Christoph Sanders, Thalheim

Der Dienstag startet mit supermildem Herbstlicht – der Himmel in Pastelltönen, die im Laufe des Morgens immer heller werden. Schwärme kleiner Fliegen, die von Spatzen, Rotschwänzen und Grasmücken gejagt werden. Die Grasmücke war noch nie so nah und offen bei uns am Haus – ein feiner kleiner Vogel im helloliven Tarnkleid mit neapelgelbem Streifen, der den großen Haselstrauch umrundet. Dohlen reden hoch über meinem Kopf, Stare lassen ihren langen Revierruf ertönen. Im Wochenblatt für Landwirtschaft und Landleben wird ein Hof mit 150 Milchkühen vorgestellt, auf dem seit 2012 automatische Melksysteme eingesetzt werden. Seit 2023 dann zwei Roboter der neuen Generation, die eine tägliche Milchleistung von 5000 Litern ermöglichen. Wenn da jetzt noch die KI dazukommt, sparst Du als Bauer am Ende viel Zeit und Geld. (Aber KI kann keine Tiere streicheln und trösten …) Die Milchpreise sind stabil – circa 60 Ct/kg für bio und 50 Ct/kg für die konventionelle. Dinkel wird immer mehr zur Alternative für Weizen, Mais gedeiht besser in Höhenlagen.

Mit dem Gents Touring das neue Hinterrad eingeweiht. Die 100 Kilometer runter zum Rhein sind mir gut bekannt. Ich habe also Vergleichspunkte, kann fünf Stunden den Körper befragen. Das Ganze ist ein Ausdauertraining im Hinblick auf die Tour Hamburg – Berlin in zehn Tagen. Wichtig heute: möglichst wenig essen, nicht überziehen. Ich wundere mich über die für einen Vormittag sehr belebten Straßen – wahrscheinlich ist das frische Geld schon auf den Konten. Überall volle Supermarktparkplätze – ich erwische aber zum Glück einen fast leeren Netto (man muss dort eine Rampe hoch). Die Fahrt ist durch die unerwartete Verkehrsdichte etwas unangenehm. Der Rückweg erheblich entspannter, nachdem ich die Rheinstrecke fürs Lahntal verlasse. Immer stärkere Wolkenballung, die Temperatur geht um 4 Grad Celsius zurück. Ab Nassau liefere ich mir ein Wettennen mit dem drohenden Schauer – das er gewinnt: Bei Obernhof heftiger Regen, so dass ich kurzentschlossen abbiege – ein Sprint zum Bahnhof, wo ich mich unterstelle, um dann mit dem Zug weiterzufahren. Noch 20 Minuten Wartezeit – doch da höre ich die eiserne Brücke zittern: Es ist der rote Triebwagen, der verspätet ankommt. Umso besser! Nach zwei Stationen steige ich wieder aus und setze die Radreise fort. Zuhause Entspannung mit dem Ami-Automechaniker – die letzte halbe Stunde des Videos ein Roadtrip an die kanadische Grenze. Unglaublich, welche Wirkung diese stillen, langsamen Bilder auf mich haben, wie in mir das Gefühl von Weite und Endlosigkeit entsteht. (KI kann auch keine Schrauben lösen!)

Am Mittwoch gegen 7 Uhr Orion gleich neben dem Kirchturm. Pracht und Kälte kommen gemeinsam – nur noch 4 Grad Celsius. In aller Stille sind die Wolkenberge abgezogen – ein angenehmer Kontrast zum Schauertag gestern. 1. Oktober: Nur noch zwölf Stunden Sonne. Morgentee mit dem Finanzfacharbeitersohn. Über zehn Jahre ist er nun schon in der Firma, jetzt geht es um eine Beförderung nach dem Prinzip up or out. Da gelten dann keine fachlichen Kriterien mehr, sondern politische – der Daumen des Cäsar. Er berichtet über Folgen des extrem hohen Leistungsdrucks bei überforderten Mitarbeitern, über den Wandel der Analystenwelt durch KI-Tools. Vor etwa einem Jahr ging das los. Die Entlassungen treffen vor allem die unteren und mittleren Stufen – wer die besten Prompts schreibt, überlebt. Unsere beiden Kaninchen bevorzugen analogen Schachtelhalm.

Nachricht am Rande: RWE zieht sich aus dem 10-Milliarden-Dollar-schweren Wasserstoffprojekt in Namibia zurück – die Nachfrage in Europa war zu schwach. Wenn der Gewinn ausbleibt, setzt der Realismus ein. Wie bei vielen Formen der Energieerzeugung liegt auch beim „grünen Wasserstoff“ das Problem in der vorgelagerten Kette: Ob Kohle, Gas, Öl, Ammoniak, Methan aus Gülle – produziert wird oft unter schwachen Umweltstandards in wenig kontrollierten Gebieten außerhalb Europas. Dazu kommt der weite Transport plus eine neue Hardware, die in der Rechnung nicht einmal mitgedacht ist. Klar, verbrennt das Endprodukt bei uns am Ende dann „sauber“ – der schmutzige Teil wurde ja aus dem Blickfeld geräumt. Nicht mehr zu leugnen sind die Schwierigkeiten der großen Energieverbraucher in Deutschland, die nach und nach Betriebssteile schließen müssen. In der alten bipolaren Weltordnung hätte man das leichter abfangen können – vieles war längst in asiatische Billiglohnländer verlagert. Doch nach dem Ende der Russland-Deals und dem deutschen AKW-Aus stößt man dort auf die nächste Mauer – die Machtverhältnisse haben sich verschoben. Die Erzählung von der Globalisierung als Friedens- und Demokratiebringer trägt auch nicht mehr automatisch. Heute gilt mehr denn je: Wer die Energie kontrolliert, hat die Macht.

