Frank Schott, Leipzig
Das Schöne am Wohnen im Eigenheim ist, dass der Lärm anderer Mieter entfällt. Na gut, wir haben Kater, von denen der eine halb fünf an der Tür zum Schlafzimmer kratzt und herzerweichend jault, aber das ist was anderes. Worauf ich hinaus will: ein superschickes, komfortables Hotelzimmer nützt dir nichts, wenn der Gast über dir ab vier Uhr früh durch sein Zimmer stampft …
Tag 5 der Elberadtour. Es ist Regen angesagt. Ich beschließe, es langsam anzugehen. Ich mache einen kleinen Fünf-Kilometer-Lauf vom Hotel, über den Campingplatz, um die Altstadtinsel herum und mit einem kleinen Umweg zurück. Havelberg heißt nicht umsonst so – es geht kräftig auf und ab. Unter die Dusche, einen Kaffee aus der Kapselmaschine, ein paar Nüsse und einen Energieriegel – seit ich unterwegs bin, habe ich morgens keinen allzu großen Appetit. Ich verstaue den viel zu üppig bemessenen Krempel in die Radtaschen, pumpe Luft nach – und bin on the road again. Auf nach Dömitz!

Ich verlasse die Stadt in Richtung Kaserne. Hinter dem Ortsausgang tauchen Warnschilder auf. Links geht es zum PiübPl. Die Armee liebt Abkürzungen. Diese steht für Pionierübungsplatz. Im Wald rechts von mir üben die anderen Truppenteile. Plötzlich knallen in der Nähe Schüsse – die sich dann aber als PKW-Anhänger mit klappriger Luke entpuppen. Metall schlägt auf Metall.

Hinter Quitzöbel will ich unbedingt auf die Insel zwischen Elbe und Havel. Ich verpasse den Abzweig und muss einen Waldweg nutzen. Dadurch erfahre ich aus erster Hand, warum von der Eiszeit geprägte Landschaften auch Sander heißen: Ich bleibe stecken.

Während ich mein Fahrrad schiebe, springt vor mir ein Rudel Rehe über den Weg. Jedes zweite Tier schaut mich an. Dann bin auf der schmalen Insel. Links ein Fluss, rechts ein Fluss – und direkt von vorn heftige Böen. Die Wolkendecke reißt immer wieder auf. Die Sonne taucht das Land in ein güldenes Licht. Wiesenkräuter und Äste wiegen sich im Wind. Schmetterlinge und Schwalben tanzen. Das vollkommene Glück. Und niemand außer mir ist hier. Mir geht eine plattdütsche Liedzeile durch den Kopf, die meine Empfindungen trefflich beschreibt: „Dor is mine Heimat, dor bün ick to Hus“.

An der Stelle, wo die Havel in die Elbe mündet und ich über eine Schleusenbrücke die Insel verlasse, treffe ich auf eine etwas über sechzigjährige Radfahrerin. Wir fotografieren uns gegenseitig. Sie hat eine kleine Havelrundfahrt gemacht. Ihr Fahrrad ist schwer bepackt: „Ich habe mein Zelt dabei, aber es war viel zu kalt zum Zelten.“ Kalt ist es immer noch, maximal 15 Grad, aber durch den Wind fühlt es sich weitaus kühler an.

Ich fahre weiter nach Rühstädt, dem berühmten Dorf der Störche. Die Vögel selbst sehe ich nicht, aber ihre gewaltigen Nester auf den Dächern. Rühstädt ist eines der schmucksten und aufgeräumtesten Dörfer, die ich je kennengelernt habe. Ein Idyll, das von der niedrig stehenden Morgensonne perfekt ausgeleuchtet wird.

Die gewaltige Eisenbahnbrücke vor Wittenberge ist tot. Seit Anfang des Monats ist in weiten Teilen von Brandenburg und Mecklenburg, dem Norden von Sachsen-Anhalt und den Regionen westlich von Hamburg wegen einer Generalsanierung der Zugverkehr komplett gesperrt. Eine unendliche Belastung für Menschen ohne Auto. Bis April 2026 hat die Bahn alles stillgelegt, aber wenn ich zum Beispiel an Stuttgart 21 denke, könnte daraus auch April 2027 werden.

Der Wind kommt permanent seitlich oder direkt von vorne, es ist weiterhin eisig kalt. Ich muss in Wittenberge unbedingt meinen Energiespeicher auffüllen! Die Straße ins Stadtzentrum ist von mehreren Feuerwehrfahrzeugen blockiert. Rauch sehe ich keinen. Stattdessen höre ich laute Musik. Ich schlängele mich zwischen einem Löschzug und einem roten Zelt durch und bin: auf dem Stadtfest von Wittenberge! Und genau neben mir schenken die Kameraden direkt aus ihrer Gulaschkanone Erbsensuppe mit Bockwurst aus. Ein Traum!!! Warm, nahrhaft, lecker.

Nach diesem perfekten Mahl gehts zurück auf den Deich – noch gut 40 Kilometer bis Dömitz. Wieder kämpfe ich gegen den Wind. Eine Frau mit Hund kommt mir entgegen. Es ist, kein Witz, ein Windhund.
Plötzlich riecht es nach Schaf, aber erst nach zwei Biegungen sehe ich die Herde – an diesem Tag trägt der Wind Gerüche weit. Schafe tragen mit ihren Tritten auf den Hängen mehr zur Pflege der Deiche bei, als es sich manche Gemeinde finanziell leisten kann. Es ärgert mich zutiefst, wenn ich lese, dass Schäfer wegen der Wolfattacken, der teuren Schutzmaßnahmen, einer überbordenden Bürokratie und der ständigen Sorge um ihre Tiere aufgeben müssen. Wer den Wolf willkommen heißt, macht dies oft nur, weil er selbst in der Stadt lebt und sein Fleisch aus der Supermarktkühltheke kommt.

Nach einer Pause mit Radler und Pflaumenkuchen komme ich in Schwierigkeiten: Es ist weiterhin kalt. Es herrscht weiterhin kräftiger Gegenwind. Und nun ziehen von rechts bedrohlich dunkle Wolken auf. Die haben mir gerade noch gefehlt. 20 Kilometer vor Dömitz, durchgefroren – und bald auch noch pitschnass? Ich trete wie ein Berserker in die Pedalen. Wenn mir die Böen ins Gesicht pfeifen, muss ich die Gänge sehr weit runterschalten. Mit 13 bis 14 km/h laut Tacho habe ich dabei fast das Gefühl, stehenzubleiben. Hinter einer Biegung greift der Wind von der Seite an, so dass ich ins Schleudern gerate und fast vom Deich geblasen werde. Aber dann habe ich das Glück auf meiner Seite – der Fluss verläuft jetzt so, dass der Wind von hinten kommt. Mit knapp 30 km/h fliege ich über den Schotter. Hier zu stürzen, wäre echt unangenehm. Es geht alles gut – nach 91 Kilometern erreiche ich Dömitz. Auf den letzten Metern erwischt mich doch noch der Regen. Egal – nichts, was eine warme Dusche nicht beheben könnte.

Mir ist jetzt endgültig klar, dass ich es nicht bis Hamburg schaffen werde – der Westwind ist eine Qual. Morgen kann ich noch weiter Richtung Nordwesten fahren, doch am Montag muss ich mich auf den Rückweg machen, da ich für Mittwochabend in Magdeburg Zugplätze für mich und mein Fahrrad reserviert habe.
