Frank Schott, Leipzig
Was stinkt hier so wie alter Männerschweiß, frage ich mich während des nachmittäglichen Spaziergangs mit meiner Frau. Ja, ich hatte heute Sport gemacht (okay, das ist untertrieben, aber dazu später mehr), aber danach lange in der Wanne gelegen und mir später auch frische Wäsche angezogen … also, was stinkt hier so? Dann fällt mir ein, dass ich mir, als ich in der Wanne lag, ein Entspannungssalz ins Wasser geschüttet habe. Das mach ich sonst nie. Der Name des Gemischs: Patschuli-Sandelholz! Das erklärt alles. Weil mich der Duft so nervt, kann ich kaum die herbstlichen Eindrücke genießen.
Ich muss mir Chips holen. Ich brauche dringend Kohlenhydrate. Die Spätis dürfen in Leipzig am Sonntag nur noch öffnen, wenn sie zugleich Imbisse sind. Dafür müssen sie Tische und Stühle oder Sitzbänke bereitstellen. Machen sie das nicht, drohen deftige Ordnungsstrafen im mittleren dreistelligen Bereich. Also sind die Bürgersteige so vollgestellt, dass man kaum vorbeikommt. Die Anwohner nervt das natürlich. Vor allem abends. Doch das ist kein Grund sprachlich ungenau zu werden. „Ab 22 Uhr bitte Ruhe bewahren“, fordert ein selbstgebasteltes Schild. „Müsste es ich nicht ‚Ruhe halten‘ heißen?“, fragt mich meine Frau.
An einer Häuserecke steht eine Gruppe südländisch aussehender Männer, alle mindestens zehn Zentimeter größer als ich. Muskulöse Oberkörper, Bomberjacken. In einem der Eingänge weint ein Kind. Ich erkenne im Pulk eine Frau, die das Kind zu trösten versucht. Jemand reicht einen Einweghandschuh weiter. Ein Mann fragt: „Hast Du Krankenwagen gerufen?“ – „Hab ich, Mann“, so die Antwort. So können Vorurteile und Ängste täuschen.

Aber ich wollte etwas zum Sport sagen. Nach tagelangem Blick auf den Wetterbericht lautete die letzte Prognose gestern, dass es am Sonntag zwar regnen könne – jedoch frühestens ab 16 Uhr. Also meldete ich mich kurzfristig zum Halbmarathon an.
Der Sonntagmorgen beginnt mit einem stärkenden Frühstück – anderthalb Brötchen, Lachs und Marmelade, ein hartes Ei, ein paar Weintrauben. Danach packe ich mein Zeug zusammen. Ich hefte die Startnummer ans Trikot, unter das ich ein wärmendes Langarmshirt ziehe. Für die Beine reichen die Shorts. Es ist mein erster offizieller Lauf, weswegen ich es ganz unbedarft angehe und eine halbe Stunde vor dem Start mit dem Fahrrad ankomme.
Fehler.
An der Garderobe gibt es sehr lange Schlangen. Drei, um genau zu sein, und keine bewegt sich. Der Grund, wie ich später merke: Es mischen sich diejenigen, die nach dem vorherigen 10-Kilometer-Lauf ihre Sachen abholen, mit jenen, welche gleich den Halbmarathon laufen. Da ich vorsichtshalber auch noch eines der Dixieklos aufsuche, vor denen es ebenfalls Schlangen gibt, verpasse ich den Start. Statt mich in dem Block einzuordnen, wo ich von meinen Laufzeiten hingehöre, stehe ich nun ganz am Ende des Felds.

Ich habe einen guten Blick auf die Menschen vor mir, den Start- und Zielbogen und das Völkerschlachtdenkmal. Die Strecke führt über die Stadtteile Lößnig, Probstheida und Wachau zum Markkleeberger See und wieder zurück. Mein verzögerter Start rächt sich, da ich irgendwie am Pulk der langsameren Läufer vorbeikommen muss. Die ersten zwei bis drei Kilometer bin ich daher damit beschäftigt, mich voranzukämpfen, durch Lücken zu schlüpfen, über Bürgersteige und Rasensäume auszuweichen. Dann lockert sich der Pulk auf – ich kann meine Laufgeschwindigkeit aufnehmen.
Da wir uns überwiegend am Stadtrand bewegen, stehen nur wenige Anfeuerer an der Strecke. Das ist beim Leipziger Stadtmarathon anders. Auch Musik gibt es kaum, außer dass eine ältere Frau auf ihrem Smartphone AC/DC abspielt und bei „TNT“ laut mitsingt. Im Gegensatz zu der Dame zaubern mir die Historiendarsteller der Völkerschlacht-Vereine, die mit ihren Gewehren und in voller Uniform an den verschiedenen Kilometermarken stehen, ein Lächeln ins Gesicht. In Richtung Markkleeberger See geht es nach den asphaltierten Straßen über Waldwege weiter, was mir vom Laufen her sehr entgegenkommt.
Wie motiviert man sich, wann man einer großen Gruppe unterwegs ist? Ich suche mir Läufer oder Läuferinnen in farblich auffälligen Shirts, die ich als nächstes überholen will.
Blick auf den Tracker: 10,6 Kilometer – Halbzeit.

Nach 14 Kilometern komme ich zum zweiten Mal an einem Stand vorbei, wo es Bananen, Riegel und Pappbecher mit Getränken gibt. Zu mir nehmen mag ich nichts, weil ich Angst habe, aus meinem Rhythmus zu kommen. Ich winke, weil meine Nachbarin und ihr Sohn hier als Helfer die Läufer versorgen. Bei Kilometer 17 greife ich mir dann doch einen Becher, verschütte aber die Hälfte. Zumindest ist die Kehle benetzt – gestärkt fühle ich mich nicht.
Mir fällt auf, dass vor mir nur noch wenige Frauen unterwegs sind. Gleichzeitig merke ich, dass mich der eine oder andere Läufer von hinten überholt. Doch ich kann nicht mehr schneller. Es geht auch immer mal bergauf, was ebenfalls Körner kostet. Dennoch bin ich sehr zufrieden: Bis auf einen bin ich alle Kilometer in weniger als 5 Minuten gelaufen. Geil!
Schließlich das Ziel: Nee, Irrtum – der erste Bogen war nur Werbung für den Hauptsponsor. Noch eine Kurve, dann das Ziel: Durch den Zielbogen rennen, Medaille umgehängt bekommen, austraben, Luft schnappen. Meine Oberschenkel zittern, aber ich bin so voller Adrenalin, dass ich vor Freude und Glück weinen könnte.
Ich schnappe mir eine Banane und suche einen Getränkestand. Zwei Becher Apfelschorle und ein alkoholfreies Bier heruntergestürzt, dann gehts mir besser. Ich habe überhaupt keinen Hunger, zwinge mich aber, die Banane zu essen.

Das wars. Ich könnte am Automaten ein Finisher-Foto machen. Ein Selfie genügt. Ich will meine Zeit wissen und gehe ins Urkunden-Zelt. Ich muss die Startnummer eingeben und darf mir die Urkunde selber ausdrucken. Geht wahrscheinlich am schnellsten. Ich bin gespannt auf das Ergebnis. Mein Tracker hatte mir schon eine Zeit genannt, aber das ist ja nicht die offizielle. Da ich die Woche über pausiert hatte, spekuliere ich auf ein gutes Ergebnis – es lässt sich wirklich sehen:
1:44:38 h – und es waren keine 21,1 km, sondern sogar 21,65 km! Platz 291 von 1.254 Männern, Platz 15 in meiner Altersklasse. Wäre ich fünf Monate älter gewesen, hätte es für Platz 2 gereicht.

Die Beine zittern immer noch. Immerhin geht es an der Garderobe jetzt schneller voran, weil die meisten noch nicht im Ziel sind.
Rauf aufs Fahrrad und ab nach Hause in die Wanne.
Man riecht sich.
