Helko Reschitzki, Moabit
Monatsspreu 01/2025

Der norddeutsche Milchbauer bei der Vorstellung des „Kritischen Agrarberichts“, der in der Böll-Stiftung sehr ruhig von seinen harten Preisverhandlungen mit dem REWE-Konzernvorstand berichtet ohne diese in Freund-Feind-Kategorien zu bewerten und darüber hinaus nüchtern und differenziert ultra-komplexe Vorgänge beschreibt; und neben ihm die phrasendreschende, vieles ins Ideologische drehende Moderatorin, die manipulative Sachen sagt wie: „Da sind wir uns hier im Raum ja alle einig.“ Nö, vielleicht ja ooch nicht, lass doch erstmal anhören und dann bitte noch etwas darüber nachdenken.
Der neue Präsident der USA, der einen Tag nach seiner Vereidigung das 500-Milliarden-Dollar-KI-Projekt „Stargate“ verkündet, bei dem perspektivisch von Menschen Blutproben genommen und bei der Feststellung von Krebszellen innerhalb von 2 Tagen personalisierte mRNA-Impfstoffe dagegen entwickelt werden sollen. Womit sich der Kreis zur „Operation Warpspeed“ schließt, die Trumps Kabinett zum Ende seiner vormaligen Amtszeit startete.
Die Birkenporlinge im süd-östlichen Teil des Grunewalds, die wie Pappmachéraumschiffe aus einem Fünfziger-Jahre-Schwarz-Weiß-Science-Fiction-Film von Jack Arnold aussehen.
Mein siebenundachtzigjähriger Tischtenniskumpel Hermann, der mir von seinem Geburtsort Rotenburg an der Fulda erzählt. Wir rätseln, in welcher Liga Hessen Kassel Ende der Siebziger spielte und stellen fest, dass man manche Städte nur deshalb kennt, weil es dort einen bekannten Sportverein gibt (Gummersbach).
Das Zeitlupenballett des Mäc-Geiz-LKWs mit dem BVG-Linienbus auf der Bundesallee in Steglitz – so, als würden zwei Sumoringer in einem Schwimmbecken voller Lebertran miteinander tanzen, ohne dass sie sich berühren dürfen.
Ich, der aus der Kammer einen Boskoop hole und an der Kiste lese, dass die etwas angeschlagenen Äpfel, die ich seit Jahren kaufe, jetzt als „Schalenfehler“ klassifiziert werden – ein Begriff, der mir sofort unangenehm ist. Mir kommt ein Zitat aus Tetsurō Watsujis 1935 geschriebenem Büchlein „FUDO 風土 Wind und Erde“ in den Sinn: „In Europa gibt es kein Unkraut.“
Der mir bis dahin unbekannte Pilz Judasohr, den mir ein Gärtner auf einem Holunderbusch zeigt und erklärt. Später lese ich, dass sich der Namensgeber Judas Iskariot an einem Holunderbaum erhängt haben soll, man munkelt, dass es dabei um Freundesverrat, Geld und ein Grundstück ging. In China wird der Pilz auch Wolkenohr und Schwarzes Holzohr genannt und ist eine beliebte Suppeneinlage.
Die Köchin aus dem Hospiz und deren Freude über die frischen, hochwertigen Zutaten, die sie dort täglich verwenden kann.
Der vor 14 Tagen in Wien beigesetzte Hermes Phettberg, der zu einem Freund gesagt hat, dass er sich den Himmel wie das Internet vorstelle.
Die gestrige Nachricht vom Tod der von mir sehr verehrten Marianne Faithful und die Erinnerungen an einen aufs Herrlichste ausufernden Bockbieranstich in einer moabiter Nahkampfdiele, bei dem jemand auf der Jukebox „Broken English“ drückte …
„Und dort, wo es in der Nacht furchterregend gewesen war, lagen, beleuchtet und arm, weite Räume.“ – Andrej Platonov in seinem 1927 erschienenen Roman „Tschewengur. Die Wanderung mit offenem Herzen“, aus dem Russischen von Renate Reschke, Suhrkamp, 2018.

