Christoph Sanders, Thalheim

Der fünfte Sonntag nach Trinitatis beginnt mit einem Andreaskreuz, das zwei Flugzeuge am wolkenlosen Himmel hinterlassen haben. Milde Sonne bei leichtem Morgenwind. Fahrt nach Berlin. Treffe im Zug zufällig die Cellistinnen des Vorabends, Annette Jakocvcic und LiLa – tolles Gespräch! Durch den Transport von Asien nach Europa und die hohe Luftfeuchtigkeit scheint das Cello von LiLa gelitten zu haben – möglicherweise gibt nach über zweihundert Jahren nun die Verleimung nach. Ihr Instrument stammt aus der Mailänder Schule – die Italiener hatten den unschätzbaren Vorteil, die harten, langsam gewachsenen Hölzer der Alpenfichte und des Bergahorns verbauen zu können. LiLa hat ihr Cello nur geliehen – und wird es wohl auch niemals besitzen. Selbst der Weltklasse-Violinist und Star Frank Peter Zimmermann musste die Geige, mit der er bekannt geworden war, nach zehn Jahren an den Eigentümer zurückgeben, weil er die Kaufsumme von etwa fünf Millionen Euro nicht aufbringen konnte. Das ist kein Einzelfall. Zuvor auf dem Bahnsteig ein komplett anders geartetes Gespräch mit einem jungen Hertha-Fan – man zittert mit …

Bin in einer neuköllner Boulderhalle verabredet. Mitteljunge Väter führen auf der Terasse Hipstergespräch. Ein Stück Bananenbrot 4 Euro. Ich hatte zum Glück vorher auf der Sonnenallee einen Chicken Döner gegessen. Scharfe Soße zur Verdauung, Augustiner Edelstoff zur Verdünnung. Unterzuckerte, schwitzende und dehydrierte Kids in Magnesiawolken. Single-Elternteile achten penibelst darauf, dass ihr Nachwuchs an den einzelnen Stationen die Stempelkarte vorlegt. Kindergeburtstage, die zunehmend als Event zelebriert werden. Ich gehe. Vor dem Ausgang steht in vollster Pracht ein Götterbaum. Wenn man dessen Blätter zerknautscht, duften sie nach Sencha.

Der Flohmarkt in Schöneberg immer noch wie früher: kartonweise LPs, CDs, Fotoapparate, Teppiche, Schuhe, Bilderrahmen – viel Müll. Menschen, die mit Hilfe ihres Smartphones versuchen, Marktwerte zu taxieren. Hat der Händler bereits vorher gemacht. Kunstbände in großer Zahl: alle für nen Fünfer. Einst sündhaft teuer, jetzt Altpapier. Ich begnüge mich mit drei kleinen Hermes-Parfumproben. Nur einer von hundert Ständen hat überhaupt Proben oder echte Parfums. Der Rest hat Neoschrott, den ich bei Rossmann für 20 Euro bekommen kann. Auch wenn es seit Ewigkeiten Krempel gibt, findet hier gerade ein Epochenwechsel statt. Es kommen keine Bücher mehr nach, keine Qualitätsware, keine Tonträger. Ich vermisse Fritz Tonn mit seinem Bücherstand – den traf man hier über Jahre zuverlässig an.

In der Motzstraße findet ein lesbisch-schwules Stadtfest statt – im Prinzip ein Regenbogendisney für Provinzler. In Spandau vor der Abfahrt noch ein Kioskbier, direkt an der Havel unter Linden. Ein völlig anderes Klima als der Asphalt der Sonnenallee. Im Nachtzug Panzergrenadiere und Pioniere, die in die Havelberger Elb-Havel-Kaserne einrücken. Wer mehr als drei Monate dabei ist, darf bis 3 Uhr kommen. Mich erwartet ein schwülwarmes Dorf. Alles schläft.
