Helko Reschitzki, Moabit

Die Luft seit Sonnabend irritierend mild, Temperaturen über 10° C. Vor der Seniorenresidenz neben dem Volkspark Wilmersdorf sind die Krokusse und Schneeglöckchen aufgegangen, Letztere auch im Park selbst. Suche nach dem Mittag in Kreuzberg die geografische Mitte Berlins. Die entsprechende Granitplatte muss man erst einmal finden im Hochhäusernirwana um die Alexandrinenstraße, zwischen Flächenentsiegelungsbaustelle, Sportanlage und Schule. Eigentlich liegt der Punkt 200 Meter weiter nordöstlich auf dem Gelände des BFC Südring, da man dort aber nicht so leicht raufkommt, wurde er einfach verlegt. So fängt das an – und am Ende schreibst du die Historie und Karten ganzer Länder um. (Immer alles nachmessen!)

Danach sehe ich mir im kleinen, netten Kinoraum der Berlinischen Galerie eine usbekische Variation der Aschenputtel-Geschichte an: „Bibi Seshanbe Ona“ von Saodat Ismailova, einer 1981 in Taschkent geborenen Künstlerin. Obwohl ihr Spielfilm nur 52 Minuten lang ist, bin ich der einzige der ca. 15 Zuschauer, der bis zum Ende dableibt. Vielleicht ist er den anderen „zu langsam“ oder „zu experimentell“ – keine Ahnung. (Bei den 24/7-Smartphonenutzern in meinem Umfeld beobachte ich, dass deren Aufmerksamkeitsspannen Jahr um Jahr kürzer werden und die Erschöpfung groß ist, wenn sie sich mal mit Ungewohntem = „Anstrengendem“ auseinandersetzen müssen.)

Bibi Seshanbe Ona ist ein altes zentralasiatisches Segensritual, das im kleinen Kreis von Frauen durchgeführt wird und sich dabei einiger Elemente des Animalismus und Zoroastrismus bedient. Es werden spezielle traditionelle Speisen zubereitet und Kerzen angezündet, eine der Anwesenden liest aus Mehl die Zukunft. Im Film wird diese Zeremonie mit einer modernen Variante des Aschenputtelstoffes verknüpft. Das Ganze ist herausragend ( = sehr natürlich) gespielt, Ausstattung und Kostüme sind toll. Und genau in den Momenten, in denen man es sich mit einem wohligen Seufzer behaglich machen könnte („Ach, da ist die Welt noch in Ordnung, leben Mensch und Tier harmonisch als Teil der Natur – ist das nicht alles zauberhaft!“), gibt es einen kurzen Ortswechsel in ein (reelles) Gebäude, in dem Frauen ärztlich untersucht und behandelt werden – das „Zentrum für verstoßene Frauen“. Dessen Gründerin Bibisora Aripova ist in dem Film als sie selbst zu sehen – im Märchen wäre sie Die gute Fee. Realität und Fantasie verschmelzen hierbei auf sehr poetische und horizonterweiternde Weise – eine lohnende knappe Stunde. Der Blick nach Osten schärft den Blick auf die eigene Welt.
