Christoph Sanders, Thalheim
Vor ein paar Tagen traf ich an der Aldi-Kasse den pensionierten Konservator des Heimatmuseums Hadamar. Wir kamen auf Karl Wilhelm Diefenbach zu sprechen, unseren weithin bekannten „Kohlrabi-Apostel“ – Pionier der FKK- und Lebensreformbewegung, einer der ersten Landkommunengründer, Urpazifist und Künstler. Ich werde auf eine mir noch nicht bekannte Dissertation aufmerksam gemacht, die ich umgehend auf digitalem Weg besorge und noch am selben Abend lese. Eine gute Ergänzung zu dem, was ich bislang wusste.
Diefenbach, 1851 in Hadamar geboren, ist eine in jeglicher Hinsicht pitorreske Gestalt, deren Urknall im Vegetarismus liegt und der Nähe zur Natur, als der einzigen richtigen Lebensform. Dabei schnappt er alle Strömungen der Zeit auf: reformierten Landbau, Darwinismus, Heilkunde, Symbolismus, Pazifismus …

Eine schwere Typhus-Erkrankung, die er sich als Kunststudent in München zuzieht, bringt ihn an den Rand des Wahnsinns und für ein halbes Jahr ins Spital, wo aufgrund von Fehlbehandlungen sein rechter Arm verkrüppelt. Er kehrt zur Pflege ins Elternhaus zurück, erholt sich in den bayerischen Bergen, stellt sein Leben um. Da er überzeugt ist, durch die von ihm angewandten Naturheilmethoden gerettet worden zu sein, fühlt er sich nunmehr zum „Apostel der naturgemäßen Lebensweise“ berufen. Passenderweise erlebt Diefenbach (kurz nach Eheschliessung) dann am Morgen des 28. Januar 1882 auf einem Berg im Voralpenland den „Sonnen-Aufgang seiner Seele“ und verkündet fortan in Schwabing in langer weißer Wollkutte und Sandalen die Lehre vom Leben im Einklang mit der Natur, der Bewegung an der frischen Luft und der Ausübung der Freikörperkultur. Da er kultisch die Sonne verehrt, nennt Diefenbach eines seiner Kinder dann auch folgerichtig Helios. Das Korsett der christlichen Religion und Monogamie lehnt er ebenso strikt ab wie das Essen von Fleisch, da er in der Tötung des Tieres eine der Ursachen allen Übels sieht: ein Vergehen wider die Natur, die doch „der Sitz des Heiligen“ ist.
Da sein Auftreten in selbstentworfener Kutte und Riemchenschuhen als sittenwidrig gilt, hat Diefenbach in München unentwegt mit Strafverfolgung zu kämpfen, so dass er sich in einen verlassenen Steinbruch zurückzieht, wo er in einem leerstehenden Haus eine kleine Künstlerkommune gründet. Kinder und Erwachsene wandeln nackt im Garten, aus dem sie sich auch selbst versorgen. Das Idyll ist nicht von Dauer, der „Naturismus“ wird denunziert, die Kommune muß aufgegeben werden. In Wien wiederholt sich das Experiment später mit ähnlichem Ausgang. Mit immer neuen Jüngern und Konkubinen gelangt Diefenbach bis nach Ägypten, wo er einen Kolossalbau von 40 Metern Höhe errichten will, gekrönt von einem 10 Meter hohen Sphinxkopf, dessen Augen die Fenster seines Schlafzimmers bilden sollen. Woraus dann aber nichts wird. Er wechselt oft den Wohnort, gründet neue Kommunen, ist als Künstler nicht unerfolgreich, immer wieder finden sich Mäzene und Käufer seiner Bilder. Die symbolistischen Gemälde lehnen sich eng an die damals aufkommenden theosophischen Strömungen, wobei er deren buddhistischen Abzweigungen ablehnt (aus denen Rudolf Steiners Antroposophie hervorgehen soll). Interessanterweise verarbeitet Diefenbach, der Kirchenabgewandte, auch biblische Motive.

In der Himmelhof-Kommune in der Nähe von Wien wird er kurzzeitig zur von der Presse überrannten Lokalberühmtheit, nicht zuletzt seines langen Bartes und Gewandes wegen – Aufregerfotos waren auch damals schon ein gutes Verkaufsargument im Pressegeschäft. Er bekommt Polizeischutz.
Die Ausstellung des großen Frieses „Per aspera ad astra“ (deutsch: „Durch das Raue zu den Sternen“), den er zusammen mit seinem Jünger und Helfer Fidus als Gesamtkunstwerk mit Naturmaterialien anfertigte, wird ein Publikumserfolg. Eine zweite Präsentation endet im Konkurs, weil der Veranstalter die Gelder veruntreut – Diefenbach muß seine gesammelten Werke als Pfand hergeben. Davon nicht entmutigt, gelingt es dem Umtriebigen, neue Gönner zu gewinnen, sei es ein Wiener Arzt, sei es eine italienische Gräfin, sei es die Pazifistin Bertha von Suttner. Man mag ihn im deutschsprachigen Raum, wo man Nietzsche liest und auf Sinnsuche ist. Es entstehen unentwegt spirituelle Strömungen, unter denen er als apostolische Gestalt ein Unikum ist. Hier auf Erden, nah an der Natur und den Elementen Luft und Sonne will Diefenbach das Paradies verwirklicht sehen, nicht erst im Jenseits oder als Wiedergeburt.
1913 stirbt der ständig Kränkelnde im Alter von 62 Jahren auf Capri an den Folgen eines Darmverschlusses.

Die Stadt Hadamar hat besagten, 68 Meter langen, 34teiligen Fries geerbt, hält aber nur wenig Stücke darauf – für die nächsten zwei Jahre ist er „wegen Renovierungsarbeiten“ nicht zugänglich, was danach geschieht, ist völlig offen. Andere nennenswerte Kunstwerke gibt es dort nicht – der Konservator is not amused.
Der Name Diefenbach ist bei uns stark verbreitet, allein hier im Dorf gibt zwei Stämme: „Diefenbach Bautenschutz“ und „Diefenbach Autoservice“. Ich finde an seiner Figur die naturmystischen Ansätze interessant, die radikal-vegane Ernährung, die Reaktanz auf industrielle Vereinnahmung. Seine fast prototypische Verkörperung der Strömungen und Reformbewegungen um die Jahrhundertwende, die durchweg bürgerlich initiiert waren (gemeint ist immer: nicht proletarisch – der Arbeiter hatte keine großen Ernährungsoptionen). Auch die Gestalt des Guru moderner Ausprägung wird en passant miterfunden. Erst taten es ihm in den 20ern die „Inflationsheiligen“ gleich, dann buddhistisch-hinduistische Meister oder Sekten wie die Vereinigungskirche von Moon. Diefenbach begriff sich explizit als Patriarch seiner Bewegung, für die er auch Erziehungsheime ersann, an die später die Lebensborn-Heime der Nazis erinnern sollten – der Grat zwischen harmloser Exentrik und Gefährlichkeit ist oft schmal. (Der irrlichternde Lebenslauf seines Jüngers Fidu wäre eine eigene Betrachtung wert – den führte es nach dem Tod Diefenbachs über die Gartenstadt-, Wandervogel- und Bodenreformbewegung zur NSDAP, in der SBZ fertigte er Stalin-Portraits an, schloss sich in Westberlin der Freireligiösen Gemeinde an und wurde CDU-Wähler.)
Man sieht von Diefenbach ausgehend interessante Zickzackbezüge zur Gegenwart: Reformhäuser, die Parteigründung der Grünen, die stetig wachsende Bionische, das Einfordern der Selbstbestimmung über den eigenen Körper, die heftigen Reaktionen der Überforderten auf die technologischen Umwälzungen der heutigen Zeit, eine zunehmende Suche nach Rückzugsorten und Religionsersatz, politische Öko-Siedlungsprojekte, die Wiederkehr der Sonnenkulte.
2015 wurde, durchaus passend, ein Asteroid nach unserem Kohlrabi-Apostel benannt: „(6059) Diefenbach“. Space is the place.

