Helko Reschitzki, Moabit

Am Mittwoch zwei scheinbar widersprüchliche Wettervorhersagen: Einerseits drei Schildkröten auf dem Sonnenbaum, andererseits sehr viele Schwalben direkt über dem Schlachtenseewasser. Letztendlich haben beide recht: Vormittags regnet es, am Nachmittag reißt die Wolkendecke auf. Am Donnerstag um 6 Uhr 12 Grad Lufttemperatur, um 7 Uhr 14°, um 8 Uhr 16°, um 9 Uhr 18°, um 10 Uhr 20°, um 11 Uhr 22° und um 12 Uhr 24° – zum Glück bin ich kein Zahlenmystiker. Ab da ist es nach einer langen, etwas kühlen, Regenzeit wieder trocken und sommerlich warm; am Samstag steigt das Thermometer auf 29°.

Es mag Zufall sein, doch seit dem Tod eines der Blässhuhnküken hat sich die Dynamik in unserer Bucht verändert. Über Tage hinweg ließen sich von den zuvor regelmäßig auftauchenden siebzehn Wasservögeln nur ein oder zwei, manchmal gar keine blicken. Erst am Sonntag wurde es wieder voller: Fünf Stockenten und zwei Schwäne gründelten und putzten sich. Von den Rallen bekam ich, aus der Ferne, nur noch ein Alttier zu Gesicht. Ornithologische Buchtkonstante sind die Schilfrohrsänger, die unermüdlich ihren Namen bestätigen und dabei sanft ihr Habitat hin und her wiegen.

Am Donnerstagnachmittag entdecke ich im wilmersdorfer Schoeler-Park inmitten der dort ansässigen, zahlreichen Wildkaninchen einen Rotfuchs. Die Tiere beachten einander nicht. Der Fuchs und ich schlagen zufällig denselben Weg ein. Nach kurzer gegenseitiger Einschätzung ignorieren dann auch wir uns weitgehend und trotten nebeneinander über das Pflaster der Wilhelmsaue. Mein Gefährte hebt zwischendurch das Bein, um sich an einem Fiat zu erleichtern – ich hatte zuvor im Urinal des Nachbarschaftshauses, in dem ich regelmäßig Tischtennis spiele, das Wasser abgeschlagen. Dortselbst erfreute mich ein Plakat neben dem Hofeingang, auf dem namentlich jedem Helfer gedankt wird, der zum Gelingen des Sommerfestes beitrug – eine kleine, feine Geste. Mit einem meiner Mitspieler rede ich über die Herkunft unserer Namen, die wir mit der Geburtsregion abgleichen. Mit einem anderen unterhalte ich mich über Chanelling.

Am Samstag kommen zeitgleich mit mir zwei andere Männer an der Buchtbank an, wir sind uns noch nie begegnet. Wir setzen uns hin, sagen kurz „Hallo“, dann weiter nichts, schauen aufs Wasser, atmen tief die Sommermorgenluft ein. Der ganz links fängt auf einmal an zu lachen: „Kiek ma, wir drei auf der Bank!“ Darauf der in der Mitte: „Herrlich, oder!“ Und ich: „Der beste Ort, an dem wir gerade sein können.“ Wir kommen ins Gespräch, lobpreisen den See und das Drumherum. Die beiden sind gebürtige Westberliner, der eine etwa so alt wie ich, der andere vielleicht 70. Sie erzählen vom Mauerfall, wie schön es ist, dass nun alle in Freiheit leben können und die Stadt wieder eins ist. Dabei ordnen sie sich und ihr Leben, bis hin zur Gegenwart, in den großen Jahrhundertbogen ein, jammern dabei nicht, sind demütig. Das begegnet mir sehr oft bei diesen alten Frontstadtbewohnern. Icke: „Ihr wart ja genauso eingemauert.“ Sie erzählen, garniert mit dem ortstypischen fatalistischen Humor, ein paar großartige Storys von damals. Dann muss der Jüngere los – herzliche Verabschiebung. Der Alte und ich bleiben noch ein wenig. Er sagt, dass er jeden Sonnabend um die Zeit da ist, da dann seine alte Laufgruppe ihre Seerunden dreht. Er selbst darf wegen seiner Herzerkrankungen leider keinen Sport mehr treiben, komme aber wie gewohnt zum Treffpunkt. Während die anderen joggen, geht er zur Bucht. Anschließend treffen sich alle in der „Fischerhütte“. So nähme er noch Anteil, kriege seinen Hintern hoch: „Watt willste machen, wenn dit Herz nich mehr mispielt … Aber die janze Zeit nur rumliejen jeht nich! Man muss sein Schicksal annehmen, so schwer es eenem ooch fallen mag.“ Ich berichte ein wenig von meinem Krankheitskram – wir sehen Parallelen. Auch wir verabschieden uns herzlich – wär schön, wenn man sich mal wieder sieht … Ich muss öfter an die junge Schönebergerin Rabea Rogge denken, die im April als erste Deutsche im Weltall war und auf dem Flug eine Kopie der Freiheitsglocke aus ihrem Rathaus mitnahm. Die Trümmerfrauen und Rosinenbomber, 17. Juni und 13. August, JFK, der 9. November 1989, Love Parade, Reichstagsverhüllung und das Sommermärchen – all das steckt ja ganz tief in der DNA der Stadt und ihrer Bewohner.

Seit Montag sind auch auf der Rehwiese die ersten Brombeeren reif. Sie schmecken ganz anders als die am Bahndamm; insgesamt sind viele verfault. Zwei Kilometer Luftlinie, andere Bedingungen. Das Gras taufrisch, ich lasse meine Socken auf der Buchtbank trocknen.
