Helko Reschitzki, Moabit

Vom Nordwestufer des Schlachtensees ist zu vermelden, dass ein weiteres Blässhuhnpärchen erfolgreich gebrütet hat! Und auch in dieser Familie folgt alles den uralten, über Jahrtausende vererbten Regeln: Die Jungen klettern, stolpern, plumpsen unmittelbar nach dem Schlüpfen aus dem direkt an der Gewässeroberfläche erbauten Nest ins Wasser, können bereits schwimmen, paddeln also sofort mit ihren riesigen Füßen los und fordern laut piepsend ihr Futter ein. Was sie ziemlich oft machen, so dass ihre Eltern immer wieder nach Nahrung tauchen. In den ersten Tagen bekommen sie vor allem Tierisches, zum Beispiel Insektenlarven – eiweißreiches Futter ist entscheidend für das schnelle Wachstum, nach und nach kommen Pflanzen und Algen dazu. Ein instinktives Zusammenspiel, das das Überleben der Art sichert. Die Küken sind mit einem dunkelgrauen bis schwarzen Dunenflaum bedeckt; weit erkennbar die leuchtend rot-orangene Kopffärbung mit den gelb-roten Borstenfedern – ein Anblick, der in zwei, drei Wochen verblassen und allmählich einem unauffälligeren grau-bräunlichen Jugendgefieder weichen wird. Interessant: Die Signalfarben machen die Küken zwar sichtbarer für Fressfeinde, erleichtern den Altvögeln aber auch das Wiederfinden im Schilf oder in der Dämmerung. Die Evolution hat dieses Problem offenbar zugunsten der elterlichen Fürsorge abgewogen.

Am Vormittag kühl, windig und dickwolkig, später bricht immer öfter die Sonne durch – sekündlich wechselnde Licht- und Schattenspiele, da kannste als Künstler einpacken. In der Ringbahn neben mir drei etwa zehnjährige Jungs, die sich über ihre verstorbenen Haustiere unterhalten. Zwei zeigen an sich (einmal Kopf, einmal Bauch), wie groß die Tumore ihrer Hamster waren, der dritte berichtet von seiner Katze, die an einem Nierenversagen starb. Daran können sich die beiden anderen noch erinnern. Man ist sich einig, dass der Tod einer Katze schlimmer ist als der Tod eines Hamsters: „Hamster kommen und gehen!“ Übergangslos ist man beim Thema „Was würdest du machen, wenn du richtig reich wärst?“ – Antwort: „Einen riesigen Simulator bauen, damit ich irgendwann besser S-Bahn fahren kann als unser Fahrer.“ Sofort gehen sie in technische Details, als das Wort „Steuerrad“ fällt, klatschen sie sich ab – Insideranspielungen sind wichtig. Als nächster Vorschlag kommt: „Eine Insel kaufen, da kannst du machen, was du willst.“ „Außer Töten!“ „Muss man aber ja auch nicht.“ Leider bin ich kurz abgelenkt, so dass ich verpasse, warum die drei urplötzlich über Stalingrad reden („Das ist bei den Russen.“) und dabei Granatenexplosions- und Schießgeräusche imitieren. Ich tippe auf ein Computerspiel – im Unterricht einer vierten, fünften Klasse dürfte der Weltkrieg noch nicht Thema sein.

Für einen thalheimer Freund und dessen Kinder nehme ich aus dem Trödel das wundervolle DDR-Kinderbuch „Die Schwarze Mühle“ des Sorben Jurij Brězan mit und erfreue mich wie seit Jahrzehnten beim Durchblättern an den großartigen Illustrationen Werner Klemkes. Zuhause angekommen, finde ich im Postkasten einen Brief genau jenes Freundes – auf die Rückseite des Umschlags hat er ein schwarzes Windrad gezeichnet. So fügt sich eins zum anderen …

Die letzte Tasse Tee des Tages erhebe ich auf das gottverdammte Genie Brian Wilson und danke ihm für das Licht in dunklen Stunden.
