Christoph Sanders, Thalheim

Nach anderthalb Wochen Prignitz wieder daheim. Für mich gings mit dem Rad zurück. Am Freitag 210 Kilometer von Bad Wilsnack nach Hildesheim. Übernachtung und Ruhetag bei der ältesten Tochter. Wir genießen ein saftiges Schweinskottelett vom Bio-Bauern Schulze – der Wochenmarkt ist eine Oase. Am Sonntag dann von Hildesheim nach Thalheim – aufgrund des einsetzenden Starkregens das Stück von Kassel nach Treysa mit der Main-Weser Bahn. Gesamtstrecke Rad: 480 Kilometer. Die Familie war am Abend zuvor mit dem Auto eingetrudelt – man freut sich über den durchnässten Heimkehrer.

Fahrt durch ein sattes, alterndes Land, dessen Lücken und Brüche nicht zu übersehen sind. Kalbe – Wolfsburg – Hildesheim. Die ausgestorbene Altmark, die Heimatschutzarchitektur der Stadt des KdF-Wagens, der gesegnete Rückzugsort mit seinen vielen großen Kirchen. Üppige Weizen- und Rübenfelder stehen zur Ernte bereit.

In der Altmark sind die Trafotürme das letzte verbliebene Zeichen der Moderne. Am Stadtrand von Kalbe keine größeren Märkte, kein Schnellrestaurant, keine Plakatwerbung – die Marketing-Analysten sprechen eine deutliche Sprache. Auch der Rad-Tourismus findet woanders statt, es gäbe sonst mehr Eiscafés. Im Gegensatz zur Prignitz sieht man keine Glasfasernetz-Bagger. Wer hier als Bauer überleben will, braucht große Flächen. Proteste gegen Windräder, obwohl in dieser entvölkerten Gegend nur sehr wenige Anwohner belästigt würden – rund um Hildesheim sieht das schon anders aus.

Wolfsburg ist das Eisenhüttenstadt des Westens. Flieht, solange ihr noch könnt, rufe ich den Menschen an der Bushaltestelle zu. Die Monokultur des Automobils hat zu gewaltigen Siedlungsgebilden geführt. Wo weitergebaut wird, geschieht das in gleichförmiger Tristesse. Obwohl kaum eine Stadt so viele vierspurige Trassen hat, werde ich hier am häufigsten angehupt. Zentrale Achse ist die breite Porsche-Straße, die direkt am VW-Werk entlangführt. Schnell nach Braunschweig. Kaum ist man da, und wieder hindurch, spürt man die entspannte Ländlichkeit der Börde mit ihren kleinen Städten, Dörfern und Alleen. Auf der B1 bin ich auf einmal allein – ein großes Gefühl.

Den Abriss der alten Bundesrepublik sieht man am ehesten in den kleineren Mittelstädten wie Hann. Münden. Absolut trostloser Leer- und Stillstand; in den lang schon nicht mehr ausgebesserten Straßen steht das Regenwasser. Häugfigster Kulturfolger sind international betriebene Gebrauchtwagenplätze, alles andere rottet einfach vor sich hin. Die Tankstelle an der Ausfallstraße macht von ihrer Alleinstellung mit Fantasiepreisen Gebrauch – und wird von mir geschnitten. In Kurzeck-Nähe fallen Mirabellen und Kischpflaumen vom Baume – ich fülle mir für die letzte Wegstrecke die Taschen.

Deutschland war bereits vor der Teilung kulturell zersplittert – und ist es auch nach der Wiedervereinigung geblieben. Ein tatsächlicher Austausch zwischen den einzelnen, parallelen Gesellschaften findet wohl eher auf jeder x-beliebigen Straße Berlins als in Kalbe statt. Und wo die Wirklichkeit dermaßen heterogen und komplex ist, wird gern zu vereinfachten Erzählungen und Schlagworten gegriffen.

Nach Starkschauern ein windiger Montag. Im Garten sind die ersten Brombeeren reif. Die Heimatluft, sie riecht so gut. Regeneration. Ich lese Stifters „Der Nachsommer“, ein Buchfund aus Hildesheim:
„Ihr werdet wissen, daß Anzeichen bestehen, welche nur einer gewissen Gegend eigen sind und von den Eingeborenen verstanden werden, denen sie von Geschlecht zu Geschlecht überliefert worden sind. Ihr wißt, daß in Gegenden ein kleines Wölklein, an einer bestimmten Stelle des Himmels, der sonst rein ist, erscheinend und dort schweben bleibend, ein sicherer Gewitteranzeiger für diese Gegend ist, daß ein trüberer Ton an einer gewissen Stelle des Himmels, ein Windstoß aus einer gewissen Gegend her Vorboten eines Landregens sind und daß der Regen immer kömmt.“
Adalbert Stifter „Der Nachsommer. Eine Erzählung“, 1857
