Das hatte ich zuvor im Leben auch noch nie geschafft: Mich zum Schwimmen aufzumachen, während bei einigen Nachbarn bereits die Weihnachtsbeleuchtung im Fenster blinkt. Die Lufttemperatur in der letzten Woche zwischen 7 und 2°; das Wasser im Schlachtensee nunmehr bei etwas über 8°. Das ist für mich (für sechsundfünfzig Schwimmzüge) gut auszuhalten. Nur bei Regen und Wind wird es unangenehm – dann setz ich ne Mütze auf. Nach dem Baden sind die Hände der vulnerabele Punkt – Füße und Restkörper bekomme ich durch Tee und mein Gymnastikprogramm schnell warm. Ich habe dafür von keinem Geringeren als dem Größten aller Zeiten gelernt und mache so eine Art Ali-Shuffle, wobei ich Alis Tänzchen durch Händeklatschen und Schattenboxen ergänze – Float like a butterfly, sting like a bee. Ich bin der letzte Schmetterling der Badesaison.

Auch Mitte November sind die Sonnenaufgänge und Himmelsbilder bezaubernd – am Freitag sah die Schlachtenseeoberfläche mit den gespiegelten Wolken und Bäumen wie eine Winterlandschaft aus einem sowjetischen Märchenfilm aus, am Dienstag war die Rehwiese von einem pastellfarbenen, matt-orange-roten Licht angehaucht.

Durch den mehrmaligen Regen reicht der See nun bis an die Bänke heran – morgendliche Balanceakte über Wasser und Modder.

Wieder schöne Buchtplaudereien, unter anderem über das beiläufige Wahrnehmen der Umgebung – ich schau ja gar nicht (wie es mein Gesprächspartner vermutete) genau und aufmerksam hin, bekomme aber gerade dadurch viele Details mit. In der kognitiven Psychologie wird das als automatisiertes Wahrnehmungssystem bezeichnet.

Eine Frau sagt, weil das dämpfende Blattwerk fehlt, dringt der Lärm von der Stadtautobahn jetzt lauter in unsere Bucht. Je mehr das eine schwindet, desto stärker kann das andere wahrgenommen werden.

Das Pärchen Mitte sechzig (der Mann noch mit Arm-Manschette) kommt auf das Thema aktuelle Gefahren unserer Gesellschaft zu sprechen, woraufhin ich die zunehmenden Antibiotikarestinzen nenne und wir bei Bakteriophagen landen. Da stellt sich heraus, dass ihre Tochter Biologie studiert und genau das ihr Spezialgebiet ist. Zufälle gibts. Nach Meinung der beiden ist die Hochrüstung und mediale und politische Kriegshysterie hierzulande die akut größte Gefahr. Die Frau regt sich sehr über Karl Schlögels Dankesrede bei der Verleihung des „Friedenspreises des Deutschen Buchhandels“ auf. Ich entgegne, dass ich, statt mich über Leute wie Schlögel, Röttgen, Strack-Zimmermann oder Kiesewetter zu ärgern, lieber die Bücher von Sergei Platonow oder Swetlana Alexijewitsch lese. Plattitüden sind sowieso immer durch Gehaltvolles zu ersetzen.

Um den 1. November herum hat die Stadtreinigung ihre Müllbehälter vom Seeufer abgeholt. Ich habe seitdem mehrmals beobachtet, dass Spaziergänger Beutel dabeihaben, in die sie dann ihren eigenen oder gefundenen Abfall stecken. So etwas erreichst du, indem du die Menschen auf eine vernünftige und höfliche Weise ansprichst.

Absoluter Lichtblick in den oft arg vernebelten parlamentarischen Untersuchungsausschüssen und Enquete-Kommissionen zu den „Lehren aus der Coronapandemie“: Die Aussagen des allseits geachteten Virologen und langjährigen Direktors des Instituts für Medizinische Virologie an der Charité Berlin, Prof. Dr. Detlev Krüger, vor Abgeordneten und Sachverständigen im Brandenburger Landtag. Seine Eingangssätze fassen die folgenden knapp vierzig Minuten gut zusammen: „Tut mir leid, Sie jetzt wieder in die tiefen Ebenen der Naturwissenschaft holen zu müssen. Was ich referieren will, ist Lehrbuchwissen, was ich meinen Studenten jahrzehntelang beigebracht habe.“ Und so arbeitet er sich sich dann von einem RKI-Bulletin zum nächsten, zeigt RKI-Statistiken, benennt die einzelnen Maßnahmen und deren Unwirksamkeit. Er kritisiert die fehlende Datenerhebung und den unwissenschaftlichen, kontraproduktiven politischen Aktivismus in der Zeit. Dabei bleibt er erstaunlich ruhig, nur beim Thema Druck auf Kinder merkt man ihm die anhaltende Erschütterung an. Wenn man sich mit dem Thema eigentlich nicht mehr befassen, aber trotzdem eine sehr gute Übersicht bekommen möchte, sollte man sich Professor Krügers Aussagen anschauen.
