Frank Schott, Leipzig
Der Sonntagvormittag verspricht noch einmal spätsommerlich schönes Wetter, bevor dann am Nachmittag die grauen Wolken Regen und deutlich kältere Temperaturen mit sich bringen sollen. Natürlich muss ich das ausnutzen. Meine normale Laufstrecke ist 8,5 Kilometer lang – davon sind ungefähr 800 Meter der Weg von meiner Wohnung bis zu der Stelle, ab der ich ohne Straßenquerungen entspannt joggen kann. Trotz der Wärme läuft es sich prima. Ich komme auf eine Bande Krähen zu, die sich über eine verschüttete Packung Maischips hermacht. Kurz bevor ich sie erreiche, stieben sie hoch, um sich anschließend wieder auf die Mahlzeit zu stürzen.

Nachdem ich den Großteil meiner Runde absolviert habe, entscheide ich mich für eine weitere. Das wären dann gut 16 Kilometer – ich liebäugele ja immer noch mit der Teilnahme am offiziellen Leipziger Halbmarathon. Die Sonne scheint, die Luft ist mild und unter den Bäumen ist es dank des gut durchfeuchteten Waldbodens angenehm kühl. In der ersten Stunde habe ich 11,3 km geschafft. Sieht gut aus.

Während ich beim Gehen ins Grübeln verfalle, sind beim Joggen all meine Gedanken vom Stress befreit. Alles, was mir durch den Kopf geht, bekommt eine Leichtigkeit. Ich denke an die Fußballspiele, die ich in dieser Woche besucht habe. Am Dienstagabend in der vierten Liga das Ostderby von Chemie Leipzig gegen Rot-Weiß Erfurt, am Samstagabend das Bundesligaspiel von RB gegen den 1. FC Köln.

Obwohl die Spiele ausverkauft waren – eines mit 4.900, das andere mit 47.200 Zuschauern – verliefen die Abende völlig unterschiedlich. Während ich am Dienstag dick eingemummelt im kalten Wind und Dauerregen gefroren habe, genoss ich am Samstag einen lauen Sommerabend im T-Shirt. Bei Chemie tönten der Stadionsprecher und die Musik blechern aus Trichterlautsprechern, bei RB gibt es bombastischen, glasklaren Sound aus einer technisch perfekten Anlage. Für viele Fußballpuristen bietet Chemie den „ehrlicheren“ Fußball. Der Verein hatte nach der Wende immer mal wieder mit finanziellen Probleme zu kämpfen. Es gab eine Fusion mit Chemie Böhlen zum FC Sachsen Leipzig, eine Insolvenz und den Neuanfang mit einem Marsch durch die unteren Ligen. Rasenballsport hatte dagegen einen sehr potenten Sponsor, einen ehrgeizigen Plan und neben dem Geld auch ein wenig das Glück auf seiner Seite.

Egal, wie man zu den Vereinen steht – hier wie da wurde gesungen, gejubelt, gestöhnt, gefiebert, gehadert, der Unmut rausgepfiffen, die Fahne geschwenkt, der blinde Schiedsrichter verflucht … und das besondere Flair eines Livespiels ganz tief eingeatmet. Aber ja, während der Chemiker die Liebe zu seinem Club mit der Muttermilch (wobei: wohl eher mit Vaters und Großvaters Schweiß) aufgesogen hat, werden die Besucher der Red Bull Arena zumeist dem Partyvolk ohne Seele zugeordnet. Doch beide Vereine haben ihre Anhänger gefunden, wie die bis auf den letzten Platz gefüllten Stadien zeigten.

Als ich laut Fitnesstracker bei 14 Kilometern bin, packt mich der Ehrgeiz. So ein kleiner Halbmarathon zwischendurch? Warum eigentlich nicht! Da ich die Reststreckenlänge weiß, kann ich alles genau planen. Dabei kommt mir mein Zähl-Lauf-Rhythmus zugute. Beim Joggen zähle ich ständig meine Schritte. Mein Trick: Vier Schritte sind eine Zahl. Zwei Schritte dienen zum Ein-, zwei Schritte zum Ausatmen. Ist eine Zahl abgeschlossen, kommt die nächste. Beispielsweise NEUN UND – einatmen – NEUN ZIG – ausatmen. HUN DERT – einatmen – mit Dopplung HUN DERT – ausatmen. Und wieder von vorne. Bei einstelligen Zahlen wird diese vervierfacht, also EINS EINS fürs Einatmen und EINS EINS fürs Ausatmen. Selbst wenn ich mal abgelenkt sein sollte, zählt mein Unterbewusstsein weiter.
Da ich das bei jedem meiner Waldläufe mache, weiß ich, dass je nach Lauftempo 230 bis 245 solcher Viererschritte genau einem Kilometer entsprechen. Zudem habe ich auf diese Weise mehrmals sämtliche Teilstrecken vermessen. Klingerweg – Elsterflutbett – Bruckner-Allee sind 290 bis 300 Viererschritte. Vom Straßenschild am Klingerweg an den Fußballplätzen des SV Schleußig vorbei durch den Wald zum Elsterflutbett sind es 310 bis 320 Viererschritte. Wie zu erwarten, funktioniert der Plan: Nach exakt 21,25 Kilometern bin ich mit dem Lauf durch – die Zeit beträgt 1:53:35 Stunden. Ein tolles Gefühl, auch wenn ich pumpe wie ein Fisch auf dem Trockenen.

Auf unserem Hof habe ich nur einen kurzen Blick für die immer noch blühende Königskerze – der Durst beherrscht mein Denken. Also rein in die Küche, wo ich einen Liter stark verdünnten Saft trinke. Erst danach habe ich die Muße, mich zu dehnen. Anschließend dusche ich lange. Von mir aus kann der Regen nun kommen.
