Christoph Sanders, Thalheim
So war die Woche: Der letzte Donnerstag im Oktober sonnig mit frischem Wind. Beim Dorfuhrmacher, der sein Handwerk versteht, neue Batterien für die Uhren der Töchter besorgt. Smartwatches verhageln das Geschäft mit der Jugend. Weitere Vorbereitungen auf Halloween – im großen Kürbis heult nun ein ausgeschnitzer Wolf. Überall wird Kunstblut verkauft, Spinnweben sind der Deko-Renner. Geglückte Restauration meines guten alten Micron-Elektrorasierers.

Der Freitag startet mit 2 Grad, Raureif und Windstille. Das Radio meldet, dass wegen der Vogelgrippe in Deutschland bereits eine halbe Million Tiere „gekeult“ wurden. So langsam verschwindet das Thema aber aus den Medien. Am Kassenband ist der Kunde nun wieder König – das neue Geld wurde überwiesen. Im ganzen Dorf Kostümierte unterwegs, auch meine bald (Sonntag!) Dreizehnjährige mit ihren Freundinnen – kleine Spinnwebparty auf dem Hof einer Grundschulkameradin. Milde Wetterlage – das ist gut für den Fun. Meine Frau ist auch dabei – bei ihr ist eine Verkleidung nicht nötig, wurde gesagt. Der Mann und der Sohn hüten das Haus und machen den Ofen an. Teemischung und das „Cellokonzert“ von Saint‑Saëns mit dem großen Heinrich Schiff. Was mir beim Lesen von Nikolai Gogols „Taras Bulba“ auffällt, ist die allgegenwärtige Bereitschaft zur Gewalt – fast schon die Suche nach einem Anlass, um kämpfen und siegen zu können. Wir hören so etwas dann „plötzlich“ aus dem Sudan – nachdem sich in Gaza die Lage etwas beruhigt hat, wird mit anderem Entsetzen Clicks generiert. Halloweenbeute der Jüngsten: 1,5 Kilo Schokolade – natürlich ist das meiste darin billigster Zucker.

Der November beginnt mit einem feinen Sencha und einem Alpen-Müsli-Porridge mit Walnüssen und Mandeln. Wenn die gestiegenen Kakaopreise nun auch bei der SZ ankommen sind, hats vermutlich auch der Letzte mitbekommen. Kakao war immer Luxus – die meiste Schokolade verdient ihren Namen nicht. Das graukalte Wetter ist in Nieselregen gekippt. Ich begnüge mich mit einem zweistündigen Spaziergang durch die Felder. Leider tragen die zwei Zielapfelbäume in diesem Jahr keine Früchte. Aus dem Küchenfenster entdecke ich eine kleine Tannenmeise. Weil Allerheiligen in Hessen kein Feiertag ist, in Rheinland-Pfalz dagegen schon, setzt ein entsprechender Autozustrom aus den vom Konsum abgeschnittenen Regionen ein. Der Sohn bereitet sich auf das Dorfduell vor – Spiel ohne Grenzen ist vermutlich das Vorbild. Bier ohne Grenzen wird es auf jeden Fall geben. Er freut sich – ich muss lächeln. Sehr gute Folge Lanz & Precht mit einer kompakten Zusammenfassung der US-Operationen in Venezuela – wie Precht sagt: Öl kann man nie genug haben. Am sehr frühen Abend völlige Dunkelheit. Der Regen hat nun aufgehört.

Die Götter haben gesprochen: Das Oberdorf hat am Vorabend die Talentshow gegen das Unterdorf gewonnen. Mein Sohn war mit seinen Fußballlern dabei – es geht ihm am Morgen den Umständen entsprechend (FaKo = Fanta-Korn). Aus dem völlig verregneten Samstag ist ein mildwolkiger Sonntag geworden. Mit der Jüngsten, die heute ihren 13. feiert, begeben wir uns die Wiesen hinauf. Wir bewegen uns über Basalt und blicken auf das junge Schiefergebirge, das Taunus heißt. (Ich halte geologische Vorträge.) Pferde grasen, Radfahrer kreuzen unsere Wege. Unten wartet eine hausgemachte Kürbis-Ingwersuppe auf uns. Am Abend gehts zum Sushifestessen in ein Lokal namens Rubi. Da weiterhin alle über Magen-, Kopf- oder Müdigkeitssymptome klagen, wird es ein ruhiger Tag. Auch schön. Meine jüngeren Kinder sagen ganz offen, dass sie nicht in einer Stadt leben möchten. Ich sehe ja, wie ihnen beim Anblick der Hügel und Wälder das Herz aufgeht. So wie mir. Und die nächste Stadt ist ja nur eine Stunde entfernt. Ich glaube, auch da hat das Weltnetz für eine innere Annäherung gesorgt, die es in den Generationen zuvor nicht gab. Die Stadt ist einem in ihren Angeboten und Lebensformen nicht fremd – sie verspricht aber heute kein besseres Leben mehr.

Kalter Montagmorgen bei 2 Grad, noch alles feucht vom Nachtregen. Unser nun einziger Hase liebt Paprika – aber nur den roten Teil, die Stengel bleiben liegen. Die Dreizehnjährige trägt ihre neuen Sachen – im Auto pralle Altkleidersäcke. Am Nachmittag intensive Bruch- und Prozentrechnen mit ihr. Dabei hören wir die Haydn-Quartette.

Ein ausgesprochen schöner Dienstagmorgen – streifige Wolken, kleine Nebelbänke, Starenschwärme, die den Hahn okkupieren.
Ich muss mit dem Familienvan einen ausgefallenen Bus ersetzen – wir schaffen es rechtzeitig in den Nachbarort zur Regionalbahn. Alle sind versorgt, die Sonne bricht durch. Ein ehemaliger Biologielehrer von mir meldet sich per Mail und hängt Aktionspläne rund um den „Hambi“ an (das ist der Hambacher Forst). Er lebt dort in der Nähe und möchte mithelfen, einen Teil der Protestkultur vor Ort lebendig zu halten. Ich weiß absolut nicht, wie ich darauf antworten soll – es ist ja gut, wenn die Braunkohlebagger nicht mehr weiterfressen, die Energie wird trotzdem irgendwo herkommen müssen. Ich überlege, ihn zu besuchen. Müsste inzwischen ein weit über achtzigjähriger Mann sein – Grüner der allersersten Stunde, Botaniker und Zoologe.

Weiter in den Mozart-Klavierkonzerten mit Mitsuko Uchida. Zarter Anschlag, aber klar und nicht zu brillant. Ein exzellentes Timing mit treffenden, nicht effektvoll ausgekosteten Tempovariationen. Luft und Heiterkeit. Die langsamen Passagen (wie im fast totgespielten KV 488) wie bei einem Kind, das ganz in sein Spiel vertieft ist. Das ist etwas völlig anderes als ein sentimentaler Erwachsener, der gern wieder Kind wäre. Danach aufs Rad. An der Landstraße Übergabe eines italienischen Rahmens aus dem Jahr 1990. Trainingsrunde auf der Bahnstraße, die immer dichter mit Blättern bedeckt ist. Macht nix. An der Rasthütte eingeritzete Wörter, die ich nicht deuten kann.

Bringe die Jüngste nach Westerburg zum Ballett. Zufriedenes Kind, ich langweile mich im Kaufland. Die Bandbreite der Zeitungen ist gering, deren Inhalte sind vorhersehbar. Im Landwirtschaftsblatt ist die Maissaat ein größeres Thema als die Vogelgrippe. Bio-Milch wird zwischen 55 und 62 Cent abgekauft, muss aber 4% Fett haben. Alle Preise recht stabil, die Saisonverläufe normal. Nirgends Inflation. Zum Abend die aufgewärmte, mit Kartoffeln verdickte und Babysalat getunte Suppe vom Geburtstag. Für den trainierenden Jungen eine Portion Mittagsbolognese. Um 17 Uhr geht ein großer Vollmond auf.

Mittwochfrüh null Grad. Der Mond hat nachts das gesamte Haus umkreist, gegen sechs steht er noch hoch auf der Gegenseite. Um sieben verscheuchen wir Hasen-Ranger die norwegische Waldkatze, die sich hinter unserem Holzstapel einrichten will. Sie soll wissen, dass das hier für sie No-go-area ist. Eine milde Sonne leckt in Richtung der Dächer den Reif fort. Nach einer halben Grapefruit Besorgungen. Sehr frisch draußen, aber schön. Vom Trödler die „Brandenburgische Konzerte“ mit Il Giardino Armonico, 1997 von der Teldec aufgenommen. Ein fabelhaftes Kammerensemble – alles wirkt spontan, rhythmisch wechselvoll, farbig – nicht dieser ratternde Speed-Bach vom Großorchester. Zuhause in der Post dann eine CD des rumänischen Pianisten Radu Lupu und die Janacek-Quartette mit dem Talich Ensemble. Ein schöner Musikabend, und vorher auf dem Rad wars auch fein.
