zwischendurch mache ich ausgiebige Dehnübungen. Am Rennlenker sind die Beschwerden konstant und erträglich, erst nach dem Absteigen, in der Vertikalen, drückt sich das frische Blut durchs Hämatom. Im soliden Lehnstuhl halte ich draußen eine Siesta. Nach einer schmerzfreien Stunde bringe ich die Jüngste nach Westerburg – heute ist Ballerina-Tag.

Am Mittwoch ist die Wende geschafft: Das Hämatom bildet sich zurück, dominiert nicht mehr die Gedanken. Auch der Körper muss sich immer weniger dem Schmerz anpassen – gestern gab es die hoffentlich letzte Ibuprofen. Der Finanzfacharbeiter ist, nachdem er das Geschäftsabendessen durch Ausschlafen kompensierte, mit dem Klapprad Richtung Arbeitsplatz los. Ohne Frühstück! Alle anderen verließen bereits kurz vor sieben das Haus. Südwestwind, schwülwarmes Wetter. Urlaubssaisonende. Verhaltene Vogelwelt. Ich falte Handtücher und freue mich über die neue Schmerzfreiheit.

Später Windböen und Gewitterwolken. Die Wäsche und Räder sind in Sicherheit, alle Besorgungen erledigt. Auf den Milchtüten kleben Rabattaufkleber – es ist der 27. Den Typen hinter mir betrifft das nicht, er legt wie üblich seine Palette No-Name-Energydrinks aufs Band. Der Teenie ist nach drei Tagen Klassenfahrt wieder zuhause. Sie berichtet von den grupendynamischen Spielen. Übers Phishing von 15 Millionen Paypal-Adressen waren sie alle bereits informiert, hatten ihre Passwörter längst geändert. (Deutsche Banken hielten Zahlungen in zweistelliger Millardenhöhe zurück – die Dino-Medien meldeten es mit Verspätung.) Jetzt werden die neuen Sneaker von Zalando imprägniert, die Schnürsenkel hat sie schon ausgetauscht.

Ein nebeliger Donnerstagsmorgen. Das Wanderhämatom gibt keine Ruhe. Ich musste doch wieder zur Ibuprofen greifen. Am Nachmittag bekomme ich eine kleine Regendusche ab, danach schwülwarm und herbstlich duftend. Meine Jüngste singt beim Spülmaschinenräumen Weihnachtslieder. Vor dem nächsten Schauer hinauf zu Rossmann, um für die vielen vielen Bilder des Jahres einen Stick zu kaufen. Ich baue ganz fest darauf, dass der USB-Standard auch in fünfzig Jahren noch da und somit auslesbar für die nächste Generation ist.

Während sich der Teenie auf die drei Monate als Austauschschülerin in Le Mans vorbereitet, überlegt unser Finanzfacharbeiter, wie man eine Stadt wie Wolfsburg retten kann, ohne dass sie zum Detroit 2.0 wird. Um Substanz zu erhalten, braucht es Rückbauingenieure und Dekonstruktionsarchitekten. Wo werden da die Debatten geführt, wo wird der Bürger aufgeklärt und miteinbezogen? Das hinterhältigste Narrativ ist, dass man dem Volk nicht alles „zumuten“ kann. Und so glauben die einen eben noch ans sichere Häuschen, während die anderen schon mal ihr Kapital in Sicherheit bringen. Nur eine der vielen Transformationswellen, die unsere zentraleuropäische Gesellschaft gerade durchziehen.
(https://www.featherbase.info/fr/species/bombycilla/garrulus)
