Christoph Sanders, Thalheim

Mit „Der eingebildete Kranke“ auf Youtube am Sonntag zur Nacht. Krankheit als Selbstschutz und toxische Strategie – keine schlechte Variante. Der Montagmorgen mit den üblichen Startschwierigkeiten: der Teenie verschläft sowie Zugausfall, da noch einige sturmgefällte Bäume auf dem Gleis liegen. Am Unwettersamstag hatte ich einen Aha-Effekt, was Kommunikationsmittel angeht: Als ich meine Frau warne, was da auf uns zukommt, ist ihre Reaktion, sie habe gerade Wichtiges zu erledigen, alles andere könne warten. Also bringe ich allein einige Sachen in Sicherheit. Das Unwetter tobt schlagartig los. Ihr späterer, überraschter Kommentar: Ihre App habe das gar nicht angezeigt! Nun habe ich begriffen, warum die Ahrtal-Katastrophe so kam, wie sie kam: Da es keine offizielle Durchsage gab, versuchten alle an ihrer Tagesroutine festzuhalten. Einschließlich der politischen Verantwortlichen, die gedanklich bereits im verplanten Wochenende steckten. Und so wird dann eben kein Katastrophenalarm ausgelöst, da kann der einsame Polizeihubschrauber noch so viele Videos der Wärmekamera in Echtzeit senden. Die Weiterleitung der Nachricht unterbleibt, weil keiner sie richtig ernst nimmt. Durch das mentale Delegieren an (imaginäre) Apparate, geht unser Instinkt und die Nutzung der humanen Intelligenz komplett verschütt. Und auch der Rest: Wir speichern täglich Bilder (und anderes) und leisten damit eher Verdrängungs- als Erinnerungsarbeit. Dadurch verlieren wir komplett unser persönliches historisches Bewußtsein, die Etappen der eigenen Existenz gehen in einer Art Brei unter. Peter Kurzeck schrieb alles auf, weil er Angst vor diesem definitivem Verschwinden hatte. In unserer Familie gelte ich als Beeinträchtigter des Digitalen.

Für alle Bolognese gekocht. Dann aus Bradburys „Marschroniken“ vorgelesen – die Jüngste fands witzig. Weiter mit Musik und Text. Nach einer Dreiviertelstunde ergebnisarmen Gefrickels am alten, festgefressenen Zahnkranz und einer Hinterradbremse entkrampfe ich, während das Teewasser heizt, meinen Rücken. Mit Pai Mu Tan die Radionachrichten. Dann aufs Rad. Ich bekomme beim Trödler einfache Manschettenknöpfe aus vernickeltem Metall. Am Zug, der den Steinefrenzer Ton Richtung Sassuolo bringt, ein neues Graffiti: „Der Soldat, der Liebesromane schreibt.“ Ich stelle mir immer vor, dass das einer dieser ausgemergelten, aus dem Kloster entronnenen Mönche sprayt, die an großen Häfen und Bahnhöfen herumlungern.

Nachtruhe bei frischen, einstelligen Temperaturen.
