Christoph Sanders, Thalheim

Milder, verschleierter Donnerstagsbeginn. Ab 5 Uhr unterwandert das Rollgeräusch der Landstraße meinen Schlaf. Bin jetzt wieder im 7-Stunden-Rhythmus, das heißt Dämmererwachen ab 6:30 Uhr. Der Grünschnitt wurde soeben piepend verklappt – die Tonne darf nun neu befüllt werden. Mit dem Rad gehts auf den Hügel – Stielkotelett oder Putenschnitzel, das ist hier die Frage. Im Vorbeifahren gehe ich mal das lokale Bevölkerungsample durch: Gieriger Kleinunternehmer – check. Entspannter Villenbesitzer mit Unternehmen in Frankfurt – check. Frühere Bauern als Land- und Immobilienbesitzer – check. Haus- und Grundeigentümer mit Sportpferden – check. Facharbeiter in leitender Funktion – check. Facharbeiter mit eigener Autowerkstatt zum Nebenverdienst – check. Bundeswehr- und andere Staatsdiener – check. Rumäne mit Schrott- und Lumpenhandel – check. Dorfprolls mit kleiner Mopedwerkstatt – check. Die scheinheiligen Moralapostel im Dienste der Kirche – check. Eine multiproblematische und sozial komplett desintegrierte Alkoholikerfamilie, wo die Kinder nicht mehr in die Schule gebracht werden – check. Türkische Kleinunternehmer – check. Ein kurdisch-türkischer Geldwäscher – check. Russische Autodealer – check. Der fahrende Händler Hassan mit Wohnmobil und Hühnerwiese – check. Zwei Asylantenheime – check. Integrierte Sri-Lanker – check. Nicht-integrierte, oft kriegstraumatisierte Syrer, Sudanesen, Afghanen – check. Gibt es größere Konflikte? Eigentlich nicht. Achtzig Prozent der Genannten bewegen sich morgens hurtig an ihre Wirkungsstätten im Umland der A3. Deutsches Hinterland.

Im Hintergrund gestalten größere Kräfte das Land. Es wird schriller, seitdem die chinesische und us-amerikanische Nachfrage nach deutschen Waren gekippt ist. Unser Wohlstand stammt aus den Exporten, nicht aus der Binnennachfrage. Alles verschärft sich, wird teurer und unsicherer, weil Billigenergielieferant Russland wegfiel. In der gesamten Mobilitätsbranche (inklusive Autoindustrie) gibt es nun zu große Produktionskapazitäten, also mehr Fabriken, Maschinen und Arbeiter, als benötigt werden. Die USA hatten diese Krise 1973 – in den zentralen Autostädten Detroit und Flint wurden massenhaft Mitarbeiter entlassen, die Werke geschlossen und Fertigungsstätten verlegt. Von diesem brutalen Niedergang haben sich die Regionen bis heute nicht erholt, sind Umwelt- und Sozialwüsten geblieben. Was Leute wie Poschardt oft übersehen: Schwere Armut führt häufig eben nicht zu mehr Eigeninitiative oder Mobilität, wirkt im Gegenteil lähmend und immobilisierend. Menschen in prekären Verhältnissen konzentrieren sich auf das unmittelbare Überleben, das Dach überm Kopf, die Handvoll Kartoffeln. Armut schränkt Handlungsspielräume massiv ein … Das alles kann man hierzulande in Ansätzen bereits in Orten wie Wolfsburg oder den großen Chemiedreiecken beobachten.

Die Hitzeglocke führte zu einem Schub warmer, angenehmer Luft. Die ersten Staubwolken steigen von den Kornfeldern auf – nun gehts mit der Ernte los. Unsere Eberesche steht kurz vor der Vollreife – die Amseln sind so wild nach den Beeren, dass sie fast zahm werden.

