Frank Schott, Leipzig
Morgens ist es kalt, aber dafür kommt die Sonne heraus. Die Blätter verfärben sich immer schneller. Ich kämpfe noch ein wenig mit den Nachwehen des Halbmarathons: Muskelkater in den Oberschenkeln, die Knie schmerzen etwas, am Rücken zwickt es – aber, hey, das ist spätestens Ende der Woche vorbei.
Ich freue mich auf meinen nächsten Lauf und muss mir zugleich eine neue Herausforderung suchen. Denn die Frage, ob ich 10 Kilometer in weniger als 50 Minuten laufen kann, ist beantwortet – 47:22 min benötigte ich beim Marathon für die ersten 10 Kilometer, für die zweiten sogar 4 Sekunden weniger.

Heute früh steht als erstes der Termin beim Zahnarzt an – eine Füllung muss erneuert werden. An meinem Zahnarzt gefällt mir, dass er in seiner Praxis kein Radio laufen lässt. Meist hört man Klassik im Hintergrund, gelegentlich Jazz oder das Best of eines bekannten Musikers. Heute begrüßt mich Joe Cocker. Während ich auf meinen Einsatz warte, lese ich weiter in Richard David Prechts „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“ Derzeit bin ich im Abschnitt, in dem es um Schwangerschaftsabbruch und die utilitaristische Sichtweise darauf geht, also um die ethische und moralische Haltung zu einer solchen Entscheidung. Prechts Einschätzung ist, dass wir intuitiv das Leben schützen wollen, wenn wir es im Bauch spüren – eine Bestätigung der aktuellen Dreimonatsregelung in Deutschland.
Während ich auf dem Behandlungsstuhl liege, läuft Cockers Version von „I’m just a soul whose intentions are good. Oh Lord, please don’t let me be misunderstood.“ Manchmal spielt das Leben einfach den perfekten Song zur eigenen Gedankenwelt. Während sich der Zahnarzt in meinen Mund abarbeitet, schimpft er erneut über das Verbot von Amalgam als Zahnfüllung. „Eine der unsinnigsten Entscheidungen der EU. Amalgam ist bewährt und haltbar.“ Die neuen Zementmischungen taugen für ihn nichts, weshalb er – sicher nicht ganz altruistisch – die zuzahlungspflichtigen Füllungen aus Keramik, Gold oder Komposit empfiehlt. Ich hatte bislang, wo immer es geht, auf Amalgam gesetzt – er versuchte nie, mich von etwas anderem zu überzeugen. Also vertraue ich ihm. Dann erzählt er mir, dass er zum Jahresende in Rente gehen und die Praxis an einen Nachfolger übergeben wird. Beides freut mich, das eine für ihn, das andere für mich. Denn einen neuen Arzt zu finden, wird auch in Leipzig immer schwieriger. In meiner mecklenburger Heimatstadt, wo meine Eltern weiterhin leben, gehen ebenfalls immer mehr Ärzte in den Ruhestand, und meine Eltern finden keinen neuen Facharzt mehr. Alle sind am Anschlag, was ihr Patientenlimit betrifft.
Nun, so ein Zahnarzt muss in seinem Leben viel Elend gesehen haben, geht mir durch den Kopf. Wird er, wenn sein Berufsleben beendet ist, wie Napoleon auf seinem Stuhl zusammensacken und ins Leere starren? Ich war vergangene Woche in unserem Museum der bildenden Künste. Paul Delaroches „Napoleon I. in Fontainebleau am 31. März 1814 nach Einzug der Verbündeten in Paris“ ist für eines der Portraits, die ich mir immer wieder gerne ansehe. Was mag dem besiegten Kaiser durch den Kopf gegangen sein: Merde. Wie konnte das passieren? Was soll ich jetzt mit meiner Freizeit machen?

Unsere Katzen hatten es in den vergangenen Tagen auch nicht leicht. Durch den vielen Regen war im Garten alles so nass, dass sie bereits nach wenigen Minuten wieder rein ins Warme und Trockene wollten. Wenn er draußen ist, lässt sich der Getigerte inzwischen von nichts mehr aufhalten. Als erstes springt er auf den mit Blech abgedeckten Teil der Mauer und inspiziert die Nachbargärten. Sein schwarz-weißer Bruder hat es nicht so mit Bewegung. Ja, er könnte springen, wenn er müsste, aber er muss ja nicht. Stattdessen versucht er lieber mit der Ruhe des erfahrenen Jägers nach unserem Essen zu schnappen.

Ich hatte nie Haustiere und hätte auch jetzt darauf verzichten können. Ich kann jedoch nicht abstreiten, dass die Katzen mich mit ihren Jagdinstinkten und körperlichen Fähigkeiten faszinieren. Wenn sie schreiten oder gar pirschen, wirkt die gesamte Bewegung raubtierhaft gefährlich. Entsprechend selbstbewusst ist ihr Auftreten uns Menschen gegenüber. Wer Katzen besitzt oder kennt, dem erzähle ich nichts Neues. Aber was mich wirklich umhaut, ist ihr Blick – vor allem, wenn es dunkel ist und die Pupillen keine schlangenhaften Schlitze, sondern dicke schwarze Knöpfe sind. Ja, Kater, Du hast gewonnen. Ich spiele noch eine Runde mit Dir.

