Seit Montag meldet sich die Verletzung an der Wirbelsäule wieder, die ich mir vor knapp drei Jahren bei einem Fahrradunfall zugezogen habe. Der Körper reagiert nach Vorschrift: die Rückenmuskukatur versteift sich, wird fest, verstärkt den Schmerz. Auf Medikamente verzichte ich, weil ich das Warnsignal bei einer falschen Bewegung nicht überhören möchte.
Auslöser waren Erschütterungen bei einem kleinen Aufwärmlauf mit den Jungs beim Training. Also jetzt erstmal keine Läufe. Stattdessen Spaziergänge. Für Erledigungen oder einfach fürs Wohlbefinden.
Ein Gang führt mich zum Weihnachtsmarkt, wo große Betonquader die Zufahrt blockieren. Weihnachtslego taufe ich die Szenerie für mich. Wegen der Schmerzen habe ich keine Lust auf Herzhaftes, Gebäck oder Glühwein. Im Leipziger Glühweinkampf werden keine Gefangenen gemacht: Die Händler auf dem Markt fordern 4,50 bis 5 Euro für die Tasse. Die Läden der Innenstadt kontern mit 2,50 Euro, teilweise gibt es dafür dann sogar einen Schuss. Für das adventliche Sonderangebot wurden Aushilfskräfte angeheuert – die sich am improvisierten Ausschank mit Leibesübungen warm halten.
Anderer Spaziergang: Herbstlicht auf letzten Herbstblättern. Warum verlieren manche Bäume ihr Laub so viel später als andere? Vielleicht lässt die Natur (wer will, mag sie Gott nennen) das Laub an den Bäumen, weil der Anblick das Gemüt erhellt? Muss alles einen Sinn haben, einem Zweck folgen? Survival of the fittest, struggle for life bis aufs Blut? Nein. Vermutlich gibt es einen wissenschaftlichen Grund – aber ich will ihn nicht wissen.
Da das mit dem Fahrrad seinerzeit ein Wegeunfall war, sitze ich wieder beim D-Arzt der Berufsgenossenschaft in der Uniklinik. Es ist nicht viel los, dennoch dauert es mehrere Viertelstunden, bis meine Nummer aufgerufen wird. Neben mir telefoniert eine Frau mit Gips am rechten Fuß lauthals mit einer Kollegin. Ihre beiden Krücken hat sie an die Wand gelehnt. Es geht um Schwangerschaft, Krankheiten, die Arbeit und die Übergabe von Aufgaben. Es nervt so stark, dass ich die Wartezimmerseite wechsle.
Die ausliegende Lokalzeitung, bei der Bericht und Kommentierung längst nicht mehr zu trennen sind, hat ihren Markenkern, das Lokale, konsequent heruntergefahren. Die Probleme der Straßenbahn, etwas Crime, der neue Investor mit seinen Plänen für den Freizeitpark, ein bisschen regionaler Sport. In fünzehn Minuten bin ich damit durch. Ich widme mich wieder dem Alten Testament, das ich auf dem e-Book dabeihabe. Gott instruiert wieder einmal Moses. Armer Mann -sein Kopf muss übervoll mit Geboten und Verboten gewesen sein.
Interessant, dass Gott auch auf die Klimadeuter, Zukunftsforscher und Modellierer Bezug nimmt: „Ihr sollt euch nicht wenden zu den Wahrsagern, und forscht nicht von den Zeichendeutern, daß ihr nicht an ihnen verunreinigt werdet; denn ich bin der Herr, euer Gott.“ Und weiter: „Wenn eine Seele sich zu den Wahrsagern und Zeichendeutern wenden wird, daß sie ihnen nachfolgt, so will ich mein Antlitz wider dieselbe Seele setzen und will sie aus ihrem Volk ausrotten.“ Das wäre mal ein spannender Ansatz für eine Diskussion mit Kirchenvertretern.
Nach der Röntgenuntersuchung bin ich so schlau wie zuvor. Der Schaden an der Wirbelsäule hat sich nicht vergrößert, Wärme und Physiotherapie sollen es richten. In zwei Wochen soll ich mich noch einmal vorstellen. Wenn es bis dahin nicht besser wurde, dann … Darüber reden wir in zwei Wochen.
Am Dienstagmorgen Kaltregen bei zwei Grad – der Tiefausläufer hat gewonnen. Maximal unangenehmes Wetter um aufs Rad zu steigen – von mir heute nur die nötigste Bewegung. Ich bekomme die Anfrage, bei einem Zeitzeugengespräch für einen erkrankten Dolmetscher einzuspringen. Eine Veranstaltungsreihe des Bistums, von der ich noch nie gehört habe. Es gibt keinerlei Honorar. Man will da also kostenlos eine Dienstleistung abgreifen. Ich lehne dankend ab.
Einkaufsfahrt nach Westerburg. 90 Prozent des in den Supermärkten angebotenen Fleischs stammt aus der Haltungsform 1, maximal 2. Wäre den Konsumenten wirklich bewusst, was da für Müll in ihre Gedärme wandert, wäre viel gewonnen. Ein Thema, das nur wenige interessiert, im besten Fall sieht man Essen noch als sozialen Akt. Aber selbst das wird in unserer Gesellschaft langsam zur Ausnahme; fürs gemeinsames Mahl sei „keine Zeit“ – so hör ichs von meiner Frau, vom Finanzarbeitersohn und von unserem Jüngsten, der länger mit seiner Frisur zu tun hat, als er fürs Frühstück braucht. Immerhin ißt er noch schnell etwas. Passend dazu sah ich am Samstag im Frankfurter Bahnhof ein Mädchen, das eine Kamera vor sich hertrug, in die sie im Gehen hineinsprach. Wann begann das eigentlich? Für mich markierten damals die Freisprechanlagen den Wendepunkt – bis dahin galten Menschen, die in der Öffentlichkeit laut vor sich her sprachen, als psychisch auffällig. Nun brabbeln sie alle – wenn sie nicht gerade schweigend auf ihre kleinen Displays starren. Selbst die „Freunde“ in Cafés, die zwar beieinander sitzen, sich aber nichts zu sagen haben. Sie haben nichts mehr zu sagen.
In „Sternstunde Philosophie“ im SRF sind die Philosophin Anne-Sophie Moreau sowie die Ärztin Giulia Enders zu Gast (deren „Darm mit Charme“ inzwischen 8 Millionen mal verkauft wurde). Sehr gut, wie Enders die Evolution als einen fortlaufenden Prozess erklärt, als ein lebenslanges Angebot an die DNA-Bausteine, im Organismus ständig neue Lösungenzu entwickeln. Die bisherige Sichtweise nahm ja an, dass evolutionäre Veränderungen über lange Zeiträume und Generationen hinweg stattfinden, sich unter Selektionsdruck die überlebensfähigste Variante durchsetzt („Survival of the fittest.“) (Möglichwerweise finden deshalb die Mimikryentwicklungen bei Schmetterlinge innnerhalb derselben Generation statt?) Und allein, was im Mikrobiom des Menschen passiert! Wie individuell die permanente Interaktion mit dem Wirt (uns!) ist. Da diese Prozesse „unsichtbar“ ablaufen, ist deren Wert für die meisten nebensächlich – wir sind eine Spezies der Oberflächenwahrnehmung. All diese in jüngster Zeit gewonnenen biologischen Erkenntnise sind enorm – aber wehe, Du erklärst das Laub im Vorgarten zur willkommenen Biomasse und mähst plötzlich Deinen Rasen nicht mehr!!! Die Philosophin mit Ausführungen zur Fermentierung – ich glaube, bei uns steht noch ein halbes Dutzend Schraubdeckelgläser herum …
Am Mittwochmorgen zarteste Himmelsfarben – das kalte Hoch hat sich wieder durchgesetzt. Unsere Girls haben ihre Outfits rechtzeitig hinbekommen; der Sohn schläft so lange, dass ich ihn aufrütteln muss. Für 13 Uhr ist eine Schulfreundin der Mädchen angekündigt, da werde ich mir besonders Mühe geben (müssen). Im Radio die Zahl des Tages: Vierzig Prozent der europäischen Handelswaren gelangen über den Suezkanal zu uns. Wie der Historiker Todd sagt: Die verarmende kontinentale Arbeiterklasse kauft die preiswerten Güter, die durch die Verlagerung ihrer eigenen Arbeitsplätze nunmehr billig produziert werden können. Man hält den Plebs bei Laune, indem man ihm die Möhren der Pauschalurlaube, Billigflüge und Schnäppchen (oder der Weihnachtsmärkte) vor die Nase hält. Besorgungen, Hausputz, Rachmaninovs erste sinfonische Dichtung.
Auffällig viel Verkehr auf den Straßen, ich dachte, die „Blackweek“ wäre vorüber (?!) Ich leiste mir beim Trödler die längst nicht mehr hergestellte Rennpumpe SKS Alustar, deren Machart ich bevorzuge. Inzwischen werden ja winzige Akkuluftpumpen verkauft – so eine Art Taschenkompressor. Der Frühabend im eigentümlich grau-blauen Licht, von weit her meine ich rosige Streifen zu erkennen (oder ists etwa ein zart angehauchtes Wölkchen?) Da ein riesiger Christstern den Großteil unserer Aussicht versperrt, bin ich froh, überhaupt etwas sehen zu können. Auch bei den Nachbarn wird sich nun aufs Fest eingestimmt – wie jedes Jahr steht bei ihnen ein überhaushoher illuminierter Weihnachtsmann im Vorgarten. Grundvernünftige Leute übrigens – neben ihrem Dackel ist die Deko das Auffäligste an ihnen. In den Nachrichten die Meldung, dass der Warzenbeißer „Insekt des Jahres 2026“ ist. Der Volksglaube schreibt ihm eine Wirkung gegen Warzen zu – er wurde aber aus einem anderen Grund auserkoren.
Völlig vernebelter Freitagmorgen – über zweihundert Meter Höhe sieht man nichts mehr. Haydns “Londoner Trios” erfüllen den Raum. Geschrieben 130 Jahre nach der Großen Pest von London, über die ich gestern in Samuel Pepys‘ Tagebucheintrag vom 4.9. 1665 las: „Es beunruhigte mich, an der Farm der Coomes vorbeizukommen, wo etwa einundzwanzig Menschen an der Plage gestorben sind, und wo ich erst vor drei oder vier Tagen im Hof eine noch unbestattete Leiche in einem Sarg liegen sah. Tag und Nacht steht dort jemand Wache, um die Menschen in den Häusern zu halten, da uns die Pest so grausam macht wie Hunde zueinander.“ „The Diary of Samuel Pepys“ gehörte zur Lieblingslektüre von Kanzler Helmut Schmidt. Als Wachhund der guten Erstversorgung richte ich für die Kinderschar das Frühstück. Meine Gattin nimmt neben Tee allenfalls im Internet georderte Apfelmarkfasern zu sich. Dabei ist unser Garten voller Pektine – man muss sich nur ein wenig an den Bäumen strecken. Die Kinder im Schulbasareinsatz: Selbstgebackenes wird feilgeboten; die dafür eingenommenen Spenden gehen an Projekte in Afrika.
Nach dem Sencha trinke ich Bohnenkaffee – für den es nun auch ein neues Narrativ gibt: Hohe Preise schützen vor Kinderarbeit. Im Radio wie immer zur Weihnachtszeit die Predigten zu den Sünden Völlerei und Süßwarenüberkonsum (gefährdet die Gesundheit) sowie Online-Retouren und sinnlose Käufe (gar nicht gut für Klima und Umwelt). Nochmal an der Beigbeder-Einleitung gefeilt. Jetzt gehts hoffentlich. Auch den Winterberg/Schmallenberg-Text überholt – immer wieder Worte tauschen, an der Satzstellung arbeiten usw. MIR ist so etwas nicht egal. Flaubert? Schrieb siebzig Seiten im Jahr – this is my man!
Nieselig – eine Wolkenmasse die ausgewrungen wird. Trotzdem mit dem Rad auf die Höhe. Dort Lachs mit Sellerie, Wildreis und Curry genossen. Die Glasfasertruppe auch bei drei Grad gewohnt fleißig. Sie werden arbeiten, bis sie 67 Jahre alt sind, das steht fest. Das nächste Rad für meine Jüngste steht im Sozialkaufhaus bereit. Ihr Geschenk vom Vorjahr, ein 1998er Mountainbike, ist längst zu klein. Händler Hassan konnte selbst in der Universitätsstadt Gießen ihr toperhaltenes Grundschul-MTB nicht verkaufen, nicht einmal für 20 Euro, nicht einmal an Flüchtlinge. Ihr allererstes Rad mit Schaltung zog ich 2019 aus dem Sperrmüll – es war nur ein Reifen platt … Im aktuellen Randonneur-Newsletter las ich, dass in den USA gerade der Markt für Kinderräder auseinanderdriftet: Wohlhabende kaufen ihren Kids nichts unter 1000 Dollar und würden nie auf die Idee kommen, ein altes Bike für 200 zu erwerben, weshalb solche Räder dann vom Markt verschwinden. Die Armen wiederum haben nicht einmal Werkzeig im Haus oder die 25 Dollar für einen neuen Mantel.
Samstagmittag nach Frühstück, Hausputz und Wäschemachen Fahrt ins Lufthansa-Drehkreuz und pulsierende Herz des Konsumismus Frankfurt/Main – der Teenie kehrt nach drei Monaten Le Mans heim sowie Ausstattung unserer jungen Ballerina. Mit dem Ballettladen endecke ich eine weitere Parallelwelt: Produkte, die nirgends sonst angeboten werden, für die es nicht einmal Werbung gibt. Mit Filz bezogene Schuhe, mit denen man beim Walzer endlos pirouettieren kann … Unser Teenie brachte mir einen Band des Objektpoeten Francis Ponge mit, den sie in ihrer Gastschule durchnahmen. Die dortige fast kasernenartige Strenge bei gleichzeitig freier Form hat ihr besser gefallen als das anpasserisch verlogene Strebervölkchen, das sie nun wieder hier erwartet … Auf der Autobahn business as usual – ich konnte nicht die Spur einer maroden, zerfallenden oder verzweifelten Gesellschaft entdecken. Es wird wohl doch noch ein wenig dauern, bis die gute alte Bundesrepublik verschwunden ist.
Ein grauer erster Advent bricht an. Die Kerze leuchtet. Während die anderen noch schlafen, sortiere ich Bücher und Platten – und bin nach wie vor auf der Suche nach der Zauberformel, mit der sich das Notwendige vom Überflüssigen trennen lässt. In der Berliner Zeitung die Meldung, dass die afrikanische Standard Bank das chinesische Cips-System einführen wird, so dass Zahlungen nicht mehr in Dollar abgewickelt werden müssen. Die Chinesen sind gerade dabei, ihre elektronische Alternativen und Kreditsysteme global zu etablieren, ohne die eigenen Kapitalmärkte richtig zu öffnen. Es geht darum, Abhängigkeiten zu schaffen. Das wird ein interessanter hybrider Krieg, der da mit den Weltzahlungssystemen entbrennt. Wie es der Historiker Todd sagte: „Das erfolgreichste US-Produkt ist der Dollar.“
Später auf die graufeuchte Bahntrasse. Die Sonnenkollektoren auf den Hochflächen sehen aus wie die Schuppen von riesigen Echsen; darüber Ventilatoren. Dorndorf II verliert verdient mit 0:2 – kein Spielaufbau, ein Eigentor. Das Benediktiner Weizen enttäuscht hingegen nicht. Es dunkelt rasch – wir werfen die Bäckerei an. Die Girls machen den Teig für ihre Sandkekse – eine schwere Geburt. Die schematischen Backbücher verraten einem ja auch keine Kniffe – „Zutaten verrühren“ das ist ungefähr so wie „Motor ausbauen“ in einem Werkstattbuch. Wir alle sind über die Vervollständigung der Familie froh – sehr froh! Das Salz in unserer Suppe ist wieder da.
Der Sonntag endet mit Francaix‘ „L’Horloge des Fleurs“ vom London Symphony Orchestra unter André Previn. Die Blumenuhr wurde frisch aufgezogen und wunderbar aufgenommen: Mein Zimmer wird zum Saal – diese Illusionsmaschine erstaunt mich immer wieder. An einem blaukühlen Montagmorgen an der Frostgrenze setzt dann das Smetana Quartet den ersten Akkord: Janáčeks Streichquartette. Sanftes Sonnenlicht. Bin ausgeschlafen für lokale Updates: Da der Musiklehrer hingeschmissen hat, wird unser Weihnachtskonzert ausfallen. Wenn sich niemand zur Nachfolge berufen fühlt, wäre diese Tradition damit beendet. In der Gießener Innenstadt soll es am Samstag mehr gekracht haben, als in den Medien mitgeteilt wurde.
Frische Luft, trocken und Südwestwind – eine angenehme Radrunde. Danach für ein weiteres Modell Innenlager und Kurbel vermählt. Sie soll so eng wie möglich laufen – was perfekt funktioniert hat. Das macht mich froh. Zum Tagesausklang Rudolf Serkin mit Schuberts Klaviersonate Nr. 20. Doll! Trockenes Klavier, dennoch nicht kalt und hart. Zwischen lyrischem Traum und Schrei. Ich besitze Schätze!
„The Diary of Samuel Pepys“ – Nachdruck von G. Bell and Sons, Ltd. London, 1920
Wie der Blickwinkel täuschen kann: Gott und die Kirche sind nicht „IM ANGEBOT“ – auch wenn aktuell viele kirchliche Organisationen und Würdenträger ihre christlichen Fundamente für kurze Momente zeitgeistlicher Aufmerksamkeit zu verramschen scheinen.
Seit ich Rushdis „Satanische Verse“ lese, denke ich immer wieder über Gott und den Glauben nach. Gibt es ein höheres Gut als die irdische Befriedigung? Lohnt es sich, danach zu streben? Und was ist, wenn man fragt und niemand antwortet? Der Einbandtext des Buches spricht von „Glaubensverlust“ und einer „entgöttlichten Welt“. Ich bin mir da nicht so sicher – auf mich wirkt dieser Roman eher wie ein verzweifeltes Hoffen auf, ein künstlerisches Ringen um eine Kraft jenseits der stofflichen Dinge.
Gerade im Advent wird das Göttliche profan. Das Licht im Dunkeln verspricht keinen Halt und keine Wiedergeburt, sondern leitet nur zum nächsten Verkaufsstand für Nadelbäume. Trotzdem entfaltet der Lichterbaum bei mir eine Wirkung – möglicherweise aufgrund von Kindheitserinnerungen, durch meine Sozialisation?
Im Dunkeln torkelt mir ein betrunkenes Paar entgegen, beide mit einer Bierflasche in der Hand. Er klagt ihr lallend sein Leid: „Alle spucken auf mich runter.“ Sie, mit etwas gefestigterer Stimme: „Nein, Schatz, niemand spuckt auf dich!“ – Er, weinerlich: „Doch, alle spucken auf mich!“ – Sie, rationaler: „Wenn sie auf dich spucken, dann spucken sie auch auf mich …“ Für einen Sekundenbruchteil überlege ich, den Mann kurz in die Arme zu schließen und zu trösten. Dann sind sie an mir vorbei – und vorbei ist auch der kurze, etwas selbstmörderische Impuls einen fremden Betrunkenen zu drücken, der gerade mit seiner Angebeteten streitet. Ist das dieses komische Weihnachtsgefühl der Nächstenliebe, von dem alle reden?
Trostlos ist auch der offizielle Weihnachtsbaum in der thüringischen Kleinstadt meiner Schwiegereltern. Nackt und bar jeden Schmucks erscheint er mir als Sinnbild für Menschenherzen. Unter dem Baum stehen Figuren aus dem Märchenwald. Und ein Weihnachtsmann – was es nicht besser macht.
Wir sind in die Kleinstadt gefahren, um die Uroma zu besuchen. Mit 97 Jahren war sie so gebrechlich geworden, dass sie in ihrer eigenen Wohnung immer öfter stürzte. Den Großeltern, die selbst schon auf die 80 zugehen und sich ihrer körperlichen Schwächen jeden Tag bewusster werden, fiel es zunehmend schwerer, auch noch die Urgroßmutter zu versorgen.
Ich bin das erste Mal in einem Pflegeheim. Ich wusste nicht, was mich erwartet. Natürlich weiß ich um aufopferungsvolle Pfleger, um Aktivitäten in der Gruppe, um Geselligkeit mit anderen Menschen, aber diese Mischung aus Klinik und Kindergarten deprimiert mich. Die Zimmer mit ihren Betten auf Rädern, den wenigen privaten Gegenständen und rutschfesten Fußböden erinnern stark an ein Krankenhaus. Die Alten, die in Rollstühlen zu den gemeinsamen Mahlzeiten an die Tische geschoben werden und dort, umgeben von Pflegern, sitzen, erinnern mich an meine Kindergartenzeit – alle sind brav, alle schlürfen vernehmlich, alle essen weisungsgemäß auf. Kommt es nur mir so vor oder sehe ich Unglück in den Augen der Uroma? Aber wie ließe sich ihr Leben anders organisieren?
Etwas Trost spendet der Teich mit seiner Einfamilienhaussiedlung für Enten. Trotz Vogelgrippe sitzen die Weiblein und Erpel im Wasser, schnattern, gründeln oder lassen die Beine baumeln. Ich habe den Eindruck, als wäre ihre Zahl geringer als beim letzten Mal als ich hier war. Aber vielleicht hocken die anderen auch nur bei Kerze und Gebäck in ihren Hütten und stimmen sich auf den Advent ein? Eine schöne Vorstellung.
Zurück in Leipzig laufe ich wieder. Die Spannkraft aus der lichten Jahreszeit fehlt noch immer, aber ich spule mein Programm ab. Aus den 8,5 Kilometern sind jetzt schlammbedingte 9 geworden. Wenn meine üblichen Waldwege gefroren sind, ist der Untergrund nur wenig elastischer als ein Bürgersteig. Ich jogge nicht gerne auf befestigten Wegen wie Asphalt oder Stein. Aber was muss, das muss. Es wird Zeit, dass Frühling wird.
Das sagt sich auch der Schwarze Nachtschatten. Vor knapp zwei Wochen noch in spätherbstlicher Blüte stehend, hat ihm der Frost ein jähes Ende bereitet. Kraftlos hängen die Blätter, verschwunden sind die weißen, sternförmigen Blüten.
Stattdessen recken sich im zivilisierten Teil des Parks Hügelgräber aus Laub in die Höhe. Die ganze Woche über wird den Blättern der Marsch geblasen. Kolonnen von Stadtbediensteten im leuchtenden Orange pusten wie im Wettkampf über die Wiesen und Wege. Die Verlierer der internen Laubbläsermeisterschaft müssen dann alles zu Haufen zusammenrechen. Kleine Pritschenwagen kurven herum, reißen die gerade erst befestigten, doch jetzt feuchtrutschigen Wege auf und hinterlassen tiefe Spurrinnen. Nur am Sonntag ist Ruh. Der Vormittag gehört den Kirchenglocken.
Wenn du am 14. Oktober 1944 in Köln geboren wirst, während 4.000 Tonnen Bomben auf die Stadt niedergehen, du dabei mitsamt deiner Mutter in der Klinik verschüttet wirst, alle Säuglinge sterben, nur du nicht, hatte das Schicksal noch etwas mit dir vor. Du wächst auf in der Nachkriegszeit, gehst zur Schule, machst eine Kaufmannslehre, stehst am Fließband, kellnerst, wirst Model und fürs Kino entdeckt, drehst Filme mit Fassbinder, Warhol, Gus Van Sant, Werner Herzog, Dario Agento oder Fatih Akin, spielst in Hollywood-Blockbustern, Arthausfilmen, absolutem Trash mit. Bist Kunstsammler und Gärtner, hast bei alledem nie vergessen, wo du herkommst, wo man dich aus den Trümmern gebuddelt hat. Am Montag melden die Agenturen, dass am Tag zuvor, dem Totensonntag, Udo Kier gestorben ist. Ich habe bestimmt dreißig Filme mit ihm gesehen, der letzte dürfte das Finale von Lars von Triers „Geister“ gewesen sein. (Der Moment, in dem er in der 1. Staffel erstmals als riesiges Baby auftaucht, ist nicht nur mir unvergessen – man wusste nicht, ob man gerade halluziniert, lachen oder schreien soll.) Ich sah ihn als Hitler in Schlingensiefs „Die letzten Tage im Führerbunker“ und als Führer Kortzfleisch in „Iron sky“, zeigte in meiner Heimatstadt Parchim unter anderem „Lola“, „Lili Marleen“ und „Narziss und Psyche“ mit ihm. Mach et jot!
Ebenso am Montag der erste Schnee des Winters. Beim Baden gehe ich von der dichten, noch unberührten Uferdecke in das Wasser – es steht sich barfuß darauf viel angenehmer als auf der kalten Erde, auf Blättern oder auf Gräsern. Der Schnee taut innerhalb zweier Tage.
Am Dienstag fällt erstmalig seit Monaten das Schwimmen aus – ich muss mir erst einmal Neoprenhandschuhe besorgen. Dafür fahre ich in ein Taucher-Spezialgeschäft nach Steglitz, wo ich ein sehr gutes Gespräch mit dem jungen Verkäufer habe – am Ende wandert ein 5 Milimeter dickes Paar aus Chloropren-Kautschuk in den Rucksack.
Die nette Tischtennisdame, mit der ich neuerdings öfter mal etwas länger klöne, schreibt, dass sie heute nicht zum Spielen kommen könne, da sie erkältet daniederliege. Ich setze für sie umgehend eine Kraftsuppe der Traditionellen Chinesischen Medizin auf, bei der über Stunden Gemüse, Kräuter und Gewürze vor sich hin köcheln und anschließend durch ein feines Sieb gegossen werden. Trotz der langen Kochzeit bleibt die heilende Wirkung der Zutaten erhalten, da man mit dieser Prozedur die energetischen Kräfte (das Qi) extrahiert. Eine seit gut zweitausend Jahren bewährte Methode. Über meinen Besuch nebst Brühe freut sich die Schniefhüstelnde sehr und trinkt sogleich ein heißes Tässchen. Wie gewohnt quasseln wir uns fest.
Am Donnerstag laufe ich am Schlachtensee nach langer Zeit dem fast neunzigjährigen Naturschützerpärchen über den Weg – ein freudiges Wiedersehen! Wir sind sofort mittendrin im Vogelreport. Sie berichten von der alljährlichen Landung der Spießenten, die hier nun den Winter verbringen, und der Sichtung von gleich zwanzig Schwänen auf dem Wasser – sonst sieht man vier, fünf. (Die Zahl wird zwei Tage später von den beiden Sachsen bestätigt, die zudem wissen, dass die Vögel vom Nikolassee herübergeflogen sind, da dieser zugefroren ist.) Nebenbei beobachten wir ein Rotkehlchen und ein Eichhörnchen und gehen dann gemeinsam zur Bucht, wo ich vom Wasser aus (mit warmen Händen!) ebenjene Spießenten sehe.
Die Wassertemperatur lag zuletzt trotz des Schnees stabil bei fünf Grad. Nun ist das passiert, was mehrere Winterbader prophezeiten: „Irgendwann pegelt sich das ein und wird nicht mehr kälter – außer es friert, was selten mal vorkommt.“ (Oder wie es der Sachse in seiner unnachahmlichen Art ausdrückte: „Nooch vier gömmt Eis.“)
Am Freitag erreicht mich die Nachricht, dass ein Autorenkollege an Krebs erkrankt ist und gerade eine Chemotherapie macht. Da kaum ein Schreiber von den Texten leben kann, arbeitet er normalerweise als Fahrradkurier. Damit musste er nun notgedrungen aufhören und sich arbeitslos melden. Das Amt verschleppt den Vorgang, so dass er momentan vollkommen ohne Geld dasitzt und die Dezembermiete nicht zahlen kann. Ein gemeinsamer Bekannter bekam das zufällig mit – nun legen viele Kollegen und Freunde zusammen und werfen ihm das in nem Umschlag in den Briefschlitz. Aufs Konto dürfte man ihm nichts überweisen, da selbst Kredite als „Einkunft“ verrechnet werden, was zur Folge hätte, dass er perspektivisch gar nichts oder viel weniger bekommt als ihm zusteht. Und das, obwohl er immer ins System eingezahlt hat, und während einer Chemo – zum Kotzen!!!!!!
Am Samstag Trost durch Kontemplation im Museum Europäischer Kulturen, wo ich durch Áimmuin wandele – ein Arbeitsraum, in dem regelmäßig sámische Wissenschaftler und Kunsthandwerker die Sápmi-Sammlung erforschen, restaurieren und neu orden. Ich bin allein vor Ort und fühle mich sogleich wohl. Neben vielen Objekten, Interviews und wirklich guten Erklärungen sprechen mich vor allem die Kopien der Ritzzeichnungen aus den 1920er und 1930er Jahren an. Kunst, die mit dem Alltag zu tun hat, ist immer interessant.
Am Mittwoch mit Günter Schickert durch den Sonnenaufgang. Mitten auf unserem Rasen halten die Elstern eine Art Konferenz ab. Eine fliegt davon, die anderen zerstieben in die umliegenden Bäume. Wirkt unfriedlich. Ein Tag im Auto. Man erwartet mich. Beschissen.
Der Donnerstagmorgen nicht wirklich kalt und die Sonne kommt durch – das ist schon mal gut. Mit dem Wagen Pakete verbringen, nach Sperrgut umsehen und Schallplatten abholen. LPs aus den sechzigern und siebzigern zum Preis einer Tafel Schokolade – unter anderem ein makelloser Querschnitt des jungen Paco de Lucia und grandios klingende Chopin-Aufnahmen mit Claudio Arrau auf Philips.
In der Möbelhalle der Limburger Nothilfe noch einmal den kleinen Schreibtisch für unsere Älteste begutachtet. Als ich an der Kasse für die Anzahlung meinen Namen und die Adresse angebe, meint der Verkäufer: „Sind Sie nicht der Lehrer, der kein Handy hat und überall mit dem Rad hinfährt?“ Ich antworte nur höflich, dass ich kein Lehrer sei. Den Tisch bringen wir dann Mitte Dezember nach Spandau – 1.40 Meter breit, massive Fichte, sackschwer. Die Glasfasertrupps gießen unermüdlich weitere Flicken in den kommunalen Asphalt. Ich werde den Verdacht nicht los, dass es massive Kickbacks seitens der Provider gegeben hat – wen stört da ein zerstörter Bürgersteig …
Die Jüngste noch krank, dutzendweise wandern ihre Taschentücher in den Ofen. Sie schont sich, macht ein 1000er-Puzzle, liest Judith Kerrs „Warten bis der Frieden kommt“. Ich muss an einen DLF-Bericht denken, in dem eine Palästinenserfamilie vorgestellt wurde, die es in die ägyptischen Notunterkünfte geschafft hat. Eines der Kinder ist verhungert; das andere mit Shell Shock wird wohl sein Leben lang Gespenster sehen. Wie gut wir es hier dagegen haben!
In der Küche steht eine dreißig Zentimeter hohe Kerze – das Fest der Liebe naht. Die ersten Kekse sind gelungen, weitere werden folgen. Pünktlich zur Zuckerzeit stellt die Presse fest, dass Schokolade jetzt mehr kostet und dieses nicht mit den Kakaokursen zusammenpasst. Wenn Drogen teurer werden, hat das ja auch nicht unbedingt mit den Herstellungskosten zu tun. Gute Radrunde, doch beim rappelvollen Metzger wurden meine Einkaufspläne über den Haufen geworfen. „Und ich hatte gehofft, das Geld für die Rentner sei noch nicht überwiesen!!!“, rief ich in den Laden. Das Straßenbild verstärkte den Eindruck – bereits um die Mittagszeit drängelten überall Fahrzeuge.
Mit einem Tipp aus Elfie Castys „Mit einer Prise Leidenschaft“ mein übliches Rezept für gedünstete grüne Bohnen verbessert. Es ist wichtig, immer frischen Knoblauch vorrätig zu haben, vor allem da es diesen nun günstig und in Bio-Qualität gibt. Schon eine halbe Zehe mitzudünsten, ergibt eine neue Geschmacksnote. Zum Abend Feldsalat mit FRANZÖSISCHEN Walnüssen! Meist bekommt man nur die aus Chile oder China – das sind so Dinge, die ich boykottiere.
Nabokov ist jetzt im Grand Hotel in Montreux, dem wärnsten Ort der Schweizer Riviera. Sechs internationale Zeitungen am Kiosk, auf den Bergen diese spezielle, vom Lepidopterologen bevorzugte Fauna. Weitere Schmetterlingsarten und -unterarten finden – eine schier unendliche Jagd. In Nizza, Genua und in Schiffskabinen entsteht „Pale fire“. Nabokov montiert bruchstückhaft Landschaften in die Erzählung – eine kaleidoskopische Methode, mit der er im Grunde völlig disparate Orte und Zeiten kombiniert. So wie es die Maler im 16. Jarhundert machten, die von ihren Italienreisen heimkehrten und die Landschaften des Südens in den flandrischen Schnee tauchten.
Ich muss noch mal raus, mich austoben. Ich gehe zweimal um den Innenstadt-Ring – einmal außen, einmal innen. Am Augustusplatz passiere ich den Weihnachtsmarkt, der gerade eröffnet wurde. Mir ist heute aber nicht nach Weihnachten, nicht nach Glühwein, nicht nach Süßem – ich will nur Schritte schruppen. Das ist gar nicht so einfach, weil die Barrikaden und Poller, die den Markt vor einem Terroranschlag schützen sollen, auch Teile der Fußwege belegen. An den mobilen Sperren müssen Ordner für jede ein- und ausfahrende Straßenbahn mühsam die Gitter beiseite zerren.
Autos stehen in Schlangen und nölen hupend vor sich hin. Polizisten begleiten zwei Demonstrationen für oder gegen etwas, das ich nicht erkennen kann. Derweil helfen sie verzweifelten Ortsfremden, mit ihren Fahrzeugen einen Weg durch die vielen Sperrungen zu finden.
Immerhin regnet es nicht.
Bau- statt Verkehrschaos in einem Teilabschnitt der Fichtestraße. Diese wird zur Zeit aufgerissen, um Erdwärmeleitungen unter den geschundenen Asphalt zu bringen. Die LVZ munkelt, dass einige der Nebenstraßen aufgewertet werden könnten, wenn es genügend Abnehmer für die bei den Hausbesitzern ungeliebte Fernwärme gäbe. Aufwertung heißt, dass Parkplätze verschwinden. Klingt nach einem Deal ohne Gewinner.
Ziel der Stadt ist es, bis 2038 alle Bürger mit „klimaneutraler Wärme“ zu versorgen. Die Zeitung rührt dafür kräftig die Werbetrommel und verkauft das Wahnvorhaben als Gewinn für die Zukunft. Man kommt jedoch nicht umhin, einen Sprecher der Kommune zu zitieren, der einräumt, dass Fernwärme gegenüber dem Heizen mit Gas keinen Preisvorteil brächte, klimatechnisch aber schon, wenn man die Gesamtbilanz betrachten würde. Nun, das Weltklima scheint den meisten Leipziger Hausbesitzern angesichts der Kälte und klammer Geldbeutel momentan eher weniger relevant zu sein – es gibt kaum Nachfrage. Was die LVZ natürlich positiver formuliert als ich.
Zuhause höre ich durch ein offenes Fenster drei Elstern lamentieren. Ob das an unseren Katzen liegt? Vögel reagieren im Allgemeinen ja eher stereotypisch auf Katzen, voller Vorurteile und Misstrauen. Vielleicht sind drei aber auch eine Elster zu viel und sie müssen jetzt unter sich die Nachbarschaft neu aushandeln.
Der Samstag leider völlig grau. Der Frost ist nun definitiv da – minus sechs an der Nordwand, minus fünf an der Südwand. Nachdem ich Meisenringe aufgehängt habe, hüllt Dvořáks Streichquartett Nummer 8 den Raum ein. Korrektur meines Beigbeder-Textes, für die Fahrt durch Mittelerde einen guten Ansatz finden. Im Radio mit Getöse Welttheateraufführungen – bei mir bleibt der Vorhang heute unten. Für die Wochenendbesorgungen mit dem Fahrrad auf den Berg – Tiefenatmung gegen die noch leicht schwebende Erkältung. Bei der Limburger Nothilfe finde ich einen Holzschreibtisch, der unsere Neu-Spandauerin begeistert. Sie sagt vintage – er ist höchstens zehn Jahre alt. Nächste Woche Kauf, im Dezember Transport nach Berlin.
Am Nachmittag eine Thermometer-Null. Feldsalat mit ganz langsam durchgebratenen Kartoffelscheiben. Die Jüngste zum Reiterhof gebracht. In dem Gehöft mit Südlage haben bis zu dreißig Pferde Platz. Die Eigentümerin ist Tierärztin. Ich fremdel ja mit den stark riechenden, schnaubenden und grunzenden Tieren, die ständig gebürstet werden wollen. Aber ich bewundere den „Pflegetrieb“ all der Mädchen, von denen ich nur wenige Jahre später viele lustlos smartphoneschielend Kinderwägen über die Felder schieben sehe. Es ist zu 100% ein Girlsding, die Jungs schrauben lieber am Moped.
Den letzten, vier Meter langen, Haselstrunk abgesägt. Ein Nachbar kommt des Wegs und grüßte anerkennend. Wir haben zehn Stück Brennholz mehr als er – das sind hier so die festen Werte. Beim Bildersortieren fällt mir auf, dass das Mädchen, das vor mir an der Kasse stand, dieselbe somalische Gesichtsform wie Muhammad Ali hatte. Plus eine andere, eher westafrikanische Kantigkeit. Unter dem Daunenjackenpuff ein langer weißer Rock, die Haare zu einem Zopf bandagiert. Die Wangen mit einem intensiven hellrosa Blush, was auf der auf kakaofarbenen Haut wie ein dunkler Pfirsich aussah – ein sehr interessanten Effekt! Ich zeige dem Sohn das Ali-Foto. Anhand des Chevy Chevelle im Hintergrund kann ich das Bild sicher auf 1966 datieren. Mein Sohn ist beeindruckt. Die 18,4 Grad Raumtemperatur deuten auf eine kalte Nacht hin. Ofenfeuer und Choräle von Poulenc.
Am Sonntag Westerwaldrunde. Das heißt, ich setze bereits früh am Morgen die Bolognese auf – je länger sie zieht, desto besser. Gegen acht die ersten Goldschimmer der Sonne. Es ist unverändert kalt. Aus dem Gestrüpp verhaltenes Zwitschern; die Meisen haben aber noch nicht auf die Futterbälle angesprochen. Die Jüngste ist krank. Dieselben Symptome wie der Finanzfacharbeitersohn – Schnupf und Ohrdruck. Üppige Teeversorgung. Ich kombiniere „Winterträume“ und „Yogi“. (Warum bevorzugen Frauen diese bunten Beuteltees mit Fantasienamen??? Ich schleppe das Zeug jedenfalls nicht ins Haus!) Kürzlich hörte ich irgendwo, dass die Yogamatten von Temu voller Giftplastik seien. In Bruchssätzen an die Reiseerzählung über den Rothaarkamm und die Frankenberger Mulde, dann aufs Rad und los.
Gleicher Frost wie am Vortag. Der Wind dreht gegen Mittag auf Süd, ab 14h30 ist die Sonne fort. Mein Tritt ist rund, da ist das Wetter nicht so wichtig. Am Rand der Runde nach Hachenburg verwaiste Fußballplätze – alle Spiele abgesagt, berichtet später mein Sohn. Auf unzähligen Plakaten wird der Beginn der „Blackweek“ angekündigt. Als ich heimkehre, bauen unsere Nachbarn gerade ihr aufblasbares, synthetisches Weihnachtsparadies auf. Viele bunte LED-Lampen. Adventsstimmung verbreiten, sich am Naschwerk erfreuen. Das Fest des Lichts kann Deutschland retten. Um 17 Uhr Schnee – schnell den Ofen heizen! Dvořáks Streichquartett Nr. 9 ist eine Offenbarung.
Am Montag schwacher Schneefall, grau, das Kind noch verschnupft. Ein durchweg ereignisarmer Tag: Wäsche, Hausaufgabenbetreuung, Lektüre, Beschreibung der Winterberg-Fahrt, Kochen. Abends eine wohluende Suppe. Mählich dahinschmelzender Schnee und Nieseln.
Am Dienstag die Schlagzeile: „Kreuzberger Mama fährt mit dem Lastenrad in den KitKat Club“ – ich hoffe, ihre Kinder sind bereits volljährig. Wirre Nachrichtenlage. Buntes Volk mischt sich mit Angstdiktatoren, Weihnachtsmarkt mit Black Friday. Unser Sohn besteigt an einem neblig trüben Morgen bei ein Grad die elf Minuten verspätete Kleinbahn. Ich zünde meiner immer noch verschnupften Tochter (13) eine rote Kerze an. Es geht ihr sogleich besser. Am Straßenrand ein Kolkrabe, der mit seinen gewaltigen Schnabel an einer Leiche beschäftigt ist. Es ist bizzarr, wie ungelenk er sich dabei bewegt. Während die Bettwäsche durchläuft, Besorgung eines 2-mm-Hartmetallbohrers und der Zutaten fürs Mittagessen. Alltag.
Winter ist, wenn man durch das Schaben der Eiskratzer auf den Autoscheiben geweckt wird: Krrrk, krrrk, krrrk. Wechsel auf die Beifahrerseite, und wieder: Krrrk, krrrk, krrrk. Der Sonntag ruft mit Sonnenlicht und blauem Himmel zum Laufen. Auch um 11 Uhr sind es noch minus zwei Grad, wobei ein deutlicher Unterschied zwischen der Sonnen- und der Schattenseite besteht.
Weil Frost und trockene Kälte das Bodenwasser bannten und die Pfützen zu Eis erstarren ließen, kann ich erstmals seit Wochen wieder auf den Waldstrecken joggen. Es sind viele Menschen unterwegs: Hundebesitzer mit ihren Tieren, Eltern mit Babys oder Kleinkindern, Rentner beim Spaziergang, jugendliche Sportler auf dem Weg zur Spielstätte des SV Schleusig und natürlich Läufer. Überraschenderweise sehe und höre ich heute kaum Krähen.
Der Fluss, auf dem einige Enten vor sich hindümpeln, trägt auf der schattigen Uferseite einen Hauch von Eis. Raureif bedeckt Laub, Wiesen und die letzten Pflanzen, die erfroren ihre Blätter hängen lassen. Kinder springen in Laubhügel, die zusammengeblasen, aber noch nicht abgeholt sind. Kaum zu glauben, dass es erst Mitte November und nicht tiefster Januar ist.
Auch der Samstag ist winterlich kalt. Die tiefstehende Sonne sorgt für scharfe Schatten und lässt Menschen und Bäume im Gegenlicht als dunkle Silhouetten erscheinen. Schnee liegt noch nicht, aber bei der kalten Luft fehlt nicht viel, um sich das Knirschen vorzustellen.
Gespräche am Pubtresen mit Antifa-Aufkleber.
Ein Freund aus Berlin berichtet, dass bei ihm in der Nähe zwei traditionsreiche Restaurants geschlossen hätten: „Es kamen immer weniger Gäste. Um die fehlenden Einnahmen zu kompensieren, mussten sie die Preise erhöhen. Woraufhin noch weniger Gäste kamen. Und am Ende wollte keiner mehr 6,90 Euro für den halben Liter Bier bezahlen.“
Der Wirt holt einen handgeschriebenen Zettel hervor. Darauf hat er die bisher bekannten Kostensteigerungen des nächsten Jahres aufgelistet: Die Lieferanten erhöhen die Preise für das Bier. Der Dienstleister verlangt über 30 Prozent mehr für die Reinigung der Schankanlagen. Der Mindestlohn steigt. Die Stadt berechnet einen kräftigen Zuschlag bei den Gebühren für Müll und Wasser. Dazu kommt die allgemeine Inflation und ab nächstem Jahr die nochmals höhere CO2-Abgabe. „Eigentlich müsste ich meinen Gästen diesen Zettel neben der Preiskarte vorlegen, wenn diese sich über die Preise beschweren.“ Er hat noch Glück mit seiner kleinen Kneipe – das meiste deckt er selbst ab, wodurch die Personalkosten moderat sind. Wenn die anderen Wirte die Preise anheben würden, müsse er mitziehen, sonst mache er sich angreifbar und unbeliebt. Es ist interessant, wie unser eher links eingestellter Kneipier im Lauf der Monate und Jahre von der Realität eingeholt wurde.
Auch viele andere Dienstleister und Händler haben Probleme. Seit Wochen hat der letzte Fleischer an unserer großen Einkaufsstraße wochentags nur noch bis 14 Uhr und am Wochenende gar nicht mehr geöffnet – er findet einfach keine Verkäufer. Da nimmt er lieber das Frühstücks- und Mittagsgeschäft mit, als den feierabendlichen Verkauf von Wurst und Fleisch – zwischen zwei Übeln vermutlich die kaufmännisch sinnvollere Entscheidung. Für Berufstätige bleibt nun nur noch der Gang an die Kühltheken der Supermärkte.
Ähnliche Situation, anderes Vorgehen: Der kleine Blumenladen um die Ecke wird familiär geführt. Um jedes Geschäft mitzunehmen, öffnet er auch am Sonntag. Aktuell sind die Balkonpflanzen und Blumensträuße aus der Auslage verschwunden. Das ist nicht nur der Kälte geschuldet, sondern vor allem der Saison – zur Adventszeit ist das Interesse an Gestecken größer als der Bedarf an Blumen. Zumal der Laden in diesem Sortiment relativ konkurrenzlos ist – in den Supermärkten findet sich kein frisches Nadelgrün, nur lebeloses Plastik, wenn überhaupt.
Am Montag dann der erste Schnee im Leipziger Tiefland. Unsere beiden Katzen sind hin- und hergerissen. Einerseits wollen sie raus, andererseits zuckt jede Pfote zurück, sobald sie in den ein bis zwei Zentimeter hohen Schnee eintaucht. Kurzer, unentschlossener Blick zur Tür, die ins Warme führt. Noch ein kräftiges Schütteln (vielleicht ein Äquivalent zum menschlichen Schulternzucken?), dann geht es los. Das Hinterhofabenteuer wartet.
„Denn alles Fleisch, es ist wie Gras, und alle Herrlichkeit des Menschen wie des Grases Blumen. Das Gras ist verdorret und die Blume abgefallen. So seid nun geduldig, liebe Brüder, bis auf die Zukunft des Herrn. Siehe, ein Ackermann wartet auf die köstliche Frucht der Erde und ist geduldig darüber, bis er empfahe den Morgenregen und Abendregen.“
… so zitiert Johannes Brahms in seinem Choral- und Orgelwerk „Ein deutsches Requiem“ die Apostel Jakobus der Ältere sowie Petrus (der sich wiederum auf Jesaja bezieht). Texte aus der Luther-Bibel, montiert und vortrefflich vertont zum Troste der Lebenden. Keine Liturgie, keine Totenmesse, weltlich, geerdet. Für mich ist es das schönste Requiem überhaupt – Friede beseelt mein Animistenherz. In der Woche vor Totensonntag sehe ich auf meinen Wegen immer wieder Menschen mit Gestecken, Tannengrün, Schleifen und Kerzen – vielleicht sind sie gerade auf dem Weg zu den Gräbern ihrer Liebsten. Ein schöner, stiller Brauch – und der einzige Feiertag hierzulande, der mich berührt. Am frühen Morgen betrugt die Außentemperatur zuletzt um die vier Grad minus. Das Nachtschwarz zieht sich immer weiter in den Tag hinein. Raureif lässt Pflanzen und Gräser scharfkantig erscheinen. Auf einigen S-Bahnsteigen und Brücken wird schon gestreut – nun knirscht es wieder beim Gehen.
VEB Deutsche Schallplatten Berlin, 1988
Die Schlachtenseetemperatur sinkt rasant – am Samstag haben wir bereits die 6-Grad-Grenze erreicht. Justament als ich ins Wasser schreite, kommt ein mir unbekanntes Seniorenpaar in die Bucht. Der Mann ruft: „Tu es nicht – wir können über alles reden!“ Haha. Später gesellen sich kurz nacheinander zwei mal zwei Winterbader zu uns. Keiner schwimmt, und alle vier halten die Hände über dem Wasser – wirklich smart, da die Finger am schnellsten frieren (es sieht fast wie eine kultische Handlung aus). Jeder hat da seine eigene Taktik. Was mir aber wirklich alle Winterbader erzählt haben, ist, dass sie vor dem Hineingehen ihr „Gehirn ausschalten“ würden und, dass sie in diesen paar Minuten für sehr viele Stunden Energie tanken. Als plötzlich die Sonne durch den Milchglashimmel dringt, drehen wir synchron die Gesichter in ihre Richtung – sie wärmt noch immer.
Ein paar Tage zuvor erscheint ein Ostasiate in der Bucht. Nachdem er von mir hört, dass ich gerade im See war, zieht er sich spontan aus und geht auch hinein. Er behält dabei seine Unterhose an, bleibt für ungefähr zwei Minuten bis zur Brust eingetaucht stehen, kommt an Land, wo er an einer Baumwurzel Liegestütze macht. Dabei sagt er immer wieder: „Kalt. Kalt. Kalt.“ Das Ganze wiederholt er ein paar Mal, bis er sich schlussendlich mit seinem Unterhemd abtrocknet und wieder anzieht. (Ob er seine nasse Unterhose ausgezogen hat, habe ich nicht mitbekommen – Diskretion ist wichtig, gerade jetzt, wo sich keiner mehr hinter irgendeinem Blattwerk verstecken kann.)
Am Donnerstag genieße ich das für mich äußerst seltene Glück, gleich zweimal Kormoranen beim Tauchen zusehen zu dürfen.
Der Pandemia-Podcast mit einer sehr spannenden Folge über die Beulenpest-Pandemie von 1894/95, bei der erstmals Fotografien eine zentrale Rolle spielten – Zeitungen hatten erst kurz zuvor die technischen Möglichkeiten erlangt, diese zu abzudrucken. So war es möglich, dass das Bild von der Krankheit und ihren Opfern die kollektive Wahrnehmung bestimmte, da es den Schrecken und das Leid visuell verstärkte, ja, überhaupt erst so etwas wie das Gefühl für eine globale Krankheitssituation schuf. Dabei spielte auch die Maske als Symbol eine entscheidende Rolle. Die Ausführungen des interviewten Medizinanthropologen Christos Lynteris hochgradig interessant – einzig der Schlenker zur Covid-Pandemie fehlte mir. Hier hätten die Hosts gern über die Jerusalema-Dance-Challenge der Krankenschwestern und -pfleger oder die „Fotolegende der Bilder aus Bergamo“ sprechen dürfen. (Karl Lauterbach am 3. Mai 2020: „80% unseres Erfolgs waren die Horrorbilder aus Italien.“)
„Doctor Schnabel von Rom“ von Paul Fürst nach Johann Georg Colombina, um 1656.
Ein wenig medizinhistorische Kenntnisse hätten auch Prof. Dr. Anika Klafki gutgetan, die als rechtswissenschaftliche Sachverständige inder Corona-Enquetekommission des Bundestags behauptete, dass im Mittelalter die sogenannten Pestschnäbel dazu beitrugen, die Seuche zu bekämpfen. Richtig ist, dass diese schnabelförmigen, mit Kräutern befüllten Masken erst im 17. Jahrhundert und da auch nur regional und sporadisch zum Einsatz kamen. Ihre Populärwerdung verdankten sie künstlerischen Darstellungen, die sie als Symbol für die Plage und den Pestarzt etablierten. Im Laufe der Zeit wurden sie dann als mittelalterlich umgedeutet, wodurch sie bis heute unser Bild vom „Schwarzen Tod“ prägen. Es wäre insgesamt außerordentlich hilfreich, wenn sich in den Corona-Enquetekommissionen und parlamentarischen Untersuchungsausschüssen auf Bundes- und Landesebene die Beteiligten nur zu ihrem jeweiligen Fachgebiet äußern würden, ein an der einen oder anderen Stelle freundlicheres und ergebnisoffeneres Miteinander würde auch sehr helfen. Außer, man nimmt in Kauf, dass das schwindende Vertrauen in staatliche Institutionen und parlamentarische Vorgänge noch weiter sinkt.
„Sehet mich an: ich habe eine kleine Zeit Mühe und Arbeit gehabt und habe großen Trost funden. Denn wir haben hie keine bleibende Statt, sondern die zukünftige suchen wir.“
Als am Donnerstag bei feuchten 0 Grad der Familiendiesel anspringt, ist es noch dunkel. Wider Erwarten wird im Laufe des Tages eine Mindesthelligkeit erreicht. Ich fühle mich mal wieder nicht ganz fit, aber auch nicht richtig krank. Krank ist der Finanzfacharbeitersohn, der am Dienstag bereits angeschlagen hier bei uns eintraf. Da er versuchte, sich mit WICK MediNait und zehn Stunden Schlaf zu kurieren, konnte er erst ab elf Uhr im Büro performen. Seine Projekte laufen gerade in Richtung potemkinscher Dörfer. Er, der oft vierzehn Stunden am Tag arbeitet, lebt in einem elektronischen Käfig – so wie dem Akkugerät die Ladezeit, wird ihm gerade mal die Nachtruhe zugestanden. Immerhin sagt er nicht wie so viele: Wenn ich dafür Zeit hätte, dann … Seine Krankheitssymptome sind mit meinen von zuletzt weitesgehend deckungsgleich: Magenprobleme und eine sehr große Schlappheit. Nach der Koffeinzufuhr steige ich etwas munterer aufs Rad. Die Fahrt verläuft gut, nur ein kleiner Einstich trübt das Fahrvergnügen. Es dauert ungefähr zehn Minuten, den Schlauch zu tauschen – den anderen habe ich dann in Ruhe zuhause ausgebessert. Nachdem Flicken eine Zeitlang Mangelware waren, sind sie nun wieder erhältlich, auch in meiner Größe 0. Ich kaufe in der Regel beim Marktführer TipTop, der die unterschiedlichsten Sets anbietet. Einmal sah ich, wie damit sogar Traktorreifen repariert wurden – mit Flicken, die so groß waren wie eine Langspielplatte, das Vulkanisermittel pinselte man aus einem großen Leimtopf auf.
Beim Trödler kaufe ich eine Monographie über den Stillebenmaler Morandi – die sieht man auch nicht alle Tage. Der Pinakothek-Katalog „Hundert Meisterwerke“ ist mir für heute zu schwer. Die Qualität der Bücher, die bei so einem Haushaltsauflöser landet, ist einerseits erfreulich, andererseits bedrückend – kaum jemand will so etwas noch haben. Im Laden umschwirren Ukrainer und Russen die drei Regalmeter mit feinstem Porzellan. Nach dem Krieg war das bei uns eher Statussymbol als Gebrauchsgegenstand – dafür sparte man sein Geld. Im DLF passend dazu ein fantastischer Satz aus der Wirtschaftredaktion: „In einem anständigen deutschen Haushalt musste der Mercedes mit in die Hausfinanzierung passen.“ Das waren sie, die Lebensziele meiner Eltern – ganz unausgesprochen, ganz unbefohlen. Bei mir müssen lediglich Dvořáks Streichquartette Nummer 8 bis 13 in die Essensfinanzierung passen. Während die Kleine den Ofen anmacht, fährt unser Sohn mit seinem Kumpel zur Spielerbesprechung. Nur ein Punkt aus den letzten vier Spielen, da muss jetzt aber mal ein Ruck durch die Mannschaft gehen! Ein wunderbarer Abendhimmel – die Wolken sehen nach Schnee aus.
Am Morgen minus vier Grad, klar und trocken. Um 8:02 Uhr kriecht ganz weit rechts die Sonne über den Horizont. Der vorher etwas orientierungslose Hase trottet aus dem Stall – endlich findet er die frischen Möhrenschalen und Knabberringe. Erträglicher Radausflug in die kleine Stadt für die üblichen Besorgungen. Ab Mittag deutliche Hektik auf den Straßen. Es ist Freitag – „Aktionen“ und „Angebote“ locken, die Netze der Discountfischer sind ausgeworfen. Die ersten Holzbuden für die Weihnachtsmärkte wurden angekarrt, die ersten Weihnachtsbäume errichtet. Bei meinem Trödler widerstehe ich der Versuchung, wegen eines einzigen Cézanne-Aquarells den ganzen Band mit Werken der Neuen Pinakothek München zu erwerben. Dafür nehme ich eine gummierte, wasserdichte sowie schlagfeste LED-Taschenlampe mit, die mit Standard-Mignonzellen läuft. Die kann man immer gebrauchen, z.B. wenn man draußen etwas sucht. Bei Thalia in den Literaturregalen viele Buchcover, auf denen vor schwarzem Grund rotes Blut fließt. Auch im Sortiment: So eine Art Goldstaubzucker in Standardplastikmühlen. Nur 5,99 Euro! Essbarer Glitzer, Dubaischokolade und Angstpornos – Deutschland 2024/25 …
Die letzten Beeren von unserer Eberesche sind nun vernascht, in der kleinen Stadt entdecke ich einen weiteren wunderschönen Baum. Am Nachmittag väterliche Chauffeursdienste zum Musikunterricht und Fußballtraining. Am Abend am Feuer Oolong, die Nacht wird kalt, Nordostwind oblige, es werden Wintergäste im Garten erwartet. Der gestrige Morandi-Band erweist sich als absoluter Glücksgriff. Dann tiefer in die Nabokov-Biografie und Viola-Sonaten von Brahms.
Mein Leben bewegt sich momentan zwischen der Grauheit des Denkens, der Trägheit des Körpers und dem Irrsinn der mich umgebenden Welt. Wenn es nicht Momente des Lichts und der Freude gäbe – man müsste verzweifeln.
Die Schlagworte der letzten Tage in chronologischer Reihenfolge:
1. Wärme:
Vorige Woche gab es einige schöne Tage, die ich zum Fahrradfahren nutzte. Am vergangenen Donnerstag wollte ich ins knapp fünfzig Kilometer entfernte Altenburg. Dabei übersah ich ein Hinweisschild. Als ich es merkte, entschied ich spontan, nach Borna zu fahren – da war ich noch nie.
Wenn ich mich verlaufe, kostet mich ein Umweg möglicherweise Stunden und in jedem Fall Kraft. Wenn ich mich mit dem Rad verfahre, ist jeder Weg nur einige Pedaltritte entfernt – Distanzen schrumpfen zu Minuten oder Viertelstunden. Das ist das Schöne am Fahrradfahren.
Meine heutige Belohnung: Die malerischen Seen und Teiche in der ehemaligen Braunkohleregion. Letztes Herbstlicht auf letzten Herbstblättern. Zwischen Borna und Kahnsdorf sind einige Wege versperrt oder nicht mehr öffentlich zugänglich, so dass ich doch auf die Navigations-App angewiesen bin. Aber eingedenk meiner vorherigen Worte – mit einem Rad findet sich immer ein Ausweg.
Der hat’s allerdings in sich: Schweres Geläuf mit schwammigem Boden, rutschig und weich. Eine verfallene Straße ist so dick mit Matsch und Laub bedeckt, dass ich die Schlaglöcher nicht sehe – immer wieder pralle ich in ein Loch. Der Sattel knallt gegen meinen Hintern, der ganze Körper bebt unter den Stößen. Jedes weitere Mal, wenn ich erschütternd werde, brülle ich die Straße an: „Ja, gib’s mir! Ja!“. Trotz all der Blödelei bin froh, als es dann auf normalem und lediglich schlammigen Untergrund weitergeht – Schlaglöcher in Leipzig hatten mir einmal die Schraube, welche den Sattel fixiert, brechen lassen. Keine schöne Erfahrung.
2. Was die Wetterpropheten daraus machen:
Zum Freitag hin schlägt das Wetter allmählich um. In der Zeitung werden die monatsuntypischen Temperaturen mit den Panikworten „Saharahitze im November-Sommer“ beschrieben – aber damit sei es nun vorbei; es würde jetzt deutlich kälter werden, um nicht zu sagen: winterlich. Was für die Leipziger bedeutet, sich nicht nur wärmer anzuziehen, sondern auch, die Heizungen aufzudrehen.
Das ist der Stadt Leipzig, die das Klima retten will, ein Dorn in Auge. Flächendeckend sollen das lokale Gasleitungsnetz und intakte Gasheizungen rausgerissen und durch Fernwärme ersetzt werden. Unser Viertel soll Vorreiter sein. Da jeder, der rechnen kann, weiß, dass das ökonomisch und ökologisch Unsinn ist, werden jetzt Gesprächskreise eingerichtet. Die Kommune ließ an alle Haustüren Einladungen zum Bürgergespräch kleben – woraufhin nun ein Widerspenstiger durch die Gegend zieht und auf die Schreiben „Fernwärme ist Abzocke“ stempelt. Aber diese Fernwärme muss nunmal verkauft werden, schließlich hat die Stadt erst kürzlich für 150 Millionen Euro ein eigenes „wasserstofffähiges Heizkraftwerk“ gebaut. Es gibt von dort zwar noch keinen Wasserstoff, schon gar keinen „grünen“, aber hey, wir Deutschen sind unbestreitbar die Herrscher im Königreich des Träumens.
3. Ist Betteln ein Beruf:
Auf dem Samstagsweg zum Aldi geht hinter uns ein gepflegt gekleideter junger Mann, der ein Lied trällert. Er trägt eine leere Getränkekiste, was uns wundert, denn unser Markt nimmt weder Kisten noch klassische Pfandflaschen an. Als wir nach dem Einkauf den Discounter verlassen, sitzt der Mann vor dem Eingang auf der Kiste, seine Kleidung ist mit einer sauberen Decke verhüllt. Vor ihm steht ein Becher, mit dem er um Kleingeld bettelt.
Auf den Freisitzen herrscht dagegen tote Hose – der Zugang ist versperrt, die Bänke und Stühle sind weggeräumt oder in Planen verpackt. Sie sind nun im Winterschlaf, um im April, vielleicht auch schon Ende März, durch die Frühlingssonne geweckt zu werden.
4. Glück verkaufen:
Der Sonntag ist eisig kalt und regenschwer. Der Wind wirbelt die noch nicht festgetrampelten oder breitgefahren Blätter vor sich her. Die Stadtreinigung wartet, bis alles Laub von den Bäumen gesegelt ist, dann kommen sie mit ihren Bläsern und Sammelwagen. Bis dahin sind die Gehwege, Parkbuchten und Gullis verklebt.
Auf dem Feinkostgelände in der Südvorstadt riecht es weihnachtlich. Der alljährlich zur Adventszeit auftauchende Churrosverkäufer ist mit seinem Imbisswagen vorgefahren. Das süßlich duftende Gebäck ist gut fürs Gemüt – bereits der Geruch hebt meine Stimmung.
5. Alles endet:
Die Großbaustelle bei uns um die Ecke, auf der die Brückenauffahrt zur B2 ertüchtigt wurde, ist nun Geschichte. Der Blitzer, der ob des Stop-and-Go monatelang keine Aufnahmen tätigte, arbeitet wieder. Dafür ist jetzt ungefähr zwei Kilometer weiter die Agra-Brücke zur nächsten Staufalle geworden – statt zweispurig dürfen die Autos dort nur noch einspurig in jede Richtung fahren, seit Donnerstag ist sie zudem für Fahrzeuge über 3,5 Tonnen gesperrt. Es handelt sich um denselben Bautyp wie bei der im September 2024 eingestürzten Carolabrücke in Dresden, weshalb man wohl kein Risiko eingehen will. Im sächsischen Verkehrsministerium verwendet man für die verbliebenen Abrissarbeiten in Dresden übrigens die ungewöhnliche Formulierung palliative Begleitung der Brücke – die nun, um weitere böse Überraschungen zu vermeiden, engmaschig überwacht wird.
Am Mittwoch ist Buß- und Bettag, der nur in Sachsen ein Feiertag ist. Für die Leute hier ist es der „Bus- und Betttag“ – „Bus“ für den Nahverkehr Richtung Sachsen-Anhalt, wo die Geschäfte geöffnet sind, und „Bett“, weil man mitten in der Woche ausschlafen kann.
In Ermangelung körperlicher Fitness entscheide ich mich für einen Tag ohne Sport und einen langen Spaziergang als Alternative. Mein Ziel: Ich will an drei Kirchen vorbeigehen (geschafft!) und mir das neu entstehende Wohn- und Geschäftsgelände hinter dem Hauptbahnhof ansehen. Letzteres besitzt bereits eine neue Schule und erste Geh- und Radwege, die Straßen sind zum Teil noch gesperrt. Durch das Gebiet fließt die Parthe, die aktuell in ein neues, steinernes und grünes Gewand gehüllt wird. In den ebenfalls angelegten Beeten verwelken die letzten Blumen, darunter die Schwarzäugige Susanne. Im Sommer könnte es hier einmal ganz angenehm werden, zumal der Verkehrslärm durch die massiven Häuserfronten auf der anderen Uferseite gedämmt wird.
7. Was blüht denn da?
Nach einer dreitägigen Pause steht am Donnerstag wieder ein Lauf an. Wegen der überschwemmten oder zumindest stark schlammigen Waldpfade weiche ich auf die befestigten Wege aus. Das macht die Strecke knapp einen halben Kilometer länger. Ich laufe langsamer als noch im Spätsommer, habe aber keine Probleme mit Kräften und Kondition.
Am Wegesrand erblicke ich eine Pflanze mit weißen sternförmigen Blüten. Ich bin überrascht: Ist es Mitte November nicht etwas spät, um sich bestäuben zu lassen? Sind in dieser Kälte überhaupt noch Insekten unterwegs? Offenbar ja, denn die Pflanze entpuppt sich nach einer Internetrecherche als Schwarzer Nachtschatten, der – obwohl warme Temperaturen liebend – bis in den November blühen kann. Spannend, wer neben dem Bärlauch noch so alles in unserem Auenwald ans Licht drängt.
Abends geht es für mich in die Turnhalle: In den Trainingseinheiten beobachte ich bei den Kids vierzig Minuten lang Chaos, Rumalbern, Lärm, Nichtzuhören und Unkonzentriertheit, und dann, als das Fußballspielen beginnt, vierzig Minuten pure Leidenschaft. Ein guter Grund, um sich noch einmal in die verregnete Kälte zu begeben.
Ein kühler und grauer Wochenbeginn mit leichter Aufhellung. Bei Sonnenaufgang nur noch 3 Grad bei schwacher Nordwestströmung. Nachdem ich fürs Mittag Bergkäse über Blumenkohl und Würstchen gerieben hatte, setze ich mich mit der Jüngsten nochmals an die Prozentrechnung. Aktive Meisen auf Strauchhöhe. Auf arte Roberto Rossellinis „Deutschland im Jahre Null“, gedreht 1945 im zerstörten Berlin – der allgegenwärtige Hunger, die Ausgebombten. Wichtiger Film. So etwas sollte man dauerhaft ans Brandenburger Tor strahlen.
Dienstagmorgen mit leichtem Frost und einer Radioperle politischer Ausdruckskunst: „… die vielstimmig angemahnte Zeitenwende …“ – keine Satire. Den öffentlich-rechtlichen Sendern fällt inzwischen täglich neu etwas Lobenswertes zur Bundeswehr ein. Nachdem der Reif getaut war, Montage eines speziellen Frontgepäckträgers ans bronzene Rad – sehr klein, sehr leicht, fast kunstvoll. Die Franzosen bevorzugen diese Art der Anordnung, da man sich so beim Fahren aus der Tasche bedienen oder auf eine Landkarte sehen kann, die obenauf liegt – Reisen in den Zeiten vor der Satellitennavigation. Ich habe nun mein Stück über Beigbeder beendet. Weitere Analyse von Nabokovs raffinierter Lolita-Dramaturgie, dabei lief Monteverdi. Die Familie wünscht drei Stielkoteletts – also schnell aufs Rad und ab ins sonnig Frische zum Metzger. Der Vorwinter ist jetzt endgültig da.
Alles bekommen. Zum Kotelett gab es gedünstete Champignons und Pastinaken mit Reis, einem Hauch Curry und Paprikasalat, zum Nachtisch eine Handvoll italienische Trauben. Aus Westerburg kaum Neues zu berichten. Aufgrund der H5N1-Stallpflicht steigen die Eierpreise – nun gibt es Zelte unter denen die Tiere „draußen“ sind. Der Spiegel brachte diesmal zwei Überraschungen: ein Gespräch mit einem Kernphysiker, der über KI-basierte Forschung redet (die lange vor ChatGPT stattfand) und eine Art Kollektivinterview, bei dem sich die damalige Journalistenriege sowie Tom Kummer um dessen gefälschte Interviews auslassen. Poschi und Uslar, die es bis heute „nicht fassen können“, dass das alles erfunden war … Sie hätten bei Nabokov lernen dürfen, dass jede, wirklich jede Geschichte eine Erfindung. Kummer hat sich geradezu künstlerisch genaue Dialoge ausgedacht – ich finde das nach wie vor großartig. Wer zum Teufel will denn wirklich wissen, was Brad Pitt denkt oder Pamela Anderson meint. Vielleicht diejenigen, für die Meghan Markle eine Prinzessin ist, statt eine Herzogin der Fikion. Kummer ist für mich die coolste Sau der Szene, in der es ja nun wirklich nicht an Hochstaplern, Lügnern, Plagiatoren oder Angebern mangelt. Am Nachmittag scheint die Sonne ins Zimmer – einer der Vorzüge des Novembers.
Die Eindrücke der Samstagstour wirken nach: die unglaublich weiten Horizonte, wenn man vom Sauerland herunterkommt – von 700 auf 500 auf 300 Meter, bis es ins Lahntal geht. Diese Staffelung zieht sich über 50 Kilometer. Man sieht ähnliche, aber unterschiedliche Welten. Solche Gebirgskämme waren vor der motorisiserten Ära ja auch Zivilsationsscheiden: Heiraten in das Nachbartal? Ins andere Fürstentum? In die andere Konfession? Das ging schonmal gar nicht. Zum Abend aus Kohl, Kartoffeln, Zwiebeln eine Suppe gezaubert.
In der Nacht auf Mittwoch nachgeschlafen. Gegen 7 Uhr der erste Schnee, der nur kurz liegenblieb. Ein Stück weiter oben dürfte es anders aussehen – die Null-Grad-Grenze liegt bei 300 Höhenmetern. Nach dem Einölen des Fahrrads hinaus. Beobachtung beim Einkauf: Viele sind mit dem Hören, Sehen und Lesen zunehmend überfordert. Sie halten lieber eine Rabatt-App hin. Das Roggenbrot mit 7 Euro pro Kilo nochmals teurer. Juckt keinen – die fünf Wattebrötchen für 2,15 Euro aus dem Sonderangebot werden die Mägen schon füllen.
Ein Freund schickt einen sehr guten Auszug aus Andrei Platonows „Tschewengur“, geschrieben in den 1920ern: „Unter Tausenden war so ein Gesicht zu unterscheiden – ein offenes, von ständiger Anspannung verdüstertes und ein wenig misstrauisches Gesicht. Die Weißen hatten seinerzeit solche besonderen, selbstgemachten Menschen unfehlbar herausgefunden und mit derselben krankhaften Besessenheit vernichtet, mit der normale Kinder Krüppel und Tiere schlagen: erschrocken und mit gierigem Genuss. Das Atemgas bildete unter der Saaldecke bereits eine Art trüben örtlichen Himmel. Das matte elektrische Licht pulsierte leicht, wahrscheinlich gab es im Kraftwerk keinen heilen Treibriemen für den Dynamo, und der alte ausgebrannte Riemen schlug mit der Naht gegen die Scheibe und veränderte die Spannung im Dynamo. Die Hälfte der Anwesenden begriff das. Je weiter die Revolution vorausschrieb, umso mehr Widerstand leisteten ihr die erschöpften Maschinen und Erzeugnisse – sie hatten schon ihre sämtlichen Fristen abgearbeitet und hielten sich nur noch durch die anspornende Meisterschaft der Schlosser und Maschinisten.“ Die Treibriemen der Dynamos, Kinder, die Krüppel schlagen, der Dunst der Atemluft – alles sehr klare Details, die nur einem direkten Beobachter zugänglich sind. Der Blick in die Maschinenräume gesellschaftlicher Umbrüche ist zu allen Zeiten unappetitlich. Am Abend zwei Grad und kalter Regen.
Andrei Platonow„Tschewengur. Die Wanderung mit offenem Herzen“, ins Deutsche übertragen von Renate Reschke; Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.
Das hatte ich zuvor im Leben auch noch nie geschafft: Mich zum Schwimmen aufzumachen, während bei einigen Nachbarn bereits die Weihnachtsbeleuchtung im Fenster blinkt. Die Lufttemperatur in der letzten Woche zwischen 7 und 2°; das Wasser im Schlachtensee nunmehr bei etwas über 8°. Das ist für mich (für sechsundfünfzig Schwimmzüge) gut auszuhalten. Nur bei Regen und Wind wird es unangenehm – dann setz ich ne Mütze auf. Nach dem Baden sind die Hände der vulnerabele Punkt – Füße und Restkörper bekomme ich durch Tee und mein Gymnastikprogramm schnell warm. Ich habe dafür von keinem Geringeren als dem Größten aller Zeiten gelernt und mache so eine Art Ali-Shuffle, wobei ich Alis Tänzchen durch Händeklatschen und Schattenboxen ergänze – Float like a butterfly, sting like a bee. Ich bin der letzte Schmetterling der Badesaison.
Auch Mitte November sind die Sonnenaufgänge und Himmelsbilder bezaubernd – am Freitag sah die Schlachtenseeoberfläche mit den gespiegelten Wolken und Bäumen wie eine Winterlandschaft aus einem sowjetischen Märchenfilm aus, am Dienstag war die Rehwiese von einem pastellfarbenen, matt-orange-roten Licht angehaucht.
Durch den mehrmaligen Regen reicht der See nun bis an die Bänke heran – morgendliche Balanceakte über Wasser und Modder.
Wieder schöne Buchtplaudereien, unter anderem über das beiläufige Wahrnehmen der Umgebung – ich schau ja gar nicht (wie es mein Gesprächspartner vermutete) genau und aufmerksam hin, bekomme aber gerade dadurch viele Details mit. In der kognitiven Psychologie wird das als automatisiertes Wahrnehmungssystem bezeichnet.
Eine Frau sagt, weil das dämpfende Blattwerk fehlt, dringt der Lärm von der Stadtautobahn jetzt lauter in unsere Bucht. Je mehr das eine schwindet, desto stärker kann das andere wahrgenommen werden.
Das Pärchen Mitte sechzig (der Mann noch mit Arm-Manschette) kommt auf das Thema aktuelle Gefahren unserer Gesellschaft zu sprechen, woraufhin ich die zunehmenden Antibiotikarestinzen nenne und wir bei Bakteriophagen landen. Da stellt sich heraus, dass ihre Tochter Biologie studiert und genau das ihr Spezialgebiet ist. Zufälle gibts. Nach Meinung der beiden ist die Hochrüstung und mediale und politische Kriegshysterie hierzulande die akut größte Gefahr. Die Frau regt sich sehr über Karl Schlögels Dankesrede bei der Verleihung des „Friedenspreises des Deutschen Buchhandels“ auf. Ich entgegne, dass ich, statt mich über Leute wie Schlögel, Röttgen, Strack-Zimmermann oder Kiesewetter zu ärgern, lieber die Bücher von Sergei Platonow oder Swetlana Alexijewitsch lese. Plattitüden sind sowiesoimmer durch Gehaltvolles zu ersetzen.
Coverfoto von Andrei Liankevich. Taschenbuchausgabe, Suhrkamp, 2015
Um den 1. November herum hat die Stadtreinigung ihre Müllbehälter vom Seeufer abgeholt. Ich habe seitdem mehrmals beobachtet, dass Spaziergänger Beutel dabeihaben, in die sie dann ihren eigenen oder gefundenen Abfall stecken. So etwas erreichst du, indem du die Menschen auf eine vernünftige und höfliche Weise ansprichst.
Absoluter Lichtblick in den oft arg vernebelten parlamentarischen Untersuchungsausschüssen und Enquete-Kommissionen zu den „Lehren aus der Coronapandemie“: Die Aussagen des allseits geachteten Virologen und langjährigen Direktors des Instituts für Medizinische Virologie an der Charité Berlin, Prof. Dr. Detlev Krüger, vor Abgeordneten und Sachverständigen im Brandenburger Landtag. Seine Eingangssätze fassen die folgenden knapp vierzig Minuten gut zusammen: „Tut mir leid, Sie jetzt wieder in die tiefen Ebenen der Naturwissenschaft holen zu müssen. Was ich referieren will, ist Lehrbuchwissen, was ich meinen Studenten jahrzehntelang beigebracht habe.“ Und so arbeitet er sich sich dann von einem RKI-Bulletin zum nächsten, zeigt RKI-Statistiken, benennt die einzelnen Maßnahmen und deren Unwirksamkeit. Er kritisiert die fehlende Datenerhebung und den unwissenschaftlichen, kontraproduktiven politischen Aktivismus in der Zeit. Dabei bleibt er erstaunlich ruhig, nur beim Thema Druck auf Kinder merkt man ihm die anhaltende Erschütterung an. Wenn man sich mit dem Thema eigentlich nicht mehr befassen, aber trotzdem eine sehr gute Übersicht bekommen möchte, sollte man sich Professor Krügers Aussagen anschauen.
Um 20:25 Uhr war ich am Samstag wieder entspannt und zufrieden zu Hause – wir hatten drei Mittelgebirge durchfahren, zwei Mal Burg Staufenberg passiert. Die Ruine ist nachts beleuchtet – ein winziger orangener Punkt aus der Ferne. Die Form stimmte, das Wetter war leicht und mild, hohe Wolkendecke, kein Niederschlag – alles ganz anders als in den Katastrophenvorhersagen. Das größte Hindernis waren die Heimkehrer von der samstäglichen Vergnügungsreise am frühen Abend – auf einer fünf Meter breiten Landstraße macht das für alle Beteiligten keinen Spaß. Im Hochsauerlandkreis hat sich die alte Bundesrepublik in ihrer Reinform konserviert. Brilon ist das Sprengel von Friedrich Merz – Weltbild und Stadbild kommen zur Deckung. Beim Fleckenberger Bäcker lagen fünf Kastenbrote bereit – dieselben, die schon in meiner sauerländischen Vergangenheit auf ihre Abholer warteten, vermutlich von denselben fünf Familien vorbestellt, die sie seit hundert Jahren kauen. Hier weiß jeder, wo und was der Nachbar einkauft. Wenn man sich in diesem Landstrich „etwas leistet“, muss es unauffällig und gediegen sein, teuer geht in Ordnung, extravagant nicht. Perfekt funktionierende Kleinstädte mit klaren Strukturen, Normen, Sitten und Gebräuchen. Bereits in einem Düsseldorfer Pelzladen wäre man stark verunsichert, da Angebot und Ambiente mit der anerzogenen Bescheidenheit kollidieren würden. Den Brilonern ist genau bekannt, was Merz am Abend für Wurst gekauft hat – wehe, wenn nicht! Eine ordentliche Karriere in der CDU ist ein geeigneter Ausweg aus so einer Welt. Deutschland ist ein so vielfältiges und wunderliches Land – allein, wie man beim Durchfahren sofort mitbekommt, wann ein Gegend katholisch wird …
Die strengen Fachwerkhäuser des Sauerlandes gehen an Sieg und Eder in kunstvoll geschindelte, graue Häuser über – ein deutliches Anzeichen für die Schiefervorkommen des Rothaargebirges. Ein herbes, karges Land mit Talbahnen. Meine Freund und Mitfahrer war vom desolaten Zustand des oberen Lahntals sehr bedrückt – er kennt das alles noch aus besseren Zeiten. Orte wie Biedenkopf oder Bad Laasphe hatten vor fünfundzwanzig Jahren eine Fülle an kleinen Stahlverarbeitern. Diese sind inzwischen alle fort, die aufgegebenen Hallen werden kümmerlich „nachgenutzt“ – das riesige ehemalige Aldi-Zentrallager steht seit zehn Jahren zur Miete frei. Die letzte große Firma, die hier noch durchhält, ist die GEA Food Solutions Germany GmbH in Biedenkopf‑Wallau, die Verarbeitungsanlagen für Lebensmittel produziert. Die Deindustrialisierung Ostdeutschlands wird bis heute als historisch unausweichlicher Prozess bezeichnet und wahrgenommen. Dass sich die Folgen bis in die Gegenwart ziehen, wundert den Großteil der Medienlandschaft. Nun kommt „plötzlich“ der „eigene“ Strukturwandel – auch der wird ungläubig bestaunt. Wir fuhren durch ein schleichend sterbendes Land.
Die Fahrt ging auch durch die großen Jagdreviere des Westens. Rothaargebirge, Sauerland und Gladenbacher Bergland sind voller Wild. Gipfel des Sauerlands ist Winterberg, Heimat des Wintersports. Auf allen Höhenzügen Gestelle und Apparaturen. Touristen aus den Niederlanden, wie man an den Nummernschilder erkennen konnte. Abgeholzte Wälder, die als blanke Kuppen einen unwirklichen Rahmen bilden, daneben gesunde Tannen und Lerchen. Überall wunderbare Farben. Milchlaster mit gigantischen 20000-Liter-Edelstahlbehältern – unsere Bauern machen unverdrossen weiter.
Novembersonntag mit Kränzen – entgegen aller Schauerprognosen ein milder und bewölkter Tag. Die Luftmassengrenzen haben sich offenbar viel friedlicher vermischt, als es die Modellierer berechnet hatten. Am Nachmittag Dorndorf II mit einem unverdienten 1:2 gegen Anadolou Limburg – wenn man ein halbes Dutzend Großchancen nicht verwertet, bestrafen einen auch übergewichtige, lauffaule, dafür aber kombinationssichere Altherren aus Anatolien … Mit der Jüngsten mühsames Üben der Prozentrechnung. Die Übertragung von Bruch- in Dezimalzahlen und deren Äquivalenz ist offenbar verwirrend. Auch, dass die Multiplikation mit 0.25 dem Teilen durch 4 entspricht. Ich, als Nichtmathematiker, bin ja davon überzeugt, dass mathematisches Denken und das Erkennen von logischen Entsprechungen eine Sprache ist. Es gibt Menschen, die dieses Denken viel besser assimilieren als andere. Die das förmlich über die Wirklichkeit stülpen können, denen es hilft, Struktur zu gewinnen.
Nabokov ganz groß. Seine Feldforschungen zu Lolita beginnt er Mädchenschulen – für sein Vorsprechen erfindet er eine Tochter. Er studiert Statistiken, Untersuchungen zum Sozialverhalten und dem Slang heranreifender Mädchen. Sich seinem Thema vom Wissen, nicht von Vorurteilen oder Wünschen und Vorstellungen aus nähern.
Beim Joggen beobachte ich, wie eine Horde übermütiger Krähen einen alten Mann und dessen Hund bedrängt. Über eine Distanz von mehreren hundert Metern lassen sie die beiden nicht in Ruhe. Die frechsten Vögel setzen sich vor des Mannes Füße und stieben unmittelbar vor ihm hoch, als würden sie rufen: „Fang mich doch, alter Mann, fang mich!“ Der Hund trottet schicksalsergeben nebenher, vermutlich froh, dass sie ihn nicht in den Schwanz zwicken. Im ersten Moment denke ich, es handele sich um die übliche Heerschar Saatkrähen, die im Herbst über die Grenzen zieht und sich zu Hunderten in großen, lauten und Dreck verursachenden Schwärmen in den Leipziger Parks niederlässt. Aber dafür war die Gruppe zu klein. Vielleicht hatte der Mann sie mit Brotkrümeln angelockt und jetzt ließen sie nicht ab von ihm? Die Situation hat zweifellos etwas von Hitchcock an sich. Denn als ich den Mann längst überholt und die Brücke an der Pferderennbahn überquert hatte und auf der anderen Seite des Flussbetts in die Gegenrichtung laufe, sehe ich die Krähen immer noch den alten Mann umflattern.
Ich bin auf meiner gewohnten Strecke unterwegs. Das Pleißeflutbett führt aktuell nur sehr wenig Wasser. Der Grund dafür ist nicht etwa Trockenheit (woher auch, so viel wie es seit Mitte Oktober geregnet hat), sondern eine Baumaßnahme. Der seit 2023 nach und nach erweiterte innerstädtische Stadthafen wird geflutet. Um Schäden zu vermeiden, wurde die Wassermenge im Zulauf reduziert. In den kommenden Tagen wird, während sich das Hafenbecken füllt, der Flusspegel wieder langsam auf das alte Niveau gehoben.
Beim Laufen unter einer fahlen Sonne – es soll kälter und wieder regnerischer werden in den nächsten Tagen – denke ich über einen Wortwechsel mit einer Freundin nach, die gerade Probleme mit ihrem Vorgesetzten hat. Das erinnerte mich daran, dass ich kürzlich in einer ähnlichen Situation war und unter anderem auch deshalb die Reißleine gezogen habe. Trotz der Richtigkeit meiner Kündigung bleibt ein Rest Zweifel: Manche Kritik, vor allem, wenn sie häufig vorgetragen wird, kann einen so tief verunsichern, dass man sich seiner eigenen Fähigkeiten und seines eigenen Werts nicht mehr sicher ist. Sind es fiese Psychospiele, die möglicherweise die eigenen Mängel der Chefs überdecken sollen – und die man dann aushalten muss? Was ist berechtigt an den Vorwürfen – bin ich vielleicht tatsächlich so unfähig, wie man es mir vorwirft?
Diese Machtspielchen sind auch der Grund, weswegen ich mir nicht vorstellen könnte, in die Politik zu gehen. Die Messer im Rücken, die vergifteten Geschenke – das bin ich nicht, das will ich nicht. So ein Spiel kann nur jemand aushalten, geschweige denn spielen, der damit sein halbes Leben verbracht hat. Der letzte „Nichtpolitiker“, an den ich mich erinnere und der genau daran gescheitert ist, war in meinen Augen Bundespräsident Horst Köhler.
Und damit sind wir wieder bei den Krähen. Vermutlich würde es einem ehrlichen Menschen in der Politik so gehen wie dem alten Mann mit den Krähen: belästigt, bedrängt und verängstigt, erträgt man die Pfeile und Schleudern des wütenden Geschicks, bis man schließlich entnervt aufgibt – denn die Situation durch Widerstand zu beenden, ist so unendlich schwer.
Auch am Donnerstag beobachte ich bei weiterhin sehr ruhiger und kühler Witterung das Weltgeschehen. Den ominösen Buchstaben und Ziffern folgend, verlegen nun belgische Fernarbeiter im Dorf die Glasfaserkabel. Immer neue EU-Baustellen. In den Märkten sieht man auf einmal auffallend viele ermäßigte Putenstückchen in den Kühlregalen (Nicht-Bio). Denkt da gerade ein großer Teil der Kunden, dass das Fleisch voller Vogelgrippeerreger ist? Wahrscheinlich greift das Klima des Misstrauens so langsam auf alle Lebensbereiche über. Je mehr sich einander widersprechende Erzählungen verbreitet werden, desto misstrauischer wird der Unwissende. Und unwissend sind wir irgendwie alle, tappen im Nebel der Behauptungen herum. Als Reaktion darauf bricht sich dann zunehmend mittelalterlicher Aberglaube Bahn – Gerüchte werden zu Glaubenshaltungen. Zumal Themen wie Krankheit, innere Sicherheit, Rente, Pflege, Tod, also die essenziellen Fragen jeder Gesellschaft, ganz dreist über die Köpfe der Bevölkerung hinweg verhandelt werden. Nun müssen sich alle Männer ab dem Jahrgang 2008 mustern lassen – einfach so.
Mein alter Radfreund berichtet frustriert von einer Veranstaltung im Rahmen der „Langen Nacht der Kunst und Genüsse 2025“ in der Mannheimer Buchhandlung seines Sohnes. Vier Kurzlesungen und Bücherflohmarkt. Das Volk kommt nur noch wegen der Häppchen, hört keine Minute zu, zieht weiter. Die Buchhandlung macht so etwas nie wieder. Im Grunde traurig. Aber richtig schlimm wird es erst, wenn die Pauschalreisen storniert werden – damit knackst Du sogar den US-Shutdown. Flugreisenrückgang – da sei Gott vor!!!
Mit Trödler Hassan über sein gerade verkauftes Haus geredet. Der bisherige Mieter, ein rumänischer Clan, ist nach einem Brand und der anschließenden Renovierung fortgezogen. Das Häuschen ist nun in türkischem Besitz, steht aber noch leer. Er und seine Frau bieten ein weiteres Haus an; es gibt sehr viele Interessenten. Hassan zeigt mir einen kleinen Einschlag an seiner Autoscheibe. Er vermutet eine Glashammerattacke von einem der abgewiesenen Bewerber. Die Verteilungskämpfe nehmen zu. Das sind Dinge, die allmählich jeder spürt, wenn auch indirekt, wenn auch unterschwellig. Eine weitere große Ladung Äpfel gepflückt – nur eine Handvoll war von Vögeln angepickt. Meine Magensymptome nehmen langsam wieder ab, ein zäher Krankheitsverlauf ist es dennoch. Zum Mittag gibt es Suppe.
Am Freitag nach Limburg. Dann Kochen und Vorbereitungen für die Tour am Samstag. Milde Temperaturen, kaum Windbewegung und trocken – dennoch nehme ich das Rad mit den Schutzblechen und packe den Regenüberzug ein. Mein größter Feind sind nassse Füße – ich rechne stark damit, auf dem Sauerland-Gipfel Niederschlag zu bekommen. Es geht ab Gießen über 200 Kilometer. Heute nicht aufs Rad, nur im warmen Auto gesessen. Während die Tochter in die Tasten haut und hinter dem Tannenwall die endlose Prozession des Freitagnachmittagsverkehrs vorüberschleicht, verbringe ich eine herrliche Lesestunde mit der detailierten Nabokov-Biografie von Brian Boyd. Sehr spannend ist für mich Nabokovs Arbeitsmethodik des Materialsammelns. Ehe er losschreibt, hat er bereits das gesamte Buch im Kopf. Er besteht auf der Präzision des Künstlers und der Leidenschaft des Wissenschaftlers. Und auf absolute Genauigkeit – es ist zum Beispiel wichtig, die Reihenfolge der Waggons in den russischen Zügen zu kennen, da man ansonsten in Tolstois „Anna Karenina“ gewisse Szenen nicht verstehen würde.
Der Sohn zeigte mir das HD-Video aller Tore vom letzten Heimspiel. Die Kamera wird in drei Meter Höhe an einem Mast befestigt, die Qualität ist grandios. Dein Trainer kann Dir alles beweisen. Irgendwie faszinierend. Aufräumen, Kalorien für die Fahrt aufnehmen. Dabei DAS Violinkonzert des 20. Jahrhunderts hören: Witold Lutosławskis „Partita“, komponiert im Jahr 1948. Zweimal geht es morgen ganz dicht an Staufenberg vobei: bei Kilometer 20 und bei Kilometer 180.
Am letzten Donnerstag steht der Mond nach einer kristallklaren Nacht so hoch und hell, dass die Kirche einen riesigen Schatten wirft. Am Morgen sanfter Nebel. Die Luft einen Hauch über dem Gefrierpunkt. Das gewohnte Frühstücks- und Morgenballett. Am Ende sitzen um 7:05 Uhr vier Personen im Auto, von denen zwei ihre Räder mitgeschleppt und gefrühstückt haben. Die anderen beiden wollen später das Essen nachholen, trinken aber schon mal Tee. Der Appell „Frühstücke wie ein König“, dürfte mit der Realität unserer Arbeitswelten auf Kriegsfuß stehen. Gegen elf lichtet sich der Nebel. Ich zähle noch ein Dutzend Beeren an der Eberesche. Die Hagebutte hängt üppig befüllt, die meisten Äpfel liegen am zweiten Apfelbaum. Vor ein paar Tagen habe ich einen alten Fahrradrahmen geschenkt bekommen – jetzt setze ich die Teile für den Aufbau zusammen. Unterverchromt, saubere, solide Arbeit – so etwas rostet nur sehr langsam. Das Lackmuster gefällt mir: Perlmutt in Konfettifarben gesprenkelt – „Italian Disco“ werde ich ihn nennen. Die meisten meiner Bauteile kommen von Fahrradleichen. Es ist unfassbar, wieviele man allein von Berliner Laternenmasten befreien und mit ungefähr einhundert Euro für Jahrzehnte aufbereiten könnte … Unwissen, Desinteresse und die ständige Verfügbarkeit neuer Räder verhindern das – Zeichen einer Gesellschaft des Überflusses.
Am Nachmittag lösen sich ganz langsam die Nebel auf, nur in den Tälern über den Flüssen beiben sie zäh. Oben spielen die Mädchen mit ihrer Schleich-Pferde-Brigade. Weitere Basteleien, die tiefe Sonne scheint direkt zu mir ins Erdgeschoss. Beim Rinderbauern waren die Fleischprüfer. Zum Abend ein Endiviensalat mit Eiern, Paprika und Tomate. Die Kinder leisten mir Gesellschaft, mit der Dame des Hauses ist selten vor 20 Uhr zu rechnen. Kleine Wolken kündigen eine kalte Nacht an – ich bringe den Olivenbaum in den Keller. Der Ofen brennt. Im weißen Sessel mit Vladimir Nabokov Amerika entdecken – was entdecken wir eigentlich gerade?
Nebliger Freitagmorgen mit Debussy und der ersten Runde Kaffee. Alle Kinder sicher auf dem Weg in die Schule, die Frau stürmt hinterher – das tägliche Schauspiel. Nach einem beschissenen Abendgefühl scheint der Körper den Schlaf zur Heilung genutzt zu haben. Ich schiebe alles auf den Besuch einer sehr vollen Pizzeria nach hartem Training. Ich solle mich nicht so verausgaben, sagt meine junge Tochter. Ich sage: dieses Virus hat eine unglaubliche Anpassungsfähigkeit. Meine immer festere Überzeugung: Es ist ein Gain-of-function-Experiment an irgendeinem Coronavirus, woran der gesamte Globus seit 2019 laboriert. Ich jedenfalls habe in meinen bisherigen sechs Lebensjahrzehnten nie so gehäuft solche merkwürdigen Karnkheitsverläufe gehabt. Heute aber wieder mit angenehm leichtem Tritt auf dem Rad. Bei 4 bis 5 Grad plus war die Talsicht gut, ab dreihundert Meter Höhe schwamm alles in einer Nebelsuppe. Der typische Freitagsverkehr: Das Heimkehrrennen der PKW, Lieferwagen und Laster geht nahtlos ins Shoppingrennen der Töchter und Mütter über, die ich bei H&M beobachte. Gegenüber bei Thalia ein Regalmeter Reclam und zwanzig Regalmeter Literatur. Sehr viele KI-generierte Cover, auch die Übertragung erfolgreicher Streamingserien in Buchform hat keinen Autorennamen mehr. Meine jüngste Tochter blättert fasziniert in einem gut bebilderten Buch über Spitzbunker und versteht überhaupt nicht, wie man dort vor Bomben sicher war. Auf die Meisengesellschaften folgen nun die Spatzen, die in der Eberesche nach Körnern suchen – die letzten Früchte sind hingegen uninteressant. Sie wagen sich auch in die Nähe des Hasenstalls, wo sie auf dem Boden Körnrereste aus der Nagepackung finden – beim geringsten Geräusch stieben sie davon.
Ein typisch grauer Novembersamstag. Die Elstern sehr aktiv, in der Schule Tag der offenen Tür. Bei sinkenden Kohortenzahlen muss man Neuschüler werben. Von den Bildungseinrichtungen des Bistum werden in der nächsten Zeit einige schließen. Erste Winterfahrt – es geht über Ausläufer des Vogelbergs ins Lahntal, von dort an etlichen Infrastrukturbaustellen vorbei nach Gießen. Der Flohmarkt ist ans andere Ende der Stadt neben die Asylantenunterkunft gezogen. Beim Plattenhändler die Stimmung so trüb wie das Wetter. Dem Ukainerdenkmal am Friedhof folgen die Kasernenkomplexe am Spilberg. Reihenweise Arbeitersiedlungen und Neo-Wohnkomplexe.
Vierspurige Ausfallstraßen, am Rande Gewerbeklötze, und als Krone auf der Höhe die Bunker der Leica AG. In Sichtbetongrau werden gescheiterte Speer-Entwürfe zur „Leica-Welt, dem Erlebnispark der kreativen Fotografie“gezeigt. Hinter den Fenstern Schwarzweiß-Bilder. Der Caféflachbau lockt in ein 50er-Jahre-Ambiente. Junge Menschen sehe ich kaum. Eine flächenversiegelte Retrotopie für meine Alterskohorte. Verteidigungsstrategie einer untergehenden Welt: verschlossen, erstarrt, von der eigenen Wichtigkeit kündend, die es längst nicht mehr gibt. Ein graues Mahnmal des Grauens.
Am Sonntag Erholung von den 140 graunebligen Kilometern am Vortag. Nur kurz den Berg hinauf, um das 1:5-Debakel gegen TUS Dehrn 1905 zu erleben. Die Zuschauer tragens mit Fassung, allein der Schiri bekommt sein Fett weg. Mein Sohn ab Halbzeit 2 rechter Verteidiger – eigentlich fehlerfrei. Feucht und mild, von 4 auf 8 Grad. Gegen 20 Uhr, höre ich, den Rufen nach zu urteilen, einen kleinen Kranichzug. Bin platt – für die letzten Schulaufgaben wirds reichen.
Montags Kleinkram: Kurzreisebericht fertigstellen, Wäsche, Sellerie schnitzeln, der Jüngsten bei den Deutschaufgaben helfen und mit dem Sohn die Haselnuss beschneiden. Das Holz ist dicht und zäh, der Strauch wächst ohne einen zentralen Stamm auf vier bis fünf Meter, was ihn schwer zugänglich macht. Das Eigengemisch für die Motorsäge war anfangs etwas „zu fett“ – das habe ich korrigiert. Ca. ein Dutzend armdicker Scheite für den Ofen ausgesägt – Haselholz brennt lange. Ging alles ruckzuck. Die restlichen Bündel Astwerk werden abgeholt. Der Wiesenhof-Mann ist heute außer der Reihe im Dorf. Sonst kommt er freitags und gönnt sich dann im Nachbarort ein Mittagessen. Auf dem Land ist alles übersichtlich. Wieder leichtes Bauchdrücken – Schonkost und Wayne Shorters „Speak no evil“.
Sankt Martini. Das Haus ist erfüllt von Jordi Savall, der auf seiner Viola da Gamba Diego Ortiz‘ „Recercadas del Tratado de glosas“ spielt. Die Aufnahme so gut gelungen, dass man sich in einer kleinen spanischen Kirche in Aragon wähnt, kurz bevor der erste Schnee fällt. Bin ausgeruht – Stille und gute Luft sorgten bei mir für tiefen Schlaf. Ein weiterer vor sich hin dämmernder Tag. Aufgelockerte Bewölkung, in Teilen etwas sonnig. Mein Sohn bucht gerade für sich und seine Freundin diverse Kurzreisen mit dem Flieger. Die sind so billig, dass da kein Zug, kein Auto mithält. Weihnachten ist ja schon ganz bald, sagt er , als er auf den Kalender blickt. Nachdem der Autoreigen auf dem Kindergartenparkplatz beendet ist, besäge ich noch einen dicken Ast. Anschließend mit einer Pai-Mu-Tan-Sencha Mischung die Possen der Welt verfolgen. Am Nachmittag geht der Ballettag ins Fußballtraining über – ich chauffiere und liefere ab. Zwei Zupacker der firma Bördner werfen die Gehölzbündel in einen blauen Müllwagen, der auf zwei Meter Breite das Holz komprimiert. Sie rumpeln ab und lassen ein paar gelbe Haselblätter hier. Die handliche Motorsäge namens „Oregon“ mit ihrem 39-cm-Schwert hat sich wirklich bewährt. Auch sie stammt vom Trödler. Noch sind die Verbrenner im Vorteil. Ein Tank von 300 ml reicht für eine halbe Stunde Dauerbetrieb – das Gemisch mixen wir selbst. Zweitakt-Motörchen sind drehfreudig und betriebssicher – gegenüber den Akkumaschinen sind das Vorteile. Und: Akkus wiegen – wenn man über Kopf arbeitet, ist das schon ein Faktor. Wenn alle Bäume kahl sind, werde ich noch ein paar dschungelartige Sträucher lichten, dann ist Winterruhe für die Maschine. Alle Kinder satt und zufrieden.
Der Mittwoch beginnt mit 1 Grad und Nebel. Ich kann die Zughupe deutlich hören – der Wind kommt also aus Ost. Nach kaltfeuchtem Start ist es, nachdem die Sonne durchbrach, recht mild geworden. Beim Trödler stoße ich auf einen frischen Flöz Klassik-CDs und beachtliche Ausstellungskataloge. Ein Band zu Expressionismus, Dada, Grosz etc. heißt: „Der Traum von einer neuen Welt“. Guter Titel. Jetzt, wo sich unsere Welt wieder (und anders) erneuert, hört man nur wenig von Träumen, dafür umso mehr von Bedrohungen und Verlusten. Es sind eben nicht wir Menschen, die sich ändern wollen – das war 1910 noch anders. Der Finanzfacharbeitersohn ist im Hause. Sein Tag dauert vierzehn Stunden, seine Verfügbarkeit hat unbegrenzt zu sein – die Kapitalströme der Welt kennen keinerlei Pause. Im Februar weiß er, ob er weiter befördert wird. Kuriose Zeichen auf der Straße: Kabelnummern für die Internet-Glasfaser.
Am letzten Donnerstag dachte ich im ersten Moment, dass es auf der Rehwiese brennt – dann sehe ich, dass das was über den Rand der Senke zu mir hoch weht, Nebel ist. Ich gehe näher, stehe nun mittendrin, erlebe wie sich die Schwaden wie in Zeitlupe auflösend in alle Richtungen verflüchtigen. Die ersten Sonnenstrahlen des Tages schneiden wie Lichtklingen durch die feuchte Luft und zeichnen scharf die Konturen von Gräsern und Blättern nach.
Das Wochenende verbrachte ich in Parchim, in meiner alten Heimat Mecklenburg. Am Samstag feierten wir im kleinen Familienkreis den 80. Geburtstag meiner Mutter, abends hatte ich ein Klassentreffen. Vierzig Jahre sind wir nun aus der Schule. Mein alter Banknachbar, der in Weißensee wohnt und mich mit dem Auto mitnahm, berichtet auf dem Rückweg, dass er den gesamten Abend Anekdoten aus der POS-Zeit ausgetauscht hätte. Und ich wiederum habe mich fast nur über unsrige heutigen Leben mit den Mitschülern unterhalten.
Am meisten hat mich die Klassenkameradin beeindruckt, deren Familie bei den Zeugen Jehovas war: Sie vollkommen unterdrückt in ihrer Kindheit und Jugend, durfte nichts, was irgendwie Spaß macht, dazu Außendruck von der Stasi. Sie konnte sich von alledem lösen, indem sie als junge Erwachsene in Berlin untertauchte und sich dort vier, fünf Jahre lang exzessiv in die innere Freiheit tanzte. Stabile Frau mit vernünftigen Ansichten – wenn du neben einer Diktatur mit ihrem zersetzenden Geheimdienst noch dem Gruppendruck einer Religionsgemeinschaft inklusive deiner Eltern standhalten musstest, weißt du, was wirklich zählt und lässt dich so schnell von keinem verarschen. Sie ist nun von Berlin in die Berge Sachsens gezogen.
Vor all den Feierlichkeiten gehe ich am frühen Morgen in Parchim im Wockersee schwimmen. Dichter Nebel auf all meinen Wegen. Der See in etwa so groß wie der Schlachtensee, das Wasser allerdings deutlich trüber; die Temperatur beträgt 9 Grad – das reicht für ein paar Minuten. Als ich mich abtrockne, kommt ein Mann zu mir, fragt, wie es war. Wir geraten ins Plaudern, stellen einander vor. Uwe, 74 Jahre, alter Metallformwerker, bis zur schweren Lungenentzündung im vergangenen Jahr einer der drei Winterschwimmer vor Ort. Nun geht er nur noch etwas im Flachen hin und her – „was natürlich kein Ersatz ist“. Zwei Angler passieren uns, grüßen. Uwe: „Am Morgen triffst du hier nur vernünftige Leute, die Idioten sieht man dann im Laufe des Tages in der Stadt.“ Vorige Woche musste er seinen Hund einschläfern lassen, hat damit noch zu kämpfen. Er erzählt, dass er an schleichender Blindheit leidet: „Wenn du mich also mal irgendwo siehst, sprich mich bitte an – ich würde dich nicht erkennen.“ Zur Verabschiedung schenkt er mir einen kleinen schrumpeligen Apfel und drückt meine Schulter. Ich kenne Mecklenburgerinnen, deren an sie gerichteten Heiratsanträge weitaus weniger herzlich waren.
Auf der Rückfahrt am Sonntag kommen mein alter Banknachbar und ich auch auf Fußballsammelbilder zu sprechen. Er hat die komplette Bundesligasaison 77/78 beisammen gehalten, und ich (Oh Wunder!) genau dafür ein leeres Album. Demnächst treffen wir uns zu einem Einklebeabend. Ich denke, wir werden dabei Springsteen hören, so wie 1984: „Well, we busted out of class / Had to get away from those fools / We learned more from a three-minute record, baby / Than we ever learned in school …“ Als wir auf der Stadtautobahn am Berliner Bären vorbeifahren, durchflutet mich mich wie immer riesige Freude – ja, meine Heimat ist nun eindeutig hier: Auf der Insel Moabit, inmitten dieser absurden Kleinstadt- und Dorfklumpung, die man gemeinhin Berlin nennt, und die zwar vieles von dem sein mag, was man sich so vorstellt, eines aber garantiert nicht ist: eine Großstadt.
Am Montag in der Schlachtenseebucht ein schönes Gespräch mit dem feinen älteren Herren, den ich dort öfter treffe, und der fragt, ob es in Ordnung wäre, wenn wir uns fortan Duzen – ist es. Manfred schwärmt mir so von seinen Neopren-Socken vor, dass ich mir nun auch welche kaufen werde. In den ersten beiden Läden waren leider gerade meine Größen ausverkauft – dann beim nächsten Mal.
Am Dienstag eine interessante neue Folge des Pandemia-Podcasts, in der es um die Bakterienart Chlamydien geht, die ein ernstes Gesundheitsproblem für Koalas darstellt. Ein Aspekt fesselt mich besonders: Koalajungtiere, von den Einheimischen „Joeys“ genannt, fressen mit etwa sechs Monaten den Kot ihrer Mutter, um deren Mikrobiom zu übertragen, das sich dann im Blinddarm ansiedelt, der bei Koalas sehr groß ist. Ein intaktes Mikrobiom ist für diese Tiere essentiell, da es die giftigen, schwer verdaulichen Eukalyptusblätter, ihre Hauptnahrung, zersetzt. Für mich spannend: Diese Technik wird zunehmend in der Humanmedizin angewendet, wobei gesunde Darmbakterien von einem Spender auf einen Patienten übertragen werden, um dessen gestörtes Mikrobiom wiederherzustellen. Der menschliche Blinddarm gilt heute auch nicht mehr wie früher als „überflüssiger Wurmfortsatz“ – es gibt sehr plausible Hinweise darauf, dass er als Rückzugsort für nützliche Darmbakterien dient. Nach Durchfallerkrankungen können sich die Mikroorganismen von dort aus erneut ansiedeln – eine Art biologisches Backup-System.
Was ist eigentlich Heimat? Die Stadt, in der ich aufgewachsen bin? Die Stadt, in der ich seit mehr als doppelt so langer Zeit lebe und in der meine eigenen Kinder aufgewachsen sind? Fragen, die ich mir stelle, als ich durch das Stadtgeschichtliche Museum Leipzig gehe.
Wobei die Frage ihren Ausgangpunkt vermutlich eher in Salman Rushdis Roman „Die satanischen Verse“ hat, in den ich gerade täglich für einige dutzend Seiten eintauche. An die Vielschichtigkeit des Buches konnte ich mich gar nicht mehr erinnern – vielleicht weil die Folgen nach dem Erscheinen für den Autor so dramatisch waren und alles andere in den Schatten gerückt haben. Beim erneuten Lesen wird mir bewusst, dass dies auch eine Geschichte der Heimatlosen ist: die nach England eingewanderten Inder, Pakistani und Bangladeshi, die englischer sein wollen als die Briten selbst und ihre alte Heimat verdrängen; die anderen Inder, Pakistani und Bangladeshi, die alles Britische ausschließen und genauso wie in ihren Herkunftsländern leben wollen; die Gläubigen, die ihre Heimat im Glauben verlieren, und die Ungläubigen, die diese Heimat im Glauben finden. Das Buch ist wie bittersüßes Konfekt – ich kann immer nur einige Seiten lesen und brauche dann eine Pause.
Buchcover der deutschsprachigen Erstausgabe im Artikel 19 Verlag, 1989
Ist Heimat dort, wo meine Sprache gesprochen, meine Traditionen gepflegt werden? An diesem Dienstag ist der 11.11. – Beginn der Karnevalssaison. Deshalb ist bei meinem Bäcker Pfannkuchentag – er verkauft allerlei verzierte und gefüllte Varianten des Gebäcks. Die Partys kommen erst noch, aber verglichen mit dem Aufwand in den Wochen rund um Halloween findet Karneval hier bei uns quasi nicht statt. Abgesehen von den Pfannkuchen. Wobei ich Leipzig, abseits vom Studentenfasching, auch nicht als Karnevalshochburg kenne.
Bald eröffnet unser Weihnachtsmarkt, der große Teile der Innenstadt umfassen wird. Oder, wie es die Stadtverwaltung in schönstem Beamtendeutsch (Kommafehler inklusive) verkündet hat: „Der Weihnachtsmarkt startet am 25. November 2025 fließend in den Tag: Ab 11 Uhr dürfen die Stände öffnen. Ab 14 Uhr haben die Stände zu öffnen. Gegen 17 Uhr gibt es eine feierliche Eröffnungszeremonie auf der Bühne am Markt bei welcher der Baum erleuchtet wird.“ Manchmal wünsche ich mir, dass auch Texter erleuchtet werden.
Damit alles rechtzeitig fertig ist, wird bereits fleißig gewerkelt. Der Weihnachtsbaum steht und ist mit Kugeln geschmückt. Die sechzig Jahre alte Fichte stammt aus Oberwiesenthal und ist 21 Meter hoch. Laut Medienberichten hätte sie ohnehin gefällt werden müssen.
Gabelstapler laden die Buden von den Tiefladern. Danach kommen die Waren und die Poller – und wenn alles fertig ist, für vier Wochen die Besucher. Die nehmen ihre schönen Erinnerungen an Glühwein und Plätzchen mit nach Hause, und all den Krimskrams, den man zum Fest verschenken will. Oder es kommt anders – deswegen die massiven Poller. Da Veranstalter die extrem hohen Kosten und Auflagen für Sicherheitsmaßnahmen nicht mehr stemmen können, werden einige Weihnachtsmärkte in Deutschland ausfallen. Auf den verbleibenden wird es oft ziemlich still sein, weil die GEMA horrende Gebühren für das Abspielen von Weihnachtsliedern verlangt.
Im Stadtgeschichtlichen Museum erfreue ich mich an der Amtskette des Oberbürgermeisters. Auf der ist das Stadtwappentier noch in der alten Form zu sehen. Muss die Kette jetzt entsorgt werden oder reicht es, das Bild des Strichlöwen vom neuen Logo aufzukleben? Historische Dokumente und Exponate zeigen die Entwicklung des Wappens – keine Veränderung war so brutal wie die aktuelle.
Und dann wird mir bewusst, dass mir diese Löwenposse egal ist. Denn Leipzig ist zwar der Ort, an dem ich lebe, aber meine Heimat ist das weite, leere Mecklenburg – mit seinen knorrigen Menschen, den verschlafenen Kleinstädten und halb ausgestorbenen Dörfern, mit der rauen, sommerkalten Ostsee und den verträumten Seen.
Goldgelb leuchtete der Herbst durch mein Fenster. Das Mittagessen war fertig, der Entsafter bestückt, der Dörrapparat lief auch schon. Während dieser Arbeiten hatte mir „Frau Bergmann“ amüsante und gute Haushalttipps gegeben. Die Kuchenrezepte der „Online-Omi“ (gelesen von Carmen-Maja Antoni), die ich nebenbei aufgeschrieben hatte, würde ich später ordentlich in mein Kochbuch übertragen. Das ist zwar doppelte Arbeit, aber so bleibt mein Rezeptbuch sauber. Mein Blick fiel auf einen Spruch an unserer Küchenpinnwand: „Die Arbeit läuft Dir nicht davon, während Du Deinem Kind den Regenbogen zeigst, aber der Regenbogen wartet nicht.“ Mit dem Wetter ist es zur Zeit ähnlich – es zog mich in die Sonne, ich wollte mit unserem Besucherhund Ilex eine große Runde drehen. Endlich kam mein Mann von der Arbeit und ich drängelte, dass wir losgehen.
Der Besucherhund gehört unserer Tochter und es macht Freude, mit ihm entspannt über die Felder zu streifen. Unser eigener Pico-Rüpel könnte sich vom Gast ruhig eine Scheibe abschneiden – neulich musste ich ihm tatsächlich ins Ohr beißen, um hoffentlich ein für alle Male die Rangordnung zu klären. Nein, es floss kein Blut, trotzdem möchte ich nicht wieder in so eine Situation geraten. Aber Pico ist noch jung und mein Mann wird ihm alles Erforderliche beibringen.
Mein Mann ging mit Pico in den Wald und ich mit Ilex zu den Feldern. Auf dem Weg überflogen uns laut rufende Wildgänse. Es ist schon wieder Sammelzeit – dabei kommt es mir so vor, als ob sie gerade erst bei uns in der Lewitz eingetoffen sind! Bald werden sie zu ihrem langen Flug in den warmen Süden aufbrechen. Später sahen wir noch einem weiteren großen Vogelschwarm. Leider konnte ich nicht erkennen, um was für Vögel es sich handelt, doch es war einfach schön, dieses Schauspiel der Freiheit am Himmel zu erleben.
Für uns ging es weiter zu den Sieben Steinen. Laut einer Sage sollen dort einst sieben Knaben Pferde gehütet haben. Als sechs von ihnen mit Essen spielten und die göttliche Warnung missachteten, schnell fortzulaufen und sich dabei auf keinen Fall umzudrehen, wurden sie in Steine verwandelt. Der siebte hatte sich zwar an die Anweisung gehalten, dann aber zurückgeschaut, um zu sehen, was mit seinen Kameraden geschieht, so wurde auch er verwandelt. Deshalb liegen sechs Steine beieinander und der siebte etwas abseits von ihnen. Früher war ich mit meinen Kindern hier ab und zu picknicken. Wir haben dabei immer die Steine gesucht, die damals fast im Erdreich verschwunden waren. Inzwischen hat der Spornitzer Heimatverein das kleine Gelände für Besucher attraktiv hergerichtet. Noch eine Wasserpause für Ilex und mich, dann ging es über das nächste Feld zu meiner Eiche, meinem Kraftbaum. In vergangenen Sommern saß ich dort so manches Mal mit einem Buch in seinem Schatten.
Am Waldrand erwachte Ilex‘ Jagdtrieb, so dass ich zu tun hatte, ihn auf dem Weg zu halten. Nebenbei entdeckte ich einen leuchtenden Fliegenpilz. Einfach schön, wie er so da stand. Vorsichtig bugsierte ich Ilex mit seiner zwanzig Meter langen Leine daran vorbei.
Nachdem uns Pilzsammler mit Braunkappen und Maronen in ihren Körben begegneten, kam schon das Dorf in Sicht – meine Heimat! Mir fiel das Lied„Unsere Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer“ ein. Wieviele Menschen mag es noch geben, die es kennen? Warum wird es nicht mehr in der Schule gelehrt? Dann waren wir wieder daheim – Ilex ausgetobt und ich mit Kaffeedurst und neuer Energie. Kaum waren wir zurück, stellte sich heraus, dass es richtig war, anfangs zu drängeln – die Sonne verschwand gerade hinter einer dichten Regenwolkenwand.
Großes Thema in der Familie und im Ort ist das neue Logo der Stadt Leipzig. Die Kommune wollte sich ein modernes Corporate Design geben und dazu auch das Logo anpassen lassen. Über 700.000 Euro sollen in die Renovierung geflossen sein. Das Ergebnis, ein fraktales Strichmännchen, das aussieht wie ein Boxer mit Kopfschutz und Schwanz, gefällt niemandem. Es gibt bereits eine Petition, welche die Rückkehr zum alten Logo fordert.
Als Werbemensch kann ich den Antrieb des Stadtmarketings verstehen – blau und gelb sind wirklich nicht unbedingt moderne und ansprechende Farben. Sie lassen beim Gestalten von Websites und Flyern nicht viel Spielraum. Den detailreichen Löwen, der seit dem 15. Jahrhundert das Wappen prägt, vereinfachen zu wollen, kann ich auch verstehen. Bei Logos gilt schließlich der Grundsatz – man muss es auch verkleinern können, ohne dass es verschmiert oder unkenntlich wird (z.B. für Visitenkarten oder Social Media).
Quelle: tagesschau.de
Das jetzige Ergebnis lässt sich meiner Erfahrung nach am besten damit erklären, dass eine große Arbeitsgruppe auf Seiten der Stadt involviert war. Und jeder wollte etwas Anderes – der Bürgermeister möglicherweise das hässliche Gelb loswerden, der Marketingchef die blauen Linien behalten. Der Gleichstellungsbeauftragte forderte vielleicht barrierefreie dicke Linien, der Tierschutz die Entfernung des Löwen, denn schließlich seien Raubtierdressuren ja auch im Zirkus längst verboten. Was macht man als Agentur in so einem Fall? Man verwässert einen Entwurf solange, bis alle Parteien unzufrieden sind. Wenn jeder meckert, hat keiner gewonnen – übrig bleibt ein Löwe, der aussieht, als wäre er aus Büroklammern gebogen.
Hässlichkeit ist ein Merkmal unserer Zeit, darum jetzt zu etwas Schönem: Das Ergebnis eines Lächelns ist ein Lächeln. Ein kurzes grüßendes Kopfnicken, ein mit einem Lächeln angedeutetes „Guten Morgen“ oder die unter Läufern als Geste des Respekts erhobenen zwei Finger der linken Hand – all das zaubert auf mürrische graue Gesichter ein farbiges Lächeln. Und das ist das Beste, was einem an einem kalten trüben Novembertag passieren kann.
Nachdem ich jüngst mit fehlender Motivation, kraftlosen Beinen und mangelnder Ausdauer zu kämpfen hatte, entscheide ich mich gegen meine Standardstrecke. Es ist kalt, nur knapp über null Grad. Ich fahre mit dem Rad die zwei Kilometer bis zum Auenwald und starte dort meinen Lauf. Vielleicht ist es tatsächlich die andere Umgebung (gänzlich neu ist sie mir natürlich auch nicht), die mich beflügelt – am Ende werden es 13,3 Kilometer, ohne dass es mich erschöpft.
Auf dem Elsterflutbett sind die Einerkanuten unterwegs, die meisten haben Handschuhe an, so wie ich auch. Ein paar Radfahrer kreuzen meinen Weg, einige Menschen mit Hund, Familien mit Baby im Kinderwagen oder am Tragebeutel vor der Brust. Eine Meise hüpft über dürre Zweige, eine Maus oder ein ähnlich kleiner Nager raschelt im Laub. Eine Motorsäge knurrt – jetzt wo alles verblüht ist, wird wieder Feuerholz aus dem Wald geholt.
Nunmehr sind es bei uns fast fünf Tage ohne Regen, davon drei vergleichsweise warme. Das hat die Waldwege merklich trockner werden lassen. Die noch feuchten und rutschigen Stellen sind mit einer dicken Schicht Laub bedeckt, so dass man nicht mehr ins Schlittern gerät. Auf den Bächen und Flussläufen im Auenwald liegt regungslos ein Laubteppich, der das das Auge narrt, in dem er einen begehbaren Weg vorgaukelt. Manchmal wirft ein Windstoß gelbrote Blätter von den Bäumen, die dann wie übergroße Schneeflocken sacht zu Boden schweben. Es läuft sich vielversprechend, meine Zeit pro Kilometer liegt endlich wieder deutlich unter sechs Minuten. Ich renne bis zum Nordufer des Cospudener Sees, folge dem See eine Weile und kehre dann über eine alternative Route zurück. Kurz liebäugele ich mit einem Halbmarathon, will es dann aber nicht übertreiben. Der Körper sagt mir nach dem etwa 75-minütigen Lauf, dass es ihm gut geht, es für heute jedoch reicht. Es kommen noch andere Tage und andere Läufe.
In meinem letzten Beitrag über die Osterluzei haben wir das Thema Neophyten bereits kurz gestriffen – das soll heute vertieft werden.
Von den Botanikern werden die heimischen Pflanzen nach ihrer Einwanderungs- bzw. Einführungszeit in drei Typen eingeteilt:
Die ältesten Pflanzen unserer mitteleuropäischen Flora sind die Oikophyten. Sie wurden hier unabhängig vom Menschen heimisch, meist vor der Jungsteinzeit, die etwa 5800 bis 4000 v. Chr. begann.
Archäophyten hingegen gelangten durch den Menschen in neue Gebiete. Dies geschah in vor- oder frühgeschichtlicher Zeit, vor allem zwischen dem Ende der Jungsteinzeit, in Norddeutschland um 2200 v. Chr., und 1500 n. Chr. Oft wurden diese Arten unbeabsichtigt mit Saatgut oder Handelswaren in neue Gebiete eingeschleppt und konnten sich dort dauerhaft etablieren.
Besonders interessant für uns heute sind die Neophyten (griech. néos = neu, phytón = Pflanze). Darunter versteht man Arten, die nach 1492 absichtlich oder unabsichtlich in Gebiete gelangten, in denen sie zuvor natürlicherweise nicht heimisch waren. In vielen Fällen ist sogar das genaue Jahr ihres ersten Auftretens bekannt. Die zeitliche Grenze orientiert sich an der Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus, bezieht sich jedoch nicht ausschließlich auf Pflanzen, die aus Amerika eingeführt oder eingeschleppt wurden.
Man muss davon ausgehen, dass bereits im Mittelalter (ca. 500–1500 n. Chr.) durch den Fernhandel über Land und Meer – man denke nur an die Hanse – mit importierten Waren oder Schiffsballast Pflanzensippen in Mecklenburg eingeschleppt wurden. Darüber wissen wir allerdings kaum etwas, da die botanisch-floristische Forschung in unserer Region erst um 1760 bis 1770 einsetzte.
Roteiche (Quercus rubra)
Im Altkreis Lübz ist ungefähr jede zehnte Pflanze ein Neophyt, in Mecklenburg-Vorpommern sogar mehr als jede dritte. Zwangsläufig stellt sich die Frage, wie diese neuen Arten zu uns gelangten. In vielen Fällen wurden sie gezielt als Kulturpflanzen eingeführt – etwa Kartoffel, Mais, Robinie oder Roteiche. Häufig erfolgte die Verbreitung jedoch unbeabsichtigt, beispielsweise durch die Verschleppung mit anderen Gewächsen oder deren Saatgut.
Darüber hinaus breiten sich Arten aktiv entlang von Verkehrswegen wie Flüssen, Kanälen, Straßen oder Eisenbahngleisen aus. Typische Vertreter sind Pestwurz, Bahndamm-Ampfer oder Kali-Salzkraut. Auch Häfen, und da insbesondere Seehäfen, sowie Güterbahnhöfe dienen als „Einfallstore“: So wurde 1938 auf dem Lübzer Bahnhof erstmals die Punkt-Strauchpappel für Mecklenburg nachgewiesen und 1957 auf dem Lübzer Hafen an der Elde-Müritz-Wasserstraße die Schönmalve. An Silos, Schweineställen und auf dem Gelände von Mischfutterwerken fanden sich aus Amerika stammende Arten, die als Begleiter von Futtermitteln hierher gelangten.
Kommen wir nun zu den Pflanzen, die sich entlang der Flussläufe angesiedelt haben. Es gibt bei uns kaum ein Gewässer, in dem die ursprünglich aus Nordamerika stammende Kanadische Wasserpest nicht vorkommt. 1864 erfolgte der Erstnachweis bei Dömitz an der Elbe, ein weiterer 1867 an der Müritz bei Sembzin, elf Jahre später wurde sie nahe der 50 Kilometer entfernten Stadt Parchim entdeckt. In ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet hat die Pflanze männliche und weibliche Exemplare. In Europa kommen jedoch nur weibliche vor, da männliche nie erfolgreich eingeführt wurden oder sich nicht halten konnten. Daher erfolgt keine Vermehrung über Blüten und Samen – die Art breitet sich bei uns ausschließlich ungeschlechtlich (vegetativ) durch abgelöste Triebstücke aus.
Ab ca. 1960 erfolgte im Bezirk Schwerin der Anbau von Perserklee und Alexandriner Klee als einjährige Sommerfutterpflanze. Das Saatgut kam aus dem Iran und Pakistan und brachte mediterrane und vorderasiatische Kräuter als Neophyten mit. In einer Ansaat bei Dobbertin erfolgte 1980 der lokale Erstnachweis der Blasenmiere, deren Heimat von Westasien bis zum Himalaja reicht. Das Exemplar war fast ein Meter hoch, stark verzweigt und üppig blühend!
Mitte der siebziger Jahre entstanden in der DDR in verschiedenen Bezirken offene Schweinemastanlagen, die häufig in Wäldern errichtet wurden. Nach ihrer Auflassung entdeckten Botaniker an diesen Standorten Pflanzen, die zuvor in Deutschland entweder gar nicht oder nur sehr selten nachgewiesen worden waren.
Im Revier Gostorf bei Grevesmühlen dominierten bis zu drei Meter hohe Gänsefußarten – landläufig werden diese meist als Melde bezeichnet. Die Herkunft liegt in Teilen Südamerikas und im Süden der USA; in vielen Fällen sind sie giftig. Entlang von Chaussen und Bahndämmen hat sich in den letzten vier Jahrzehnten der Rispen-Sauerampfer verbreitet – nicht von ungefähr wird er „Bahndamm-Ampfer“ genannt. Die Wehrlose Trespe, ein haferähnliches Gras von bis zu neunzig Zentimeter Höhe, ist dort ebenso zu finden.
Salsola kali – aus: „Flora Patagónica“, Instituto Nacional de Tecnología Agropecuaria, Buenos Aires, 1984
Entlang der Bahnstrecken zur Kali-Kippanlage im Hafen Wismar, die in den Jahren 1951 bis 1974 betrieben wurde, konnte sich das Kali-Salzkraut ansiedeln. Beim täglichen Transport des Kalidüngers gelangten immer wieder geringe Mengen Salz vom Ladegut auf die Puffer, Vorsprünge und den Bahnkörper, von wo aus es sich in der Umgebung verbreitete. So entstanden Vorzugstandorte für diese salzliebende Art, die sich an manchen Stellen zu Optimalstandorten entwickelten. Die natürliche Heimat des Kali-Salzkrauts sind die salzhaltigen Steppenböden Asiens und Südosteuropas. Auf gleiche Weise hat sich der Zurückgebogene Fuchsschwanz im Gebiet des heutigen Mecklenburg-Vorpommern ausgebreitet. Aus Nordamerika stammend, tritt er seit etwa 1970 zunehmend als sogenanntes Unkraut in Hackfruchtkulturen auf. Seine Herbizidresistenz sorgte dafür, dass er sich trotz chemischer Bekämpfung behaupten konnte.
Handkolorierter Kupferstich aus Elizabeth Blackwells „A Curious Herbal“, London 1737 und 1739.
Bekannte Neophyten in Deutschland sind unter anderem:
Aktuellen Erhebungen der EU zufolge gibt es in Europa ungefähr 12.000 gebietsfremde Arten, von denen etwa 2.000 als invasiv gelten – das heißt, dass sie potenziell nachteilige Auswirkungen auf einheimische Pflanzen, Lebensräume oder Ökosysteme haben.
Über drei Jahrhunderte hinweg haben sich Mecklenburger Botaniker leidenschaftlich mit Neophyten befasst, so z.B. Dr. Heinz Henker aus Neukloster, dessen Verdienste auf diesem Gebiet nicht hoch genug zu schätzen sind. Ebenso zu nennen ist der Lehrer Walter Dahnke aus Parchim, dem wir wertvolle Notizen über die Franzosenkräuter und vieles andere mehr verdanken.
Die zugrundeliegende sowie weiterführende Literatur und andere Quellen können gern beim Autor angefragt werden. (botaniktrommel@posteo.de)
Waren Zigarettenautomaten früher einfach nur Blechkästen mit Auswahlfeldern für die verschiedenen Marken und einer Warnung für Minderjährige, so sind sie heute um Aufmerksamkeit buhlende Litfaßsäulen – vielfach überklebt und überkritzelt mit Werbung für Events, Musikgruppen, den Lieblingsverein, weltanschauliche Orientierungen … aber ja, Zigaretten gibt es auch noch.
Vogelgrippe hin oder her – ich sehe in der Leipziger Innenstadt zur Zeit sehr viele Krähen. Während in den Vorjahren an Hitchcock erinnernde düstere Schwärme, einem unsichtbaren Dirigenten folgend, Muster in den Himmel webten, so sind es in diesem Herbst Einzelgänger, die wie Securityleute die Straßen auf und ab patrouillieren. Andere hocken auf Laternen und sondieren die Lage wie Scharfschützen bei einem Staatsbesuch. Nicht zu vergessen jene, die wie Drohnen über uns kreisen und darauf hoffen, dass wir etwas Fressbares fallen lassen.
Der Donnerstag ist der dritte sonnige Tag in Folge. Das belebt die Seele und beflügelt den Geist, so dass ich eine Runde laufen gehe. (Der Ausdruck bringt mich im Deutschen wie im Englischen immer zum Schmunzeln: ich gehe laufen, ich gehe schwimmen, ich gehe radfahren …) Das Joggen fiel mir zuletzt unerwarteterweise wieder schwerer, so dass es nur 6,5-Kilometer durch den Wald werden. Da es nicht so aussieht, als würde die dortige Bodennässe vor dem nächsten Frühjahr weichen, ist es nun wohl wirklich an der Zeit, die unbefestigten Wege zu meiden und auf Asphalt auszuweichen.
Besser als das Joggen funktioniert momentan das Radfahren. Am Dienstagabend machte ich eine Sonnenuntergangstour um den Cospudener und Markkleeberger See. Die frühen Abendstunden im Herbst (wobei, was heißt früh, wenn es ab 17 Uhr bereits finster wird) haben den Vorteil, dass kaum Menschen unterwegs sind – einige eher langsame Radfahrer auf dem Heimweg, ein paar Schnellfahrer wie ich, die Gassigeher und natürlich die Läufer.
Ich selbst laufe im Dunkeln nur ungern auf Wald- und Wanderwegen, weil ich unbeleuchtete Strecken ohne Licht meide, aber auch kein Freund von Stirnlampen bin. Bei dieser Tour habe ich festgestellt, dass Jogger für Radfahrer unangenehm sind – entweder haben sie keine Stirnleuchte, dann sieht man sie in ihrer dunklen Kleidung erst sehr spät, oder sie haben sich zwar eine Lampe an den Kopf geschnallt, die jedoch so heftig blendet, dass man sie ebenfalls nicht sieht, sondern blinzelnd in eine sich nähernde Supernova fährt.
Am Donnerstag entscheide ich mich für eine Fahrt zum Schladitzer See. Weil dieser am entgegengesetzten Ende der Stadt liegt, muss ich mich durch den ampelreichen Verkehr, vorbei an Baustellen und über mit Fußgängern geteilte holprige Rad- und Gehwege nach Norden quälen. Ist man erst einmal raus aus der Stadt, wird es dafür wunderschön einsam. Der See gehört den Wasservögeln.
Ich verlängere die Tour spontan bis nach Schkeuditz – und komme so nach Rückmarsdorf. Das ist eine jener Gemeinden, denen es dank großer Gewerbeparks und den entsprechenden Steuereinnahmen besser als dem Durchschnitt geht. Ich kreuze die A9 und fahre zwischen dem Porsche-Werk und dem DHL Hub am Flughafen weiter. Schkeuditz hatte ich bislang nur einmal durchquert, als ich wegen eines Schienenersatzverkehrs mit dem Rad von Halle nach Leipzig fahren musste. Auch dieses Mal reicht es nicht für einen längeren Halt – es gibt nur einen kurzen Stopp, um auf der Navigationsapp den besten Weg durch die Stadt zu finden.
Von Schkeuditz aus geht es durch die Auenlandschaft zur Neuen Luppe und dann immer am Fluss entlang nach Leipzig zurück. Reiher stehen am Ufer und inspizieren das Nahrungsangebot. Kleine Jagdvögel kreisen über dem Wasser und den Wiesen auf der Suche nach einem Fisch oder einer Maus. Eine Schwanenfamilie, drei Kinder noch im grauen Jungtiermantel, ist vom Schilf halb verdeckt. Es sind kaum Menschen unterwegs. Ein Mann mit einer Schafherde, entpuppt sich beim Näherkommen als ein Mann mit einem Rudel Hunde – sieben Tiere, etwa so groß wie Schafe, langes Fell in verschiedenen Farben, die erwartungsfroh auf die Leckerli-Tüte starren, die er in der Hand hält. Zunächst denke ich, dass es ein Hundesitter ist, doch dafür sind sich die Tiere, abgesehen von der Fellfarbe, zu ähnlich. Vielleicht ein Züchter? Ich habe nicht gefragt und werde es deshalb nie erfahren.
Gut zwei Stunden und knapp 50 Kilometer später bin ich hungrig, aber erfüllt von Sonne und Wind wieder zuhause – wo ich mir erst einmal zwei große Schalen Linsensuppe gönne. Am Abend steht dann wieder eine Runde „Flöhe hüten“ an – Fußballtraining mit den 7- bis 9-Jährigen, donnerstags immer in der Turnhalle. Das ist immer laut und chaotisch, erfüllt mich aber mit Freude.
So war die Woche: Der letzte Donnerstag im Oktober sonnig mit frischem Wind. Beim Dorfuhrmacher, der sein Handwerk versteht, neue Batterien für die Uhren der Töchter besorgt. Smartwatches verhageln das Geschäft mit der Jugend. Weitere Vorbereitungen auf Halloween – im großen Kürbis heult nun ein ausgeschnitzer Wolf. Überall wird Kunstblut verkauft, Spinnweben sind der Deko-Renner. Geglückte Restauration meines guten alten Micron-Elektrorasierers.
Der Freitag startet mit 2 Grad, Raureif und Windstille. Das Radio meldet, dass wegen der Vogelgrippe in Deutschland bereits eine halbe Million Tiere „gekeult“ wurden. So langsam verschwindet das Thema aber aus den Medien. Am Kassenband ist der Kunde nun wieder König – das neue Geld wurde überwiesen. Im ganzen Dorf Kostümierte unterwegs, auch meine bald (Sonntag!) Dreizehnjährige mit ihren Freundinnen – kleine Spinnwebparty auf dem Hof einer Grundschulkameradin. Milde Wetterlage – das ist gut für den Fun. Meine Frau ist auch dabei – bei ihr ist eine Verkleidung nicht nötig, wurde gesagt. Der Mann und der Sohn hüten das Haus und machen den Ofen an. Teemischung und das „Cellokonzert“ von Saint‑Saëns mit dem großen Heinrich Schiff. Was mir beim Lesen von Nikolai Gogols „Taras Bulba“ auffällt, ist die allgegenwärtige Bereitschaft zur Gewalt – fast schon die Suche nach einem Anlass, um kämpfen und siegen zu können. Wir hören so etwas dann „plötzlich“ aus dem Sudan – nachdem sich in Gaza die Lage etwas beruhigt hat, wird mit anderem Entsetzen Clicks generiert. Halloweenbeute der Jüngsten: 1,5 Kilo Schokolade – natürlich ist das meiste darin billigster Zucker.
Der November beginnt mit einem feinen Sencha und einem Alpen-Müsli-Porridge mit Walnüssen und Mandeln. Wenn die gestiegenen Kakaopreise nun auch bei der SZ ankommen sind, hats vermutlich auch der Letzte mitbekommen. Kakao war immer Luxus – die meiste Schokolade verdient ihren Namen nicht. Das graukalte Wetter ist in Nieselregen gekippt. Ich begnüge mich mit einem zweistündigen Spaziergang durch die Felder. Leider tragen die zwei Zielapfelbäume in diesem Jahr keine Früchte. Aus dem Küchenfenster entdecke ich eine kleine Tannenmeise. Weil Allerheiligen in Hessen kein Feiertag ist, in Rheinland-Pfalz dagegen schon, setzt ein entsprechender Autozustrom aus den vom Konsum abgeschnittenen Regionen ein. Der Sohn bereitet sich auf das Dorfduell vor – Spiel ohne Grenzen ist vermutlich das Vorbild. Bier ohne Grenzen wird es auf jeden Fall geben. Er freut sich – ich muss lächeln. Sehr gute Folge Lanz & Precht mit einer kompakten Zusammenfassung der US-Operationen in Venezuela – wie Precht sagt: Öl kann man nie genug haben. Am sehr frühen Abend völlige Dunkelheit. Der Regen hat nun aufgehört.
Die Götter haben gesprochen: Das Oberdorf hat am Vorabend die Talentshow gegen das Unterdorf gewonnen. Mein Sohn war mit seinen Fußballlern dabei – es geht ihm am Morgen den Umständen entsprechend (FaKo = Fanta-Korn). Aus dem völlig verregneten Samstag ist ein mildwolkiger Sonntag geworden. Mit der Jüngsten, die heute ihren 13. feiert, begeben wir uns die Wiesen hinauf. Wir bewegen uns über Basalt und blicken auf das junge Schiefergebirge, das Taunus heißt. (Ich halte geologische Vorträge.) Pferde grasen, Radfahrer kreuzen unsere Wege. Unten wartet eine hausgemachte Kürbis-Ingwersuppe auf uns. Am Abend gehts zum Sushifestessen in ein Lokal namens Rubi. Da weiterhin alle über Magen-, Kopf- oder Müdigkeitssymptome klagen, wird es ein ruhiger Tag. Auch schön. Meine jüngeren Kinder sagen ganz offen, dass sie nicht in einer Stadt leben möchten. Ich sehe ja, wie ihnen beim Anblick der Hügel und Wälder das Herz aufgeht. So wie mir. Und die nächste Stadt ist ja nur eine Stunde entfernt. Ich glaube, auch da hat das Weltnetz für eine innere Annäherung gesorgt, die es in den Generationen zuvor nicht gab. Die Stadt ist einem in ihren Angeboten und Lebensformen nicht fremd – sie verspricht aber heute kein besseres Leben mehr.
Kalter Montagmorgen bei 2 Grad, noch alles feucht vom Nachtregen. Unser nun einziger Hase liebt Paprika – aber nur den roten Teil, die Stengel bleiben liegen. Die Dreizehnjährige trägt ihre neuen Sachen – im Auto pralle Altkleidersäcke. Am Nachmittag intensive Bruch- und Prozentrechnen mit ihr. Dabei hören wir die Haydn-Quartette.
Ein ausgesprochen schöner Dienstagmorgen – streifige Wolken, kleine Nebelbänke, Starenschwärme, die den Hahn okkupieren. Ich muss mit dem Familienvan einen ausgefallenen Bus ersetzen – wir schaffen es rechtzeitig in den Nachbarort zur Regionalbahn. Alle sind versorgt, die Sonne bricht durch. Ein ehemaliger Biologielehrer von mir meldet sich per Mail und hängt Aktionspläne rund um den „Hambi“ an (das ist der Hambacher Forst). Er lebt dort in der Nähe und möchte mithelfen, einen Teil der Protestkultur vor Ort lebendig zu halten. Ich weiß absolut nicht, wie ich darauf antworten soll – es ist ja gut, wenn die Braunkohlebagger nicht mehr weiterfressen, die Energie wird trotzdem irgendwo herkommen müssen. Ich überlege, ihn zu besuchen. Müsste inzwischen ein weit über achtzigjähriger Mann sein – Grüner der allersersten Stunde, Botaniker und Zoologe.
Weiter in den Mozart-Klavierkonzerten mit Mitsuko Uchida. Zarter Anschlag, aber klar und nicht zu brillant. Ein exzellentes Timing mit treffenden, nicht effektvoll ausgekosteten Tempovariationen. Luft und Heiterkeit. Die langsamen Passagen (wie im fast totgespielten KV 488) wie bei einem Kind, das ganz in sein Spiel vertieft ist. Das ist etwas völlig anderes als ein sentimentaler Erwachsener, der gern wieder Kind wäre. Danach aufs Rad. An der Landstraße Übergabe eines italienischen Rahmens aus dem Jahr 1990. Trainingsrunde auf der Bahnstraße, die immer dichter mit Blättern bedeckt ist. Macht nix. An der Rasthütte eingeritzete Wörter, die ich nicht deuten kann.
Bringe die Jüngste nach Westerburg zum Ballett. Zufriedenes Kind, ich langweile mich im Kaufland. Die Bandbreite der Zeitungen ist gering, deren Inhalte sind vorhersehbar. Im Landwirtschaftsblatt ist die Maissaat ein größeres Thema als die Vogelgrippe. Bio-Milch wird zwischen 55 und 62 Cent abgekauft, muss aber 4% Fett haben. Alle Preise recht stabil, die Saisonverläufe normal. Nirgends Inflation. Zum Abend die aufgewärmte, mit Kartoffeln verdickte und Babysalat getunte Suppe vom Geburtstag. Für den trainierenden Jungen eine Portion Mittagsbolognese. Um 17 Uhr geht ein großer Vollmond auf.
Mittwochfrüh null Grad. Der Mond hat nachts das gesamte Haus umkreist, gegen sechs steht er noch hoch auf der Gegenseite. Um sieben verscheuchen wir Hasen-Ranger die norwegische Waldkatze, die sich hinter unserem Holzstapel einrichten will. Sie soll wissen, dass das hier für sie No-go-area ist. Eine milde Sonne leckt in Richtung der Dächer den Reif fort. Nach einer halben Grapefruit Besorgungen. Sehr frisch draußen, aber schön. Vom Trödler die „Brandenburgische Konzerte“ mit Il Giardino Armonico, 1997 von der Teldec aufgenommen. Ein fabelhaftes Kammerensemble – alles wirkt spontan, rhythmisch wechselvoll, farbig – nicht dieser ratternde Speed-Bach vom Großorchester. Zuhause in der Post dann eine CD des rumänischen Pianisten Radu Lupu und die Janacek-Quartette mit dem Talich Ensemble. Ein schöner Musikabend, und vorher auf dem Rad wars auch fein.
Das Grauen kommt in Wellen. Heute ist es besonders grau. Aus grauen Wolken fällt grauer Regen auf graue Straßen. Graue Autos peitschen durch graue Pfützen und schleudern graues Wasser auf graue Bordsteine. Ungeduldig preschen graue Radfahrer vorbei.
Wo eben noch ein Auto stand und den brüchigen Asphalt vor dem Regen verbarg, sticht nun helles Grau auf dunkelgrauem Belag hervor. Mit Kapuzen verhüllt oder beschirmt eilen graue Menschen zu Haltestellen, in denen andere graue Menschen kauernd Schutz gesucht haben. Graue Busse, an deren Flanken Spritzwasser bizarre Formen in den grauen Dreck gemalt hat, sammeln sie dort ein.
Graue Wolken spiegeln sich in grauen Pfützen, graue Tropfen perlen zwischen grauen Blättern auf grauem Fahrzeuglack. An einem Schaufenster wird per Hand darauf verwiesen, dass das Geschäft dahinter geschlossen ist – da lief der SALE wohl nicht so SUPER.
Ein grau besprühter Imbisswagen in einer Lücke, die mal vor dem Krieg oder vor der Wende ein Haus war, rottet auf grauen Blättern vor sich hin. Graffiti machen graue Wände nicht lebendig. Graue Menschen werden nicht bunter, wenn sie eine Haltung zeigende regenbogenfarbene Tasche tragen.
Ein trunkener Streuner mit zottigem Bart, in graue plumpe Gewänder gehüllt, taumelt über den Bürgersteig und dirigiert mit beiden Armen ein Orchester, das nur er hört. Rattengesichtige Hunde in grauen Leibchen zerren an ihren Leinen und imitieren das Bellen des Wolfs. Überall Dreck – achtlos fallengelassen und vom Wind aus überfüllten Papierkörben in die grauen Grasstreifen geweht. Mir graut es.
Welch Frevel! Plötzlich bricht der graue Himmel auf und die Sonne schiebt sich durch die grauen Wolken. Der Regen wird allmählich schwächer und tröpfelt wenig später ganz aus. Gegen das Restgrau in meinem Herzen hilft meine Geheimwaffe: Eine Butterbrezel mit einer großen Tasse Kaffee, dazu zwei weitere Kapitel in Prechts Abhandlung zu philosophischen Grundfragen der Menschheit.
Zuletzt war wieder alles dabei: Schwimmen im Nebel und Regen, bei Wind und absolute Windstille. Mal war es mild, mal schneidig kalt, mal wärmten die ersten Sonnenstrahlen des Tages sogar noch ein wenig. Fast jeden Tag spektakuläre Sonnenaufgänge, dazu tolle Wolkenbilder. Die Toiletten-Firma hat auf Wintermodus umgestellt und am 1. November ihre Container am Uferweg verschlossen – und das genau vier Wochen später als ausgewiesen = ein Bonusmonat.
Die Wassertemperatur im Schlachtensee betrug am 1. September 21 Grad, am 1. Oktober 16 und am 1. November 10 Grad. Am schwersten fiel mir der Übergang von 16 auf 14 Grad, den Unterschied zwischen 14 und 10 Grad merke ich nicht. Momentan bin ich für einhundert Schwimmzüge und ein wenig Rückengleiten im Wasser, insgesamt etwa dreieinhalb Minuten. Meine Maßnahmen gegen das Auskühlen nach dem Herauskommen sind: hurtiges Abtrocknen und Anziehen (Schichtprinzip, Thermosocken und Wollmütze), Gymnastik sowie heißer Tee und anschließend ein zügiger Dreiviertelstundenmarsch zur S-Bahn. Noch funktioniert das prima – die Lufttemperatur beträgt morgens um die sieben Grad. Die Zahl der Mitschwimmer ist bei ungefähr 16 Grad noch einmal merklich geschrumpft – mal sehen, ab wann nur die Hardcore-Winterschwimmer und Eisbader übrig sind.
Bei den Wasservögeln keine signifikanten Entwicklungen – lediglich für die Mandarinerpel hat sich durch die Verfärbung der Blätter etwas geändert: Wenn sie auf Laubbäumen sitzen, sind perfekt getarnt und somit eindeutig Nutznießer des Chlorophyllabbaus.
Die Ärztezeitung berichtet über eine aktuelle Studie, die einen Zusammenhang zwischen dem Verzehr von mit E.-coli-Bakterien belastetem Fleisch und Harnwegsinfektionen aufzeigt. Doch nicht nur der Harntrakt kann betroffen sein – manche E.-coli-Varianten können blutigen Durchfall, Blutvergiftungen oder Entzündungen der Nieren, Lunge und Hirnhäuten auslösen. Wenn man etwas tiefer in die Materie taucht, wird es noch düsterer: Andere Studien wiesen in Fleischprodukten häufig antibiotikaunempfindliche Stämme nach – wobei in Spanien etwa 40 % der Proben betroffen waren, in Irland bei Hähnchen fast 99 %, bei Schweinen 32,5 %, bei Rindern 14 %. E. coli-Bakterien sind zunehmend multiresistent gegen Antibiotika, das heißt, Infektionen durch diese Bakterien lassen sich nur noch schwer oder gar nicht mehr behandeln. Die Deutsche Gesellschaft für Urologie hat darauf reagiert und empfiehlt in ihrer S3-Leitlinie zur Therapie unkomplizierter Harnwegsinfektionen den Einsatz von Meerrettich und Kapuzinerkresse – deren Senföle zeigen eine hohe Wirksamkeit gegen E.-coli-Bakterien. Zurück zu den Wurzeln.
Während wir uns zu zweit beim Tischtennis warmspielen, tritt ein uns unbekannter Mann an die Platte und fragt, ob er für zwanzig Minuten mitspielen könne, bevor er weiter zur Arbeit müsse. Klar – wir machen zu dritt weiter. Mein alter Mitspieler bittet mich, ihm nochmal den Namen des „tollen, sehr gesunden Tees“ zu nennen, den ich einmal erwähnt hatte. Icke: „Das ist Moringa.“ Mitspieler: „Davon hab ich wirklich noch nie woanders etwas gehört.“ Daraufhin der Neue: „Oh, Moringa ist total bekannt! In meiner Heimat kochen wir viel damit.“ Ich frage, woher er ursprünglich kommt. „Südindien. Da wachsen viele Moringabäume. Es gibt sogar ein Reinigungsritual mit Moringa.“ Da wirds doch interessant – der Ball ruht. Der Inder berichtet weiter, wie die Blätter, Schoten, Samen, Blüten, Rinde und Wurzeln verwendet werden und erzählt, dass er einmal im Monat in dem Nachbarschaftshaus, wo wir gerade spielen, indisch kocht – wenn wir mal kommen wollen und ihm vorher ne Mail schicken, würde er dann extra etwas mit Moringa machen. Sehr sympathischer Typ. Moringa oleifera gilt aufgrund seines außergewöhnlich hohen Gehalts an bioaktiven Verbindungen, Mineralstoffen, Proteinen und Vitaminen als eine der nährstoffreichsten Pflanzen weltweit, wirkt antioxidativ, entzündungshemmend und stoffwechselregulierend und kann so vorbeugend und unterstützend bei Herz-Kreislauf-, Stoffwechsel- und Entzündungserkrankungen eingesetzt werden. Ich verwende die Blätter seit Jahren in meinen Teemischungen.
Absolut mitreißende Lektüre: Jeremias Gotthelfs „Die Wassernot im Emmental“. In dem Büchlein wird das Hochwasser beschrieben, das am 13. August 1837 im Schweizer Emmental massive Zerstörungen an Brücken, Häusern und Feldern verursachte, bei dem Menschen und Tiere zu Tode kamen. Gotthelf (eigentlich Albert Bitzius), der in dem Tal als Pfarrer wirkte, erlebte die Folgen direkt, dokumentierte die Katastrophe, sammelte Augenzeugenberichte. Daraus entstand ein prosaischer Text – eine Mischung aus Erzählung, Reportage und Predigt, der auch heute guten Stoff zum Nachdenken bietet:
„Andere stunden da, lautlos, zerschlagen, nur eines Gedankens voll. Gestern waren sie gesessen in diesem Hause, es war ganz gewesen, sie hatten Hausgerät gehabt, Vorräte, fruchtbringendes Land, muntere Kinder; sie waren da gesessen, waren aber nicht zufrieden gewesen, hatten gemurrt und geklagt über mancherlei, hatten geglaubt, der liebe Gott hätte allen gegeben, nur ihnen genommen, hatten das gering geschätzt, was sie empfangen, über das sich gehärmt, was sie nicht hatten; so hatten sie geredet gesunden Leibes, der zu essen und werchen sattsam hatte. Mitten in diesem Grollen hatten die Wasser sie aufgejagt und in die Flucht – und jetzt, wie fanden sie ihr Besitztum wieder, als sie wiederkamen? Da gedachten sie der am gestrigen Tage geführten Reden. Ach, in den Boden hinein hätten sie sinken mögen über derselben Vermessenheit; ach, wie gerne wären sie jetzt zufrieden gewesen mit ihrem gestrigen Zustande, wie gerne wollten sie jetzt Gott danken für seine Güte, wenn es noch wäre wie gestern! Aber er war dahin, dieser Zustand, den sie mit so undankbarem Herzen genossen hatten, und Gott hatte ihnen einen andern gegeben, um an demselben sie Dankbarkeit zu lehren, denn wer im Glücke sie nicht lernt, den unterrichtet Gott durch Unglück.“
– „Nee, ich sammle meine Leiche gleich selber auf.“
Dialoge, wie sie sich kein Dichter ausdenken könnte – gehört bei meinem Sohn, der anderen Computergamern zuschaut, die ihre Spiele streamen. Während ich, wenn ich auf dem Hometrainer sitze, Serien oder Filme schaue, verfolgt mein Sohn die Onlinekämpfe anderer Menschen. Eines muss man dem e-Sport natürlich im Gegensatz zu klassischen Drehbüchern zugutehalten – das Ende solcher Matches ist tatsächlich offen.
Am Halloweenabend trafen wir uns mit den Nachbarn an unserer Feuerschale zum Glühweintrinken. Nachdem die Kinder mit ihrer Bitte um Süßes durch waren, kam der wahre Horror ums Eck: Die saufende Jugend, die sich in den bis tief in die Nacht geöffneten Späties mit günstigem Flaschenbier betankte, kämpfte mit ihren übervollen Blasen. Die Kneipen wollen die Fremdtrinker nicht auf ihre Toiletten lassen und bis zum nächsten Baum schaffte man es nicht mehr, geschweige denn nach Hause, also erleichterte man sich in Eingängen und Durchfahrten. Dreimal wurden Säufer, die unseren Innenhof angesteuert hatten, von der Hausgemeinschaft verjagt. Nachdem die Feuerschale ausgebrannt und jeder in seine Wohnung zurückgekehrt war, kamen vermutlich weitere ungebetene Besucher.
Am Freitag konnte ich nach einer alles umfassenden Erschöpfung erstmals wieder meine Standardrunde von gut 8,5 Kilometern laufen, am Sonntag schaffte ich sogar über 11 Kilometer. Die Zeiten liegen immer noch weit hinter jenen vom Halbmarathon – aber hej, es geht aufwärts! Für die Blätter geht es dagegen nur noch abwärts. Die beiden japanischen Zierkirschen, deren Laub den ganzen Oktober über den Vorgarten malträtiert hatten, sind so blattlos, wie das Haupt eines Glatzköpfigen haarlos ist. An meiner Strecke sind die Flüsse und Teiche von einem bunten Herbstteppich bedeckt, so wie die Laufwege selbst auch. Wobei das nur für die versteckten, kaum genutzten Pfade im Wald gilt – auf den regelmäßig von Radlern befahrenen und von Fußgängern und Läufern frequentierten Wegen ist das Laub längst mit Schlamm vermischt und halb verrottet.
Der Sonntag lässt die Läufer sprießen. Es sind ungewöhnlich viele unterwegs. Klar, es ist ein freier Tag. Und es ist heute mild. Doch es mag auch daran liegen, dass endlich einmal wieder für ein paar Stunden kein Regen fällt. Beim Joggen erinnere ich mich an ein interessantes Gespräch mit einem Anwalt vor einer Woche. Irgendwie kamen wir auf das Thema KI, also Künstliche Intelligenz zu sprechen. Er hatte ein schönes Gleichnis parat: „Die KI ist so gut und so schlecht wie jeder andere Mitarbeiter.“ Am Anfang sei sie unwissend wie ein Praktikant oder Azubi, dem man mit Prompts – sprich den richtigen Fragestellungen – alles Wesentliche beibringen müsse. Ebenso müsse man der Künstlichen Intelligenz die Art zeigen, wie man Aufgaben erledigt haben möchte. Auch danach hätten die verschiedenen KIs (er nutzt sie alle) noch ihre Macken, das müsse man einfach wissen und beachten. Manche seien lustlos und kramten das erstbeste Ergebnis raus. Manche seien übereifrig. Manchmal werde sogar gelogen, anstatt Unwissenheit zuzugeben. (wir beide dachten dabei zugleich an ChatGPT). „Wenn man all das weiß und das Ergebnis kontrolliert, kann die KI einem schon die Arbeit erleichtern.“ Man dürfe sich halt nicht blind darauf verlassen.
Nach einer guten Stunde bin ich zurück daheim – weder merklich außer Atem, noch sind die Beine schwer. Während ich mich dehne, lasse ich den Blick schweifen. Unsere Königskerzen strengen sich weiterhin an. Trotz des durch die Nachtkälte deutlich nachlassenden Insektenverkehrs quetschen sie immer noch die eine oder andere Knospe hervor. Auch wenn bereits fast alle anderen Blätter braun und welk sind, trotzen die leuchtend gelben Blüten dem Verfall.
Die ausgehölten Kürbisse an den Hauseingängen der Nachbarschaft beginnen innerlich nun langsam zu schmelzen. Bald werden sie so weich sein, dass man sie kaum noch am Stück anheben kann.
Ich vermute, die Schwere der vergangenen Tage war zum Großteil der gut zwei Wochen zurückliegende Blutspende geschuldet. Ich fürchte, es ist an der Zeit, das Blutspenden gänzlich aufzugeben.
Herrlichstes Herbstwetter. Die Jagdhunde mussten bewegt werden. Mein Mann und ich beschlossen, zur kleinen Ulme in den Wald zu fahren. Die hatte meine Cousine als Trieb vom Sperrmüll gerettet und dann auf ihrem Balkon gepflegt. Vor ungefähr sechs Monaten haben wir ihrer Bitte entsprochen und das Bäumchen in den Wald gepflanzt. Mein Mann hatte es über den Sommer immer wieder gegossen, man konnte fast zusehen, wie so nach und nach neue Zweiglein wuchsen – und das, obwohl unser junger Hund kurz zuvor beinahe alle Triebe abgeknabbert hatte. Schön! Ich hatte vermutet, die Ulme in herbstlicher Farbe vorzufinden und war sehr erstaunt, dass sie immer noch grün aussah und sich hübsch von dem bereits gelb-braun verfärbten Laub abhob. Vielleicht ein Zeichen dafür, dass sie gut durch diesen Winter kommen wird.
Der Oktober war gefüllt mit Arbeiten, die ich mir teilweise selbst auferlegt hatte. Manchmal muss man über seinen Schatten springen – einfach, um anderen eine Freude zu machen, sein Selbstbild zu stärken oder sich zu erfreuen. In unserer kleinen Dorfkirche fand zum ersten Mal der Tag der Musik statt. Mehrere Chöre aus der Umgebung waren eingeladen, man rechnete mit vielen Besuchern. Ein großes Ereignis! Am Tag davor wurde rund um die Kirche von Ehrenamtlichen sauber gemacht und in vier Räumen die Kaffeetafeln eingedeckt. Ich war dabei, obwohl sich zu Hause die Arbeit türmte. Beim Helfen ging mir ein Sprichwort durch den Kopf: Bestelle nicht das Feld eines anderen, wenn auf Deinem das Unkraut wächst. Hier ging es jedoch nicht um mein oder dein Feld, dachte ich – hier geht es um unser Feld, unsere Kirche, unser Dorf. Das Dorf, in dem ich wohne und für das ich jetzt einen kleinen Beitrag leiste, damit es sich hier gut leben lässt. Der Tag der Musik wurde ein voller Erfolg. Alle Zuschauer und Beteiligten hatten viel Freude – der Slater Posaunenchor hatte sich sogar Verstärkung aus dem benachbarten Brenz geholt. Vielleicht wird es ja im kommenden Jahr wieder so etwas Schönes geben.
Ein anderes gemeinschaftliches Erlebnis war die Ernte von Evas Äpfeln auf der Streuobstwiese des Pfarrgeländes. Im Laufe der Jahre setzten Brautpaare, die sich in unserer Kirche trauen ließen, und Eltern, deren Kinder hier getauft wurden, Obstbäumchen auf die Wiese. Diese trugen nun reichlich Früchte. Es kamen viele Helfer. Unentwegt wurde gelacht und gescherzt. Nach der Ernte saßen wir alle in der Pfarrhausdiele, aßen Schmalzbrote und eine leckere Suppe und tranken dazu Apfelschorle. Am meisten hat mir gefallen, dass die Alteingesessenen Plattdeutsch snackten. Da kam so etwas Heimatliches durch, ein richtiges „Wir gehören doch zusammen“-Gefühl. Es war einfach schön, dabei zu sein und das miterleben zu dürfen. Ein wenig dazuzugehören als „Zugezogene“ (selbst nach 30 Jahren) – denn ich konnte ab und zu mit den Plattsnackern mithalten und zugleich von ihnen Neues lernen. Aus den Äpfeln wird nun Saft gemacht – der Verkaufserlös kommt der Kirchgemeinde zugute.
Dann hatte man mich noch gefragt, ob ich unsere Senioren an einem Nachmittag mit plattdeutschen Texten erfreuen könnte. Ich sagte zu. Aber was sollte ich vorlesen? Nach langem Suchen entdeckte ich in der Bibliothek „Köster Klickermann“ von Rudolf Tarnow, einem Dichter, der von 1867 bis 1933 ganz in der Nähe lebte. In dem Vers-Epos geht es um einen Dorfschullehrer und Küster – was könnte geeigneter sein, in unserer Pfarrhausdiele vorgelesen zu werden! Ich suchte ein paar Abschnitte heraus, von denen ich dachte, dass sie den Zuhörern ein Lächeln ins Gesicht zaubern würden. An meiner Aussprache arbeitete ich mit Tarnow-Audiobüchern, die ich während der Hausarbeit rauf und runter hörte. Am Ende konnte ich sogar schon einige Texte mitsprechen. Das Vorlesen sollte also gelingen.
Nun blieb noch meine Angst vor der Unterhaltung mit den Senioren – Menschen, die das Plattdeutsche praktisch mit der Muttermilch aufgesogen haben. Die Älteste in der Runde war 93 Jahre alt! Meine Mutter kam aus Leipzig!!! Ich holte mir aus der Bibliothek die elf CDs von Fritz Reuters „Ut mine Stromtid“, gelesen von Gerd Micheel – ein Genuss! Man muss es sich nur oft genug anhören und so ganz nebenbei lernt man das Platt. Kurz vor dem Nachmittag begann ich sogar schon plattdeutsch zu denken. Trotzdem wollte sich keine innere Ruhe einstellen – die ewigen Selbstzweifel … Am Ende wurde es für alle ein schöner Nachmittag, an dem man sich erst viel später voneinander verabschiedete, als es sonst üblich ist.
Freude schenken ist doch etwas Schönes – und manchmal kommt die Freude zurück.
Das Wichtigste zuerst: Dorndorf hat ein Duell ausgerufen: Unterdorf gegen Oberdorf. Blau gegen Rot. Die Häuser der Ortsteile werden nachts von LEDs angestrahlt: Unterdorf blau, Oberdorf rot. Oberdorf hat als Logo ein rotes D entwickelt und es an mehreren Stellen im Ort aufgebaut. Über der Straße schweben farbige Regenschirme. Lokalstpatriotismus. Obwohl unsere Verbandsgemeinde Dornburg heißt, hat jeder Ortsteil seine eigene Fußballmannschaft. Außer wir in Thalheim, das als erstes von der Demografie eingeholt wurde und nun den nicht mehr genutzten Trainingsplatz an Rojkurd Merenberg vermietet. Am Mittwoch spielte Dorndorf II auswärts gegen die SG Taunus – da wurde das Rot-Blau-Duell ausgesetzt und 90 Minuten nicht so sehr auf Unter- oder Oberdorf geachtet. Zum ersten Mal lief unser Sohn mit auf – das Spiel endete 1:1. Anschließend gab es im Taunusdorf eine Lage Bier. Bei alledem gilt: Lieber tot als Wilsenroth!
Der Montag regnerisch und windig mit gelegentlichen Streiflichtern. Auf dem Familenwunschzettel steht eine Bolognese. Ich koche sie, obwohl ich sehr erschöpft bin. Leider hat die Bio Rote Beete über die Monate stark an Aroma verloren – da stimmt was nicht! Um die 6 Grad draußen, im Haus aber warm. Lese voller Genuss die zweite Hälfte von Michel Houellebecqs „Soumission“. Besonders spannend die Stelle, wo der Autor die Quelle für den Niedergang des Westens benennt: eine entseelte und ausgehöhlte Gesellschaft, die nur dem Namen nach noch christlich ist, deren Religion als Zombie umherirrt. So hat es eins zu eins auch Emmanuel Todd beschrieben. Laut Yuval Harari gibt es viele „Ersatzreligionen“, die den Platz eingenommen haben, beispielsweise der Konsumismus und der Tourismus. Das Problem: Diese Surrogate haben keinerlei transzendente Perspektive und beantworten somit die wichtigsten Fragen des Lebens nicht.
Die Vogelpest (wie viele Medien es nennen) hat nun Niedersachsen erreicht – und damit Wiesenhof und seine idyllischen Betriebe unter Fachwerkfassaden. Im Deutschlandfunk ein sehr gutes Interview mit dem Laborleiter am Bundesforschungsinstitut für Tiergesundheit auf Riems: Die Kraniche kehren zum Teil um, wenn sie tote Artgenossen an den Seen vorfinden. Die größte Kranichsterben fand 2021 im Norden Israels statt – Hauptursache dafür war der internationale Geflügelhandel, der eine schnelle Verbreitung des Virus ermöglichte. Der tiefere Ursprung liegt in den unkontrollierten Exporten aus Asien, wo H5N1 in den 1990er Jahren erstmals als hochpathogener Stamm identifiziert wurde. Jetzt wird die Weihnachtsgans teurer.
Auch der Dienstag grau, nass, kühl. Deutscher Herbst. Bin leidlich fit, die Pause gestern war genau richtig. Kurzrunde in Wollklamotten. Bei den Radausstattern spielt Wolle übrigens so gut wie keine Rolle -maximal 30% Anteil in den Socken, was lächerlich ist. (Und was sagt das eigentlich über unsere Welt aus, wenn Schafwolle mitunter als Dünger verkauft wird?) In einem Karton ein Jahreszeiten-Quartett aus den fünfziger Jahren gefunden. Unter den Bildern Leerfelder mit handschriftlichen Einträgen – offenbar eine Übung für Schulkinder. Beschreibung von Naturereignissen: Frau Nebel spinnt ihr Gewand (Der November). In unserem Garten weiter kleine rote Äpfel zuhauf.
Bei Gogol reitet das Dutzend Kosaken gerade durch „Neurußland“ – eine Steppe, die sich bis ans Schwarze Meer erstreckt. In der Nacht verwandeln Glühwürmchen alles in ein Meer von Leuchtpunkten, die Blumen strömen ihr Amber aus. Man schläft unter freiem Himmel, es wird von Brot und Speck gezehrt. Branntwein gibt es nur in Maßen, hohle Kürbisse dienen dabei als Gefäß. Idealisiert, sicher, aber auch wahr. Auch in unserer Familie spielt ein riesiger Kürbis eine Rolle – Halloween rückt näher. Morgen wird er ausgehöhlt, Kostümfest dann am Freitag. Das Familienauto zur Achsvermessung gebracht, neue Federn machten das nötig. Fabelhaft, wie nützlich dieser Wagen ist. Am Abend sehen wir gemeinsam das schöne Pokalspiel Frankfurt gegen Dortmund – die Jüngste wird allmählich maskulin sozialisiert. Der Austausch-Teenie kommt in 32 Tagen wieder (außer, sie hat inzwischen einen Franzosen geheiratet) – ihre Sprödigkeit fehlt hier.
Am Mittwoch nach intensivem Dauerregen sehr schöne Nebelbänke, milde und windstill. Ich nutze die Lage und fülle einen weiteren Korb mit Äpfeln. Die Regionalbahn hat einen neuen Triebwagen, die Kids berichten von besseren Sitzen, dem leiseren Lauf, der Sauberkeit.
Kurioses H5N1-Ge-Eier auf allen Kanälen. Bund und Länder haben ihr Pingpong begonnen. Wer soll nun sein Geflügel wo hin tun? Keiner weiß es. Interessant, wie schnell die Agrarminsterien mit einer Erhöhung der Entschädigungspauschale gewunken haben – ich frag mal meinen Agrarökonom-Bruder, der sich mit den juristischen Belangen in diesen Dingen auskennt. Gegen die Vogelgrippe steht inzwischen ein erprobter Impfstoff zur Verfügung, der in Frankreich verpflichtend bei Enten eingesetzt wird. Nach der großen Seuche von 2023, bei der europaweit zig Millionen Tiere verendeten oder gekeult wurden, will man dort kein Risiko mehr eingehen – mit Erfolg: In den Beständen sind seither kaum noch Ausbrüche aufgetreten. In Deutschland verzichtet man auf die Injektion: Masthähnchen leben im Schnittnur 40 Tage, Mastenten rund 55 Tage und Mastputen ca. 16 Wochen – da „lohnt“ sich der Aufwand aus Sicht der Industrie kaum. Außerdem akzeptieren viele Handelspartner in Asien und innerhalb der EU Geflügelprodukte aus geimpften Herkünften nur sehr eingeschränkt, was den Export erheblich erschweren würde.
Die innere Umstellung auf Normalzeit wurde nun von mir bewältigt. Ansonsten immer noch komplett platt – ein mieses Körpergefühl.
Was ist das nur für eine Schwäche in Geist und Körper? Es fühlt sich an wie eine Mischung aus Corona und Grippe, den Nachwehen einer Blutspende und tiefer mentaler Erschöpfung. Beim Joggen sind die Beine von den ersten Metern an so schwer, als hätte ich bereits 20 Kilometer in den Muskeln und Knochen. Ich schaffe nur kleine, kurze Schritte – zu jedem einzelnen muss ich mich zwingen. Ich fühle mich fremd in meinem Körper. Vielleicht spielt auch das Wetter mit rein: Drei Tage unentwegt Böen, Regengüsse, graue Wolken, nur ab und an ein Sonnenstrahl. Auch der heutige Lauf erfolgt im Nieselregen.
Trotz meiner Auszeit bemühe ich mich, Routinen beizubehalten. Neben dem Sport ist es die Hausarbeit. Vom Vorderhaus weht der Wind kiloweise die großen Blätter der Japanischen Zierkirsche in den Vorgarten und aus den umliegenden Höfen das Laub der Linden, Birken und Eschen, das ich regelmäßig zusammentrage. Zudem begleite ich oft meine Frau zu Fuß auf ihrem Weg zur Arbeit und mache auf dem Rückweg kleine Einkäufe – das ist immerhin eine knappe Stunde Bewegung an der frischen Luft. Wieder zu Hause gibt es dann die erste Tasse Kaffee des Tages.
Heute nehme ich den Rückweg über das Freigelände zwischen der Semmelweisbrücke und dem Bayerischen Bahnhof. Bis zum Ende der DDR war das ein wichtiges Industrie- und Gewerbegebiet. Jetzt sieht man nur noch – teilweise schon zugewachsen – die früheren Pflasterstraßen durchscheinen. Ähnlich wie der ehemalige Flughafen Berlin Tempelhof liegt auch diese Fläche brach, allerdings verhindert hier kein Volksentscheid eine sinnvolle Nachnutzung. Das Gelände war lange Zeit Spekulationsobjekt: Ein Besitzer verkaufte es an den nächsten und sackte dabei Gewinne von 300 Prozent oder mehr ein. Jetzt scheint aber das Ende der Fahnenstange erreicht zu sein – man beginnt tatsächlich zu bauen, oder muss es tun, um die Kosten wieder hereinzuholen. An der Verzögerung ist auch die Kommune nicht ganz unschuldig: Mit dem Wachstum der Stadt stiegen die Wünsche und Ansprüche an Bebauungsplan und Investor – was ebenfalls Zeit kostete. Noch ist das Areal eine Art Heidelandschaft, durchzogen von überwucherten Wegen und inzwischen stattlichen Bäumen. Belebt wird das Areal von freilaufenden, sich austobenden Hunden. Auch Fuchs und Hase haben hier anscheinend ein Zuhause gefunden – immer wieder gibt es entsprechende Sichtungen.
Michail Bulgakows „Der Meister und Margarita“ habe ich beendet. Der Meister und seine Margot, wie er sie nennt, haben ihre Ruhe gefunden. Margaritas Dienerin Natascha hat sich entschieden, eine Hexe zu bleiben. Pontius Pilatus wurde erlöst. Der Teufel und dessen Gesellen haben die Stadt Moskau verlassen, die um zwei Tote ärmer und einige verwirrte Akteure sowie viele Gerüchte reicher ist.
Auf meiner Leseliste stehen aktuell Rushdies „Die satanischen Verse“ und die Bibel, womit ich beim Übernatürlichen bleibe. Die Bibel habe ich als als Lesestoff für zwischendurch auf dem e-Book dabei. Momentan bin ich im 3. Buch Mose, also im Alten Testament, und lange vor der Hinrichtung Jesu auf Golgatha – der Erhebung vor den Toren Jerusalems, die auch bei Bulgakow eine wichtige Rolle einnimmt. Ich gebe zu, dass ich bei diesen Themen allenfalls ein rudimentäres Halbwissen besitze, da an meinen Schulen Marx, Engels und Lenin, nicht aber die Bibel Unterrichtsstoff waren.
Was mich bei der Lektüre des Alten Testaments überrascht, ist das Mikromanagement Gottes: Abraham tu dies, Moses tu das. So gibt Gott Mose bis ins kleinste Detail Anweisungen, wie der Tempel, die Bundeslade und die Priestergewänder gestaltet werden sollen. Vielleicht war diese klare Ansage gerade in diesem Teil der Welt genau richtig? Erinnern wir uns, wie sehr Donald Trump jüngst die Hamas und die israelische Regierung an die Hand nehmen musste, um die halsstarrigen Akteure zum Verhandlungsfrieden zu zwingen.
An die Bibel muss ich auch denken, als die Herbstsonne für einen kurzen Moment die Spitze der Peterskirche erstrahlen lässt. Was für eine Kraft der Glaube sein muss, wenn er die Menschen zu solch gewaltigen Bauten inspiriert hat.
Der Mittwochmorgen beginnt mit einem guten Sencha. Am Abend zuvor habe ich den zähen Kampf von Muhammad Ali gegen Chuck Wepner in halber Geschwindigkeit abgespielt und analysiert. Wepner eine Art Kirmesboxer mit sagenhaften Nehmerqualitäten. Ali hat die schnelleren Beine und das bessere Auge, ist sehr vorsichtig, aber die Treffer, die er Runde um Runde setzt, haben dem dünnbeinigen Wepner nicht viel geschadet. Entscheidend ist ein kleiner, kaum sichtbarer Uppercut von Alis Linker – Knockout in der 15. Runde.
Das Smetana Quartett und eine wunderbar zarte Sonne bringen den Tag zum Leuchten. Zum Mittag Stielkotelett vom Metzger mit Reis, Paprika, gedünstetem Lauch, Pastinaken und Weißkrautsalat. Dann Konen an einem Vorderrad eingestellt. Nicht zu fest, nicht zu lose – in beiden Fällen zerstören sich sonst die Laufflächen und schrotten die Nabe. Ein Schwarm Kraniche hat es über das Dorf geschafft.
Am Donnerstag Trödlerbesuch: Ein Lederknopf für mein Cordjackett, Kopfhörerstecker, drei Tafelmesser mit gezahnter Edelstahlklinge und angenehm schwerem Griff. In unserer Küche am Abend Reis und Süßkartoffeln zubereitet und mit meiner Jüngsten verspeist. Die andere Tochter, die gerade als Austauschschülerin in Frankreich weilt, berichtet von Aufbackbaguettes, die der Gesichtsfarbe eines Todkranken ähneln. So kann sich ihre Gastfamilie den jährlichen Skiurlaub leisten – Konsumoptionen, die zu sozialen Akten werden.
Am Freitag in den Nachrichten immer wieder die Betonung, dass die Vogelgrippe nicht auf den Menschen übergeht. In Frankreich seit letzer Woche Stallzwang. Freude am Smetana Quartett mit Janáčeks „Intime Briefe“. Ein irres Stück. Mikrodissonanzen, die dann wieder aufgelöst werden, abrupte Lautstärkewechsel. „Wie kann man so etwas einer Gesellschaft in Abendkleidern zumuten?“, fragte ein Kritiker der Spätromantik. Vorm Einschlafen Gogols „Taras Bulba“: Ein cholerischer Kosakenführer, der das Christentum verteidigt und Dekadenz hasst. Da gehts viel um Ehre, „Polnische Liederlichkeit“ Prügel und Prügelstrafen. Wie drastisch „Männlichkeit“ beschrieben ist, wie scharf die Trennung vom „unmännlichen Verhalten“. Da wird einem die Verschiebung deutlich, die es in den letzten Jahrzehnten gab – nicht alle Kulturkreise sind ihnen gefolgt. Laut Herodot ähneln die Thraker den Kosaken: Sie verachten das Ackerleben, verkaufen ihre Mädchen – nur die Jagd zu Pferde, Raubzüge und Kampf gelten als ehrenhaft. Da sie so zerstritten sind, geht von ihnen trotz der Überzahl keinerlei Gefahr aus. So schreibt es der Pole Ryszard Kapuściński in seinem „Reisen mit Herodot“. Lesen! Lesen! Lesen!
Den Samstag hauptsächlich mit Sperrmüllausräumung verbracht: Regalschränke, Fotolaborausrüstung, Gartenspielzeug, Inlineskater, kaputte Sonnenschirme usw. Der Pflaumenbaum nun völlig entlaubt. Regenfront und kleiner Covid-Rückfall – die Symptome sind exakt dieselben wie vor drei Wochen, nur viel leichter: Müdigkeit, schlappe Beine und Benommenheit, Magenschmerzen, sanft belegte Stimme. Kleines Abendbrot mit Feldsalat, gutem Joghurt und der Jüngsten.
Vor 7 Uhr läuft im Deutschlandfunk nur Musik – leider ausschließlich Barock, wahrscheinlich Sonntags-Füllmaterial. Richtige Nachrichten scheints auch keine zu geben – nur, wer wann wo was zum Stadtbild gesagt hat. Rückstellung aller Uhren und Frühstück mit Brahms‘ „Klavierkonzert Nr. 2“. Nach der Rasur auf zur kleinen Herbstrunde.
Von einer feucht-stürmischen Runde zurück. Habe meine Füße nicht mehr gespürt – falsches Schuhwerk, Rad ohne Schutzbleche. Zum ersten Mal eine videoüberwachte Baustelle mit Straßenschranke gesehen. Bin druntergekrochen. War natürlich keine Baustelle da, in dem 50-Seelen-Kaff. Bis zur Gesichtserkennung ist es nur noch ein kleiner Schritt. Wenn es soweit ist, wird wahrscheinlich jemand die Anlage mit einem Viehschocker kurzschließen … Wirbelnde Blätter, kaum Leute unterwegs. Nur die Trinker und Trinkerinnen an der Tankstelle. Eine spindeldürre Frau um die 70 mit kurzen grauen Haaren, die aus dem Auto steigt, leicht wankend auf das Regal mit dem Stoff zustrebt, zwischendurch ihr Geld fallenlässt, um sich für knapp 19 Euro einen halben Liter Jägermeister zu kaufen. Wackelig zurückgeht, wieder einsteigt und mit ihrem makellosen, zwanzig Jahre alten Ford Fiesta vom Hof zirkelt. Die Tresendame: „Sie kommen gern am Sonntag, weil man sie dann nicht im Supermarkt sieht.“ Fünf Minuten später die nächsten beiden Trinker. Nachdem sie bezahlt haben, gehen sie mit ihren Jim-Beam-Cola-Dosen die 200 Meter zur Tankstellle gegenüber. Es gibt hier noch eine dritte. Alkohol in der Provinz. Der Leerstand in Hachenburgs reizender Innenstadt unverändert hoch. Das erste Café am Platze heute geschlossen. Die Vorgänger hatten nach vierzig Jahren kurz vor Corona aufgehört. Herrliche Champagnertrüffel machten die …
Den Hinterlandblues vermeiden, die vielen Mikroerregungen um einen herum. Lieber musikalische Studien betreiben und den Kamin befeuern. Wenn es hell ist, sehen wir deutlicher.
Allmählich kommt der Moment, in dem sich das Häuflein der Bader vom Schlachtensee ein letztes Mal spaltet – den Herbstschwimmern wird es nun langsam zu kühl im Wasser, der Rest macht weiter. 12 Grad Celsius scheint für viele der Grenzpunkt zu sein: Nicht wenige erzählten mir, dass ihre persönliche Saison Anfang oder Mitte April begann und nun bald enden wird – damals war das Wasser genauso warm bzw. kühl wie jetzt. Da die meisten Mitschwimmer wissen, dass ich ein Thermometer dabei habe, werde ich jetzt immer nach der aktuellen Temperatur gefragt. Ein älterer Herr tut jedes Mal, wenn er mich in der Bucht sieht, so, als würde er frieren, und winkt mir dabei vergnügt vom Spazierweg zu. Einige der Jogger sprechen mich auf mein trocknendes Handtuch auf dem Rucksack an, fragen, ob ich etwa noch schwimmen würde – schöne Gesprächseröffner. Neue Parallelwelt: Als die beiden Sachsen auf der Buchtbank Rast machen, vergleicht der Mann auf seiner REWE-App Eiersalatpreise.
Die Wasservögel finden nun zu ihren jeweiligen Gruppen zueinander. Am Nordwestufer beobachte ich regelmäßig ein gutes Dutzend Mandarinenten, in meiner Bucht knapp zwanzig Stockenten nebst zwei Blässhühnern, auf dem Schildkrötenbaum neun Kormorane. Diese Wintergesellschaften erhöhen ihre Überlebenschancen beträchtlich: Nähe bedeutet Sicherheit – vor Kälte und vor Feinden.
Am Donnerstag wird es gegen 8:30 Uhr plötzlich sehr windig. Der Graureiher, der sonst auf sechs bis sieben Meter Abstand achtet, durchbricht sein inneres Sicherheitsprotokoll und kommt ganz nah an meine Bank, da er dort, hinter dem Schilf, etwas geschützter ist.
Am Freitag treffe ich einen Mitschwimmer, mit dem ich vor Monaten zweimal gesprochen und den ich seitdem nicht mehr gesehen hatte – ein feiner, älterer Herr. Er geht zögerlich ins Wasser, macht sich ein wenig nass, dreht wieder um. Auf meine Nachfrage erzählt er, dass er gerade von Kreta zurück ist, wo die Wassertemperatur 20 Grad betrug. Nun müsse er sich erst langsam wieder an die hiesige Kälte gewöhnen. Über die Wasservögel vor uns kommt er auf den Darß zu sprechen, wo er nach drei Wochen am Mittelmeer noch zwei Tage Urlaub ranhängte, bevors zurück nach Berlin ging. Am Bodden habe er die Versammlung der Kraniche beobachtet, ihre lauten Rufe gehört, bestaunt, wie sich der Spätabendhimmel durch die Vögel noch mehr verdunkelte. Ich frage ihn, ob er von den toten Kranichen in Mecklenburg und Brandenburg gehört hätte. Ja, das kam am Tag zuvor in den Nachrichten. Wir sind beide schlagartig ernst. Es ist ja auch zum Gotterbarmen, was sich da gerade abspielt. Über tausend Tiere, die an H5N1 verreckt sind. Dazu hunderttausende Puten, Masthühner, Legehennen oder Strauße – wird auf einem Hof der Erreger nachgewiesen, müssen dort alle Vögel getötet werden. Baden-Württemberg ist auch betroffen. Lasst uns bitte endlich mal ernsthaft über Massentierhaltung reden – oder darüber, dass die Kadaver zur Virusbeseitigung zwar eingekocht, aber Teile davon später noch zu Tierfutter verarbeitet werden. Das mag hygienisch ja korrekt sein, wirkt auf mich aber in mehrlei Hinsicht total verstörend.
H5N1 kann auch uns infizieren. Beim ersten bekannten Ausbruch 1997 in Hongkong kamen sechs Menschen ums Leben. Laut WHO sind seither weltweit 458 Personen an der Vogelgrippe gestorben. Leider erfährt man kaum etwas über diese Toten: Hatten sie alle in Ställen zu tun? Wie waren ihre Arbeits- und Lebensbedingungen? Wie die Gesundheitsversorgung? Gibt es irgendwelche Muster oder regionale Besonderheiten? Warum geht dem niemand nach und setzt die verfügbaren Informationen zusammen – es muss doch irgendwo behördliche Erfassungen, lokale Zeitungsberichte, Social-Media-Posts und andere Spuren geben. Ähnlich wie im Juni 2023, als der Übersprung des H5N1-Erregers von Vögeln auf Hauskatzen dadurch entdeckt wurde, weil in Polen immer mehr Menschen Schwarz-Weiß-Fotos ihrer gerade verstorbenen Lieblinge auf Facebook teilten und jemand in der entsprechenden nationalen Gesundheitsabteilung darauf aufmerksam wurde und daraus die richtigen Schlüsse zog. Oder wie die brasilianische Geburtshelferin und Gynäkologin, die im Chat mit Kolleginnen die Häufung von Fehlbildungen bei Säuglingen zusammentrug und dadurch den Zusammenhang zwischen einer Zika-Infektion während der Schwangerschaft und Mikrozephalie detektierte. Wenn man diese humane Gedankenschärfe mit wirklich guten Werkzeugen Künstlicher Intelligenz zusammenbringt, werden ungeahnte Frühwarnsysteme möglich sein. Das gibt doch Hoffnung.
Den Tag beginnen mit Arvo Pärts „Adam’s Lament“, Henryk Góreckis „Misere“, Anne Clark, Townes van Zandt oder Burials toller neuer EP. Sich an denen erfreuen, die sich tapfer und fleißig durchs Leben kämpfen: Die 72jährige, die nach einem Schädel-Hirn-Trauma und ihrer allseitigen Totschreibung nun versucht, wieder Tischtennis zu spielen, sich Woche für Woche besser an der Platte orientieren kann; der junge Mann mit Migrationsvordergrund, der Ferienkurse besucht, um einen Bildungsabschluss zu schaffen, und vorher bei uns auf ein paar Sätze vorbeikommt. Die allseitige Erregung meiden, die Schnellsprecher, Streitsüchtigen, Filterblasengefangenen. Lieber an die Ruhigen halten, die Waldgänger. An den Jogger, der sich im Wald zu mir umdreht und rückwärts laufend „Dieses Licht! Diese Farben!“ ruft; an die junge Frau, die am Schlachtensee steht, dort „die negative Energie aus dem Körper streicht“ und den klasse Satz sagt: „Die Tiere nehmen sich nun wieder ihren Raum.“ Den Tag beenden mit Michail Prischwins „Im Land der ungestörten Vögel“ – dem Bericht einer Reise zu den Jägern, Fischern, Klageweibern, Bäuerinnen, Flößern und Märchensängern Kareliens im Jahre 1906. Manche dieser Gegenden war so karg, dass man „statt zu pflügen, einfach die Steine umdrehte“. Ein hartes Leben, in dem selbst Tee, Tabak und Alkohol der absolute Luxus waren. Das Buch wundervoll illustriert von Konstantin Solokow. Mehr von den alten Russen lesen.
Reden wir über die kleine, hübsche Stadt Diez im Rhein-Lahn-Kreis, die an Limburg an der Lahn grenzt – zwei Städte, die ineinander übergehen. Die eine Stadt gehört zu Rheinland-Pfalz, die andere zu Hessen. Diez hat ungefähr 11.000 Einwohner und liegt dort, wo die Aar in die Lahn mündet. Rheinisches Schiefergebirge zwischen Taunus und Westerwald. Erste Besiedlung in der Altsteinzeit.
Ich kaufe gern in Diez ein – der Fleischer ist ausgezeichnet, der gute Haushaltswarenladen fest in Familienhand und mein Antiktrödler versorgt mich regelmäßig mit Luxusgütern zu fairen Preisen.
Seit wir vor zwölf Jahren in die Gegend zogen, hat sich in Diez einiges verändert. Viele Geschäfte haben dichtgemacht, was nicht zuletzt am rasant zunehmenden Onlinehandel liegen dürfte. Ein großer Rewe-Markt wurde errichtet.
Es verschwanden:
– ein Juwelier und Uhrenhändler – ein Orthopäde – ein Drogeriemarkt – eine Commerzbank – eine Postbank mit Postfiliale – zwei Fahrradläden – eine Eismanufaktur – ein Druck- und Kopierladen – ein Bäcker – ein Elektro- und Haushaltswarenladen – ein Laden für Modellbau, der sich auf Flugzeuge spezialisiert hatte – ein Fernseh- und Elektrotechniker mit Ladengeschäft – zwei Schuhläden (von dem einen schied der Eigentümer danach freiwillig aus dem Leben)
Desweiteren brannte ein Kleidungsgeschäft nieder.
Leerstand geschätzt 40 %. In den aufgegebenen Geschäftshäusern finden oft dekorative Kunstausstellungen statt.
Was blieb:
– zwei Metzger – eine handvoll inhabergeführter Modeläden – drei Cafés – ein Nagelstudio – ein Schreibwarenladen – ein Buchladen (!) mit integriertem Weinverkauf – ein inhabergeführtes Hausratsgeschäft (jetzt mit Poststelle) – mein Trödler, der sich auch um Haushaltsauflösungen kümmert – zwei Dönerbuden und eineinhalb Pizzerien – ein Netto-Markt – ein Friseur – ein Sattler und Polsterer – ein Bioladen – drei Eisläden
Was kam:
– ein Rewe – ein Rossmann – ein Tedi – ein Barbershop
Ich zähle nicht die Neueröffnungen der Cafés, von denen die meisten wieder schließen mussten. Ich erwähne nicht all die Großmärkte außerhalb der Innenstadt. Die Autobahn ist nah, die Gewerbegebiete schmiegen sich an.
Das Stadtbild wird von Deutschen, Türken, Russen, Italienern und Arabern geprägt. Auf dem Marktplatz treffen sich in der einen Ecke Alkoholiker und in der anderen alleinerziehende und andere Mütter. Bibliothek, Feuerwehr, Polizei und Rathaus sind vorhanden.
Die Musikschule meiner Tochter ist ein Neubau aus dem Jahr 1990 und liegt ganz oben am Hang über den Häusern des Schläfers. Der Schläfer ist ein Viertel jenseits der eigentlichen Stadt und geradezu der Prototyp einer gemischten Vertriebenensiedlung mit kleinen Mehrfamilien- und Einfamilienhäusern. Immer ein wenig Grün drumherum, darauf die nunmehr historischen Teppichstangen und Wäschehalter aus Eisen. Kleine Straßen, über deren Namen Du die Ostprovinzen bereisen kannst: Schlesien, Pommern, Ostpreußen, Danzig, Lüben, Breslau … Zwischen den Häuserreihen Gehwege, zum Teil Gartenanlagen. Und eine Fläche, auf der früher wohl einmal ein Spielplatz war. Ich weiß nicht, warum ich solche Viertel so mag – vielleicht wegen der völligen Abwesenheit von Werbung und Dekorativem, geschweige denn einem Hauch von Design. Alles übersichtlich und homogen. Und sehr ruhig.
Limburg ist erheblich heterogener zwischen Karstadt-Beton, Trash und peinlichst renoviertem Fachwerk. Da geht nichts zusammen – was mit der Autogerechten Stadt der siebziger Jahre zu tun haben dürfte. Aber es gibt hier immerhin noch einen Bahnhof.
Deutsche Geschichte. Deutschland vor der energetischen Sanierung. Deutsche Stadtbilder des Jahres 2025.
Mein Innenleben fühlt sich an, als würde man kopfüber an einer Brücke schrauben, während man auf einem klapprigen Gestell steht, das auf einem Floß steht, das auf einem Fluss schwimmt.
Nach dem Montagsblues, kamen der Dienstags-, der Mittwochs- und der Donnerstagsblues. Während aus einem grauen Himmel Regen rieselt und Blätter von den Bäumen tröpfeln, sehe ich zwei Männer auf einem Gerüst auf einem Floß auf einem Fluss, die an einer Brücke schrauben.
Genau das meine ich. Manchmal muss man nur hingucken.
Das Joggen fällt mir unendlich schwer. Liegt das noch an meiner Blutspende? An der Grauheit der Oktoberwelt? Am Blues? Nach einem Kilometer möchte ich am liebsten aufgeben.
Doch was ist eigentlich die korrekte Strategie gegen die eigene Schwäche – zu pausieren, um den Körper zu schützen? Oder sich durchzubeißen, um aus dem Tal herauszukommen? Wie immer ein einerseits, andererseits. Ich muss eine Entscheidung treffen.
Meine schmerzenden Füße setzen einen Schritt nach dem anderen. Meine Augen sehen die beiden Männer an der Brücke. Mein Kopf zählt die Schritte. Ich laufe weiter, während ich mir sage, dass ich mich mit jedem querenden Pfad kurzerhand auf den Rückweg machen kann. Doch nach etwa 25 Minuten habe ich die Melancholie und Mattheit überwunden. Ich vollende meine übliche Strecke, die wegen der matschbedingten Umwege ein paar hundert Meter länger ist als sonst – in einer Zeit, die mir gleichgültig ist.
Der Mittwoch war der bisher einzige relativ sonnige Tag in dieser Woche. Auch der Wind war vergleichsweise still. Da ich diesmal nicht laufen wollte, entschied ich mich fürs Rad und eine Umrundung des Kulkwitzer Sees. Das ist ein gefluteter Braunkohletagebau am Stadtrand. Er dient seit 1973 als Naherholungsgebiet, ist also deutlich etablierter als die erst in den 2000er und 2010er Jahren geschaffenen Gewässer im renaturierten Bergbaurevier Südraum Leipzig. Zuletzt war ich in den Neunzigern als Student dort.
Die ersten 10 Kilometer fuhr ich wie berauscht durch die Stadtteile Schleußig, Plagwitz, Grünau und Lausen. Fußgänger, Radfahrer, der schwarze Asphalt – alles flog nur so an mir vorbei. Der See war herbstlich bewaldet, der Rundweg bis auf einige Spaziergänger mit und ohne Hund nahezu leer.
Zurück in der Stadt beginnt wieder das Grübeln. Eben noch befreit „I did it my way“ gesungen, dann „Bedecke Deinen Himmel, Zeus, mit Wolkendunst“ geflucht. Schwäche in den Beinen, Schwäche im Kopf.
Fragen ohne Antworten, triste Herbstsonne, graue Blätter.
Unsere Blogautorengemeinde entdeckt ja gerade die russischen bzw. sowjetischen Schriftsteller neu. Das erinnerte mich an meine alte, Ende der Achtziger antiquarisch gekaufte Aufbau-Ausgabe von Bulgakows „Der Meister und Margarita“. Ich habe sie entstaubt und lese nun jeden Tag zwei bis drei Kapitel. Heute, fast vierzig Jahre nach der Wende, nehme ich nicht so sehr die grotesken, satirischen und religiösen Inhalte wahr, sondern vor allem eine bitter-böse Abrechnung mit dem Sozialismus sowjetischer Prägung.
Mich überkommen Erinnerungen an die DDR-Zeit: Das Schachern um die knappen Wohnungen, das heimliche Horten von Edelmetall und Devisen, das verlogene, nur um sich selbst rotierende Denken und Handeln der Kulturschaffenden, die Autoritäten, Behörden und Ämter mit ihren irrationalen Regeln und willkürlichen Verboten. Manch einer träumt ja auch heute wieder vom „endlich richtigen Sozialismus“ – mit Planwirtschaft, Verstaatlichungen, ideologischer Gleichschaltung und Repression. Die meisten, die sich nach so etwas sehnen, werden den realen Sozialismus wohl nie selbst erlebt haben. Wie soll man bei solchen Gedanken nicht den Blues kriegen?
Ins Deutsche übertragen von Thomas Reschke – Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1983.
Am Dienstagabend hatte ich ein Beben in der Brust – ausgelöst von den heftigen Bässen in der Leipziger Arena. Der deutsche Musiker Hans Zimmer, für mich einer der innovativsten Filmkomponisten unserer Zeit, brachte den Sound seiner Lieblingsstücke mit einem ausgewählten Ensemble auf die Bühne. Das muss wahre Freiheit sein: Du kannst die Melodien, die oft nur als Versatzstücke und Hintergrundstimmung durch einen Film rauschen, so kombinieren und instrumentieren, wie du es willst. Du brauchst ein Schlagzeug? Warum nicht vier Schlagzeuger gleichzeitig auftreten lassen? Das Ergebnis ist akustisch und optisch überwältigend.
Im Konzert wird mir erstmalig bewusst, wie wichtig bei Hans Zimmer der Einsatz der menschlichen Stimme für das Gesamtbild der Musik ist – sowohl Solo als auch im Chor. Und was für Stimmen er mit nach Leipzig brachte! Der Südafrikaner Lebo M, die Originalstimme aus „Lion King (König der Löwen)“ kam auf die Bühne. Die australische Sängerin Lisa Gerrard sang im „Gladiator“-Medley, wobei das Wort „Medley“ nicht den Kern trifft – vielmehr waren es eigenständige Arrangements, die Zimmer speziell für die aktuelle Tour geschrieben hat. Natürlich ist hier nichts improvisiert – das wäre bei einem so großen Musikerkreis gar nicht möglich, und dafür ist Zimmer auch zu perfektionistisch. Doch er spielt mit seinen eigenen Melodien und Themen und schafft so ein eigenständiges Werk, das es in der Form nur live zu erleben gibt.
Drei Stunden spielen Hans Zimmer und sein großartiges Ensemble, dann geht es zurück in die Leipziger Nacht. Vor der Arena bietet, elektronisch verstärkt, ein schlechter Straßenmusikant dröhnend Coverversionen von Pophits dar.
Montagmorgen. Die Busse fuhren an diesem ersten Schultag nach den Ferien pünktlich. Die Kinder sind bereits an ihrer Lernstätte. Es ist noch nicht hell. Gegen 5 Uhr setzte sehr feiner Regen ein – gut, dass wir vorher das Laub vom Stein zusammengefegt und beseite geschafft haben. Machst Du das nicht, klebt das dann als schmierige Schicht richtig fest. Der Ahornbaum ist nun als Erster völlig entlaubt.
Nach telefonischer Beratung mit meinem Bruder, der Tierarzt ist, den siechen weißen Hasen eingepackt und zum lokalen Veterinärdoc gebracht. Körpertemperatur 34.1°C; der Tumor hatte schon einen Lungenflügel abgedrückt. Sieben Jahre war er ein treuer, kleiner Begleiter und Trostspender für unsere Jüngste. Nun ist er erlöst und tanzt mit seinen drei Vorgängern über dem Thalheimer Himmel. Beerdigung am Nachmittag. Brahms‘ „Sonate Op. 120“ mit Tabbea Zimmermann (Bratsche) und Kirill Gerstein (Klavier). Sundowner.
Zum Abendbrot Bio-Feldsalat mit echtem Feta (immer aufpassen – auch da wird getrickst). Bei Tisch mit der Familie über GoPros (das sind Action-Kameras) für Pottwale phantasiert. Damit in der Tiefsee deren Jagd auf Kalmare einfangen … Früh zu Bett: Der neue Infekt ist durch, jetzt brauche ich viel Schlaf. Bestes Zeichen: Wenn mir kühl ist, obwohl meine Jüngste ihre Hausaufgaben im T-Shirt macht.
Dienstag ein fast identischer Tag zu Montag. Mild tröpfelt es vor sich hin; der Kindergarten gegenüber muss nun morgens länger das Licht brennen lassen. Meine Kinder bekam ich nur mit gutem Zureden in die Spur – äußerst mürrisch nahm der Sohn eine Banane entgegen. Die schlechten Frühstücksgewohnheiten beginnen früh – die Frisur ist wichtiger. Ein Hase weniger im Stall. Unsere Kleine nimmt das in aller Ruhe auf – am Wochenende wird das Tierheim besucht. Die Pseudonachrichten um acht abgeschaltet – 90% im Konjunktiv. Nur dass der korrupte französische Ex-Präsident in Haft geht, ist wohl sicher. Die ersten Kraniche ziehen – das ist immer ein Zeitsprung.
Im letzten Podcast von Lanz und Precht interessante Ausführungen zur metphysischen Obdachlosigkeit des Westens. Sie beziehen sich dabei auf Emmanuel Todd und dessen 2024er Werk „La Défaite de l’Occident“ (auf Deutsch als „Der Westen im Niedergang. Ökonomie, Kultur und Religion im freien Fall“ im Westend Verlag ). Ich höre über mehrere Tage verteilt ungefähr fünf Stunden Interviews mit dem Autor. Der französische Historiker und Demograf diagnostiziert eine tiefgreifende Krise der westlichen Gesellschaft, insbesondere ihres über Jahrzehnte dominierenden individualkapitalistischen und liberalen Selbstverständnisses. Anhand von Bildungsabschlüssen und Geburtenraten zeigt Todd auf, wie die in den 1960er Jahren einsetzende Deindustrialisierung der USA (ein Prozess, der später unter dem Begriff „Globalisierung“ zusammengefasst wurde) nicht nur zu einem massiven Verlust von Arbeitsplätzen führte, sondern vor allem zur stetig schwindenden Fähigkeit, bestimmte wichtige Produkte eigenständig und in ausreichender Menge herzustellen – etwa Schlüsselkomponenten für Energieversorgung, Transport und Industrieanlagen, Mikroelektronik, pharmazeutische Produkte oder Rüstungsgüter. Ich denke dabei auch an unsere deutschen Politiker, die sich immer wieder mit den großen Mächten anlegen, dann aber verwundert feststellen müssen, wie abhängig man zum Beispiel mittlerweile von China ist. Gerade geht durch die Medien, dass es bei der Versorgung mit Antibiotika und Schmerzmitteln erneut zu Engpässen kommen wird. War das nicht genau die Schwachstelle, die man während der Corona-Pandemie EU-weit laut beklagte? Und? Wurde da inzwischen eine einzige Fabrik in der Altmark gestellt?
Für Todd ist die zunehmende soziale Vereinzelung Folge des Zerfalls traditioneller Strukturen. Er versteht die Individualisierung nicht als Fortschritt, sondern als Notreaktion auf die Überforderung durch Globalisierung, technologische Komplexität und das beschleunigte Lebenstempo. Früher fingen solche existenziellen Verunsicherungen in der Regel Familie, Nachbarn, Kollegen, Religionsgemeinschaften auf – heutzutage ist das Individuum oft komplett auf sich selbst zurückgeworfen. Das neoliberale Narrativ dazu lautet: „Für deine Ängste bist du selbst verantwortlich.“ Infolgedessen entwickelt der Einzelne Bewältigungsstrategien, mit denen er versucht, sich gegen die fundamentalen Ängste zu wappnen: die Angst vor Krankheit und Tod, vor Beziehungsunfähigkeit und Einsamkeit – vor der eigenen Bedeutungslosigkeit im großen Getriebe. Im Kapitalismus ist die am einfachsten verfügbare Form der Selbstaufwertung der Konsum. So findet der methaphysisch Obdachlose zu einer Art Ersatzreligion, die versucht, die spirituelle Leere mit materieller Befriedigung zu füllen. Das fügt sich gut in Hararis Analyse, der einen unersättlichen Bedarf an sinnstiftenden Erzählungen sieht. Was meine Familie bestätigen kann – wir wollen doch auch unseren toten Hasen wiedersehen!
Sehr milder Abend mit schönen Sonnenpartien. Wieder genesen – tolles Gefühl! Bis der Sohn nach dem Fußballtraining fertig rasiert war (seine Freundin kommt für drei Tage zu Besuch) und sich zu mir gesellte, stand es für PSG gegen Bayer schon 4:1 – Endstand 2:7.
Ein Montagmorgen stimmt verdrießlich. Zumal heute die sächsischen Herbstferien vorbei sind. Punkt acht sind die Schüler wieder in ihren Bildungseinrichtungen weggesperrt. Mit den Kindern sind auch die Eltern aus den Urlauben zurück und machen sich gestresst auf den Weg zur Arbeit. Die Straßen sind deutlich voller, die Autofahrer deutlich unentspannter als zuletzt. Alle haben den Montagsblues.
Grünphasige Ampeln spucken Massen an ungeduldigen Radfahrern auf die kombinierten Fuß- und Radwege. Sie hasten zur nächsten Ampel und brausen dabei mit ihren Rennrädern oder SUV-artigen, e-Motor-gestärkten Lastenrädern mit dem minimalst vertretbaren Abstand an mir vorbei. Der Eingang zur U-Bahn sieht aus wie ein Schlund zur Unterwelt, welcher die Menschen verschluckt, verdaut und anschließend als genügsame Arbeitsroboter am anderen Ende des unterirdischen Gedärms wieder ausscheidet. Es ist Montag.
Auf den Gehwegen lümmeln sich Laubblätter aller Schattierungen. Sie warten auf den schwarzen Mann – der ein oranger Mann der Stadtreinigung ist, der sie mit seinem Laubbläser vertreibt, in dichten Haufen zusammendrängt, dem Kehricht zuführt. Arbeiter entern die Gerüste der Baustellen, flink wie Piraten, die nach einer Flaute die Wanten ihrer Brigg erklimmen. Kräne drehen sich im Montagswind.
Vor einem Postverteilzentrum sind die Lastenfahrräder der Zusteller aufgereiht und warten wie die Hühner vor der Fütterung auf das, was ihnen zugewiesen wird. Es ist noch Zeit für eine kurze Zigarette und einen Plausch, bevor die Pflicht ruft. Welche Pflicht eigentlich? Hatte ich nicht gelesen, dass die Post montags keine Briefe mehr zustellt? Die KI belehrt mich, dass dem nur scheinbar so sei – an diesem Tag würden lediglich keine Werbesendungen und keine Dialogpost ausgeliefert, die jedoch den Großteil der Sendungen ausmachen. Wieder etwas gelernt. Und das an einem Montag.
Hatten der Schöpfer und seine Engel auch so ein Gefühl nach dem Wochenende? Nach dem freien siebten Tag, nachdem es vollbracht und gut war? Den Gedanken: „Ganz nett, doch jetzt fängt der Mist wieder von vorne an?“ Beim Grübeln deprimiert mich ein langer, gerader Weg, der ins Nichts zu führen scheint – mit einer Ampel am Ende, die – natürlich! – auf Rot steht. Genauso melancholisch stimmt mich ein versteckter Spielplatz, der nicht nur leer, sondern gar kein wirklicher Spielplatz ist, da er lediglich aus einem Schild und einer Tischtennisplatte aus Beton besteht. Und das nicht nur am Montag.
Bevor der Montagsblues überhandnimmt, setze ich mich in ein Café. Es ist kaum begreiflich, aber eine Butterbrezel und eine große Tasse Kaffee sind beträchtliche Stimmungsaufheller. Ich lese dazu zwei weitere Kapitel aus Prechts philosophischem Bestseller „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“ Danach bin ich so gefestigt, dass ich mich zu einer Laufrunde in den fast menschenleeren Park aufmache. Hat der Gott der Bibel es auch so gemacht? Einen Kaffee getrunken und dann versucht, dem Ganzen das Beste abzugewinnen?
Am Freitag 14 mollige Grad bei graulichtem Himmel. Die Amseln in der Eberesche zwischen den dünner werdenden und zunehmend gelb gefiederten Blättern emsig beschäftigt. Unter der Überzahl der schwarzen Schatten der Drosseln auch eine Tureltaube dabei. Letzte Wiesenmähung auf den Feldern – als ich vorgestern im Dunkeln hier ankam, konnte ich es bereits riechen. Auch ich mähe unsere 800 m² Rasen. Man merkt, dass es seit Wochen kaum geregnet hat. Bin über den Uslar-Blog auf den Innenarchtiekten Oskar Melzer gestoßen – cleverer Bursche, einer der Könige des „als ob“. Benennt seine Restaurants nach alten jüdischen Gangstern. Erinnert mich an die Gestalten rund um den Hackeschen Markt und Rosenthaler Platz in Döblins „Berlin Alexanderplatz“. Heute siehts dort aus, als wäre das Areal eine Dependance von Disney. Zurück an den Laptop – weiter in der Aufarbeitung meiner Hamburg-Berlin-Episode. Lang ists her …
Der Samstag ein weiterer unfassbar ruhiger Herbsttag. Die Wolken blieben über Nacht. Goldlicht durch hellgelbe Tulpenbaumblätter. Putz- und Flickstunde. Anschließend drei Stunden Gartenarbeit mit Frau, Sohn, Benzinmäher, Motorsense, Laubsäcken. Der Winter kann kommen. Danach Bolognese, hausgemacht. Montag beginnt wieder die Schule. Bis Weihnachten den 6-Uhr-Rhythmus zu halten, wird für einige in der Familie nicht leicht werden. Einen Staubsaugerbeutel nachgesteckt – erstaunlich, was sich seit den Papiertüten getan hat!
Ein Sonntag, der kalt und grau vor sich hin dümpelt. Habe Beine wie aus Gummi und leichtes Halskratzen – unschön, aber erträglich. Wir kämpfen gerade um das Leben des weißen Hasen. Er sitzt apathisch da, hat Durchfall. Als mein kleines Kind nach Hause kommt und ihn so sieht, weint es. Ich tröste. Bald wird sie 13 – wenn der Hase stirbt, wäre das ein Teil vom Ende ihrer Kindheit. Die Finalität des Daseins wird greifbar. Uns müsste wieder ins Bewusstsein rücken, dass das Wichtige im Leben analog ist. Der Mensch neben uns, Tiere und Pflanzen. Das Pellen der Kartoffel mit einem scharfen Messer, das Zusammenbauen einer Schaltung, eines Wasseranschlusses. Die Verrichtungen, die das Leben am Laufen halten, der normale Alltag. Wir sollten uns nicht treiben und entmündigten lassen, unsere Arbeit und Kenntnisse nicht komplett digitalen Maschinen überlassen. Das Leben genießen, den Kontakt mit anderen. Wir hoffen, dass es der Hase mit Kamillentee und einer Wärmflasche über die Nacht schafft.
Die Monstrositäten, die sich in den freigeklagten Dokumenten „AG Impfpflicht“ offenbaren, sind sehr unschön für SPD, Grüne und FDP. Die Repressionstechnik macht offensichtlich vor keiner Partei halt – ungeheuerlich, zumal ja bekannt war, dass die Covid-Impfung wenn, dann nur begrenzt und befristet vor schweren Verläufen bewahrt. Durch die Geschwindigkeit der Mutationen könnte man sogar von einer Unwirksamkeit sprechen. Alles gruselig und maximal eklig. Es ging ja nicht um eine Pestepidemie, gegen die eine Spritze die letzte Hoffnung gewesen wäre. Wenn eine Krankheit tatsächlich so letal ist, brauchst du keine Aufforderung zur Impfung – Du wirst Dich an jeden Strohhalm klammern, der Dein Leben retten könnte. Ganz klar, dass die Verantwortlichen da jetzt keinen Staub aufwirbeln wollen.
Was gibt es Schöneres als Kuchen mit Äpfeln aus dem eigenen Garten. Er wird zur Hauptmahlzeit an diesem letzten Ferientag. Unser Sohn ist immer noch beeindruckt von der Schönheit Szegeds und der bizarren Sprache der Ungarn. Kaum jemand versteht dort Englisch – die Medizinvorlesungen für seine Freundin finden auf Deutsch statt. Ein Freund ruft vom Winterfeldplatz an, braucht Hilfe beim Kauf einens Rennrads. Er sendet die Bilder – ich berate gern.
Bei Anbruch der Dunkelheit Befeuerung des Kaminofens. Der schöne Ausklang des Tages lässt auch die Wäsche schneller trocknen. Dazu noch ein paar warme Kartoffeln mit Salat und Schinken. Und auch der Hase hat sich geregt und ein wenig gegessen. Wir haben seine Wärmflasche neu befüllt und wünschen ihm nun eine gute Nacht.
Am frühen Sonntagmorgen picken eine große Nebelkrähe und eine kleine Elster auf der Putlitzbrücke an einer halbgefrorenen Lache aus Erbrochenem. In der Nacht sank die Temperatur auf null Grad – auch die Hunde haben nun immer öfter ihre Thermoklamotten an. Niemand hat je behauptet, dass der Berliner Winter Spaß macht. Am Schlachtensee sind es dann sechs Grad, im Wasser knapp dreizehn. Das hat den Effekt, dass ich vom Kälteren ins Wärmere gehe. Wie schon am Vortag scheint eine noch immer gut wärmende Sonne. Wirklich jeder, den ich treffe, hebt das sofort hervor und freut sich zudem über die Farbenpracht und Fülle des Laubs. Man kann kaum den Übergang vom Land zum Wasser sehen. Ein schöner Oktober.
Die beiden Sachsen machen auf ihrer Runde um den See ab sofort nur noch kurz Rast in unserer Bucht – sie gehen jetzt am anderen Ufer ins Wasser, da das dichter an ihrer Wohnung liegt und sie auf dem Rückweg dann nicht so auskühlen. Die Wege nach dem Baden sind die eigentlichen Knackpunkte, weniger die Wassertemperatur. Ich werde die ultrapräzisen Tierrapporte des Mannes vermissen.
Am nördlichen Ufer hat jemand aus Blüten ein Muster gelegt, das wie ein Symbol aussieht. Könnte die erschöpfte Businessfrau aus Bali gewesen sein, die ich einmal bei einem Blütenritual im Wasser beobachtet habe. Wenn es sich dabei um Canang-Sari-Opfergaben handelt, soll das rote Element Leidenschaft, Lebenskraft und Energie symbolisieren, und das grüne für Heilung, Harmonie und Wachstum stehen. Wenn ich sie mal wieder treffe, werde ich sie danach fragen. So oder so erfreue ich mich an dieser kleinen Alltagsverzauberung.
Zu den Stockenten in der Bucht haben sich nun zwei Blässhühner gesellt. Ganz anders als noch im Sommer gibt es dabei überhaupt keinen Stress. Eine Stockente und ein Erpel entfernen sich immer öfter vom Schwarm, um gemeinsam nach Nahrung zu suchen. Dem Gründeln folgt die Familiengründung – zumindest bis zur Eiablage. Je länger ich auf Kormorane blicke, desto mehr fühle ich mich mit den Jahrtausenden vor uns verbunden. Paläontologen sagen, dass diese Vögel seit ungefähr 30 Millionen Jahren existieren. Bei ihrem Anblick spüre ich etwas, dass ich bei anderen Tieren nicht verspüre.
Nachrichten der Woche: „Durch die Einführung der elektronischen Patientenakte (ePA) erfahren viele gesetzlich Versicherte erstmals, was Ärztinnen und Ärzte tatsächlich über ihren Gesundheitszustand dokumentiert haben und stoßen dabei auf Überraschungen: Sie finden Fehler oder sogar erfundene Krankheiten.“ (WDR) Hat mir nie jemand geglaubt. +++ 2024 wandte sich ein ehemaliger Mitarbeiter des Robert Koch-Instituts anonym an die Journalistin Aya Velázquez und übergab ihr vollständig und ungeschwärzt die Protokolle des internen Corona-Krisenstabs plus 10 GB Zusatzmaterial, das u.a. die Mails zwischen dem RKI und dem Bundesgesundheitsministerium enthält. Nun ist es Velázquez gelungen, per IFG-Klage Einsicht in die E-Mails der geheim tagenden Arbeitsgruppe „AG Impfpflicht“ zu erlangen. Die Arbeitsgruppe bestand aus Bundestagsabgeordneten der damaligen Regierungsfraktionen SPD, Grüne und FDP, Leiter war Gesundheitsminister Lauterbach. Auch das ist ein Datenschatz, der gründlich ausgewertet werden muss. Nur auf dieser Grundlage ist eine seriöse Aufarbeitung der Maßnahmen möglich – das Festhalten an längst widerlegten Narrativen wird unsere Gesellschaft (neben anderen Themen) immer weiter spalten. Eigentlich wäre das eine klassische Aufgabe für den Öffentlich Rechtlichen Rundfunk. +++ In der Wochen-taz einer der wichtigsten Artikel des Jahres – Eva-Lena Lörzer schreibt über ihren demenzkranken Vater und streift dabei viele uns unangenehme Themen: Umgang mit dem Verfall eines geliebten Menschen, die eigene Hilflosigkeit, das Ausgebranntsein, Pflegekrise, die Lage in den Heimen, Pflegeroboter, Sterbehilfe … Unbedingt lesen – so etwas findet sich selten in der Zeitung. +++
Der Freitag ist wieder einer dieser Oktobertage, die sich auch im April nicht verstecken müssten. Alles ist dabei – Sonne, Wolken, Regenschauer. Erst böiger, kalter Wind, dann kaum noch ein Lüftchen, das die Blätter verwirbeln würde. Ein Wetter für wattierte Jacken und Westen über dem Pulli. Der Herbst ist überall: Geschäfte werben mit Halloween-Firlefanz um Kunden, Gemüsehändler preisen ihre Kürbisse an. Im parkähnlichen Abschnitt meiner Laufstrecke waren die ganze Woche Fahrzeuge des Grünflächenamtes im Einsatz. Niedrig hängende oder als wenig belastbar eingeschätzte Äste wurden abgesägt und noch vor Ort von einem Mitarbeiter zu Spänen verarbeitet. Das Geräusch der Häcksler und Motorsägen übertönten das Rauschen der Blätter und das Zwitschern der Vögel.
Nach vier Wochen verordneter Zurückstellung versuche ich es erneut mit dem Blutspenden. Es ist das alte Lied: Beim Eisenwert steht es auf der Kippe. Die ersten drei Messergebnisse sind etwas zu niedrig. Der Anamnesearzt will schon abbrechen, als ich ihn zu einem letzten, vierten Test überrede. Und siehe da – grünes Licht: Eine Spende ist möglich. Das Phänomen hatte ich bei mir schon einige Male beobachtet. Während die ersten Bluttropfen einen zu niedrigen Eisenwert aufwiesen, bessert sich das bei wiederholten Messungen. Der Arzt räumt ein, dass es auch am Messgerät liegen könne. Sie würden im nächsten Jahr ein anderes Gerät bekommen, das genauer messen solle.
Nach den Spenden fühle ich mich neuerdings schwindelig und schlapp. Der älter werdende Körper steckt den Verlust des halben Liters möglicherweise schlechter weg. Früher gab es die Regel, dass man nur bis zum Alter von 60 Jahren Blutspender sein dürfe. Das wurde gekippt. „Sie können jetzt solange Blut spenden, wie Sie sich gut fühlen“, erläutert die Schwester am Tresen. Nun, es fühlt sich allmählich nicht mehr so gut an. Auch kostet es mich mehr Disziplin und Anstrengung als früher, den Eisenwert auf die gewünschte Höhe zu bringen. Möglicherweise erledigt sich das Thema daher bald von selbst – und vielleicht übernehmen ja meine Kinder den Staffelstab.
Am Nachmittag schleiche ich noch durch unsere Einkaufs- und Restaurantmeile – das tut dem Kreislauf gut, ist aber keine größere körperliche Anstrengung, die man nach einer Blutspende vermeiden sollte. Nach dem Regen und der Kälte stehen die Wirte jetzt vor der nächsten Mühsal – weil die Straße inzwischen einen Alleecharakter bekommen hat, liegen nach jedem Windstoß große Mengen Laub auf den Tischen, Bänken und Jalousien. Trotz der bunten Blätter wirkt die Straße grau und öde. Die Freisitze bleiben zunehmend leer.
Am Samstag wage ich einen kurzen Lauf. Ich bin definitiv nicht in Form. Ich habe überhaupt keine Kraft in den Beinen, die Fußsohlen schmerzen – doch ich will, ich muss mich etwas bewegen. Es ist deutlich kälter als in den Tagen zuvor, selbst kurz vor dem Mittag sind es nicht mehr als 6 Grad. Dafür entschädigen ein strahlend blauer Himmel und das leuchtende Gelb der Laubbäume.
Vom Fahrrad aus brüllt ein Trainer seine Kanuten an, die sich über das mit Laub bedeckte Wasser schieben. Auf dem Fußballplatz des SV Schleußig haben die Kinder der Heimmannschaft einen Kreis gebildet und schwören sich mit den Armen auf den Schultern der Nebenleute auf das Spiel ein. Menschen joggen in allen Richtungen durch den Wald, wobei sie, genau wie ich, auf die befestigten Strecken ausweichen. Die Waldwege sind durch die aufgestaute Nässe schmierig und weich – zu unangenehm zum Laufen.
Aber das Licht! Das Licht und die Farben waren es wert.