Christoph Sanders, Thalheim

Am Montag offizielle Bestätigung, dass ich ins Feld fürs Zeitfahren Hamburg – Berlin am Samstag rücke, von 250 Teilnehmern sagen immer einige kurzfristig ab. Nebenan hüpfen die Kindergartenkinder auf neuen grünen Kissen herum. Die guten Erzieherinnen unserer eigenen Kinder sind, wie wir alle, nun zehn Jahre älter – außer der Anschaffung von Spielgeräten mit aktuellem TÜV-Siegel und der Ergänzung der kleinen Bibliothek mit Elektronikspielzeug, hat sich drüben nichts geändert. Auch ich bleibe beim Bewährten: Kaffee, Tee und Orangenmarmelade. Helmut Höges Stück über seine taz-Reportagen von einem Zeltplatz am Nieder-Mooser See in den Achtzigern unterhaltsam. Ich kann ergänzen, dass Lauterbach und Umgebung seitdem nicht gerade einen Aufschwung erlebt haben und der schöne, einsame Vogelsberg nach wie vor äußerst dünn besiedelt ist. Inzwischen gibt es dort aber den Vulkan-Radweg, der von der „armen“ Fuldaer auf die „reiche“ Frankfurter Seite führt.

Meine Große ist jetzt Spandauerin – ich habe immer noch kein Bild, keine Nachricht (so schnell wird man vergessen!) Ich freue mich irre für sie: Stur, eigensinnig, instinktiv und ohne unser Zutun hat sie den ersten Sprung geschafft – für einen Mann entschieden, für ein Fach, für einen Ort. Am 3. Oktober, dem Tag mit dem straffen Ostwind, sind unsere Schwalben verschwunden, die Störche schon vorher.

Mit dem Rad auf den Berg, um eine Achsvermessung zu terminieren. Beim Edeltrödler tausche ich den defekten Verstärker gegen eine hübsche weiße Schreibtischlampe um, nehme außerdem ungespielte Mozart-LPs und eine kleine Auswahl an Klassik-CDs mit, darunter Krzysztof Pendereckis „Werke für Klarinette“ mit Sharon Kam – das ist faszinierende, lebendige, moderne Musik. Ein zweiter Kuchen ist in Arbeit. Wie wunderbar dunkel die Pflaumen sind, wenn sie aus dem Backofen kommen, wie süß, und nicht einfach nur „süß“ – wie herrlich intensiv sie schmecken! Das Glück, das im Gras liegt. Als ich den Hasenstall schließe, kommen die Kids vom Kindergeburtstag.

Am Dienstagmorgen den Chatbot nach einer Methode befragt, die Hasen daran hindert, Löcher zu buddeln. Ich würde Prompten gleich ab der sechsten Klasse als grundlegende Wissenstechnik einführen. Aber wahrscheinlich fehlt dem Lehrkörper dafür noch die Vorlage – die alte deutsche Krankheit. Diese strukturelle Trägheit ist aber kein Einzelfall: Während hierzulande gezögert und kaputtverwaltet wird, zerbricht in Frankreich die politische Klasse bereits an der Krise des alten Europas, nur früher und auf eigene Weise: Das Präsidialsystem zieht eine andere Machtverteilung nach sich, das Stadt-Land-Gefälle ist größer, das Migrationsproblem älter und ausgeprägter – anders als bei „unseren“ Türken ist dort das Kleinunternehmertum (Gastro, Transport, Lebensmittel, Handwerk, Tiefbau, Security) weit weniger ausgebildet. Ich brauche mir in unteren deutschen Sportligen nur die Sponsoren anzusehen – der erfolgreiche Mittelstand der einstmals Zugewanderten: viele stolze Malerbetriebe, Bauunternehmer usw. Ich erinnere mich an ein Fußballspiel in Berlin Wedding, wo die Mannschaften Werbung zweier rivalisierender Dönerproduzenten trugen (deren schwarze S-Klassen kreuz und quer im Halteverbot standen) – so etwas wäre in Frankreich die absolute Ausnahme.

Sehr gute Trainingsrunde auf gewohnter Strecke im Gelbachtal. Maximalbelastung: Mehrfach über 2 Minuten mit 40 km/h fahren. Nach dem Dehnen geht das leichter. Dann auf dem großen Blatt mit langsamem Tritt den vierprozentigen 3-km-Anstieg. Austrudeln. Mit hoher Frequenz 6 Kilometer abwärts. Nach 45 Minuten ist die Lunge frei. Erst heute kann ich dieses Training machen – aber besser spät als nie. Ich fühle mich allmählich wieder so wie vor zwei Monaten.

Der Mittwoch grau und ruhig. Rückenziehen vom Training gestern – das sind die dicken Gänge, da muss man dehnen und lockern … bis Samstag sind die Zellen nachgewachsen. Oben sortiert die Jüngste ihre Schleich-Pferde und hört Hit Radio. Ich werde mich gründlich rasieren und für das Menü sorgen. Aber erst einmal gibt es Kaffee und Brahms‘ „Klavierkonzert Nr. 2“ mit Sviatoslav Richter und dem Chicago Symphony Orchestra unter Leinsdorf im 24 bit remastering. Die Aufnahme klingt freier, offener und gleichzeitig kraftvoll – das Orchester sitzt nun um das Klavier herum, nicht mehr weit dahinter. Ich kann mir kaum vorstellen, dass in der Streamingwelt auf sowas geachtet wird, solche Produktionen überhaupt noch möglich sind.

Mein Sohn hat nun ein Schweizer Online-Valuta-Konto, auf dem er sich gebührenfrei Forint eintauschen konnte. Mit dem Guthaben ist er jetzt in Budapest unterwegs. Ich muss das alles noch lernen – aber mich interessiert der Umriss der kommenden Dinge, die Umgewichtung, all die neuen Kanäle, Netze und Wege. Mir ist dabei völlig klar, welchen Luxus, welche Subversion mein Ignorieren eines Smartphones darstellt – mir würden E-Mails nach wie vor reichen.

Beim Schlauchflicken und dem Aufziehen neuer Mäntel höre ich den alten Ronzheimer-Podcast mit Franz Josef Wagner. Der ist wie Peter Kurzeck ein böhmisches Flüchtlingskind – und ein ebensolcher großer Erzähler! Geglückte Testfahrt – der Winter kann kommen. Der syrische Elektronikgebrauchtwarenhändler sieht null Anlass, etwas anderes als Windows 10 auf dem Laptop zu haben. Es gebe halt keine Updates mehr, aber sonst passiere nix. Bin beruhigt. Neues Tonzug-Graffiti: „Der Soldat, der nur so tut, als würde er schießen“.

Am Donnerstagmorgen hebt sich nach vernieselter Nacht die dünne Wolkendecke. Zur Tourvorbereitung Rad, Reifen, Mechanik prüfen. Probefahrt mit Gepäcktasche. Vor zwei Tagen habe ich den Rücken etwas überfordert – Dehnen hilft, Wärmesalbe, das Fahren selbst. Das Beste an allem ist die Wiederkehr des alten Körpergefühls nach meiner besiegten Covid-Erkrankung – was für ein Siechtum das bei schwachen Konstitutionen sein dürfte … Morgen früh geht es nach Gießen, dort steige ich in die Bahn Richtung Hamburg. Am Samstag ist ab 6:30 Uhr nach und nach das Fahrerfeld am Start. Ich freue mich auf Berlin, vor allem auf unsere Große in ihrer Spandauer WG!

Auspendeln des Tages mit Poulenc‘ Bläsern, Caro-Kaffee, Lektüre und Nachdenken. Wie ein Film läuft die Rennstrecke vor mir ab – nach so vielen Jahren reise ich ohne Navi. Die Wettervorhersagen lassen mich vorsichtig sein. Ich rechne mit Westströmung (was gut wäre) und strichweise Regen (da muss der Zeitpunkt stimmen).
Freitagmorgen. Bis auf das (abklingende) Ziehen im sogenannten Lendenwirbelbereich bin ich bereit für die Tour. Verdichtung der Wolkendecke. Vorsichtshalber führe ich alle wichtigen Klamotten doppelt mit – Strümpfe, Dress, Hose usw. trocknen nicht so schnell. „Grau und herbstlich“ ist ein Begriffspaar, das im Wetterbericht immer umgangen wird – die Laune muss gehoben, den Deutschen „Mut gemacht werden“, wie der Kanzler gerade äußerte. Nun noch die Hasen versorgen, dann ab.
Aufbruchstimmung. Vorfreude.
