Frank Schott, Leipzig
Ich sitze vor unserem Hauseingang und verschnaufe. Ich habe den Morgen für einen 12,5-Kilometer-Lauf genutzt. Auf der kühlen Stufe zu verweilen, hilft mir, zur Ruhe zu kommen.
Entlang meiner Strecke am Elsterflutbett wachsen die Brombeeren. Ich wundere mich, dass ich heute nur so wenige reife Früchte sehe. Kurz darauf die Aufklärung: Vor mir ist ein älterer Mann mit einem Plastikeimerchen unterwegs. Lust auf Brombeeren hätte ich auch, aber beim Laufen eine Pause zu machen, bringt den Atemrhythmus durcheinander. Das merke ich schon bei den kleinen Fotopausen.

Heute ist Sonntag. Das heißt, es gibt wenig Verkehr. Also kann ich über die Klingerbrücke in Richtung Stadion huschen. Ich laufe eine Runde um den Vorplatz. Der dortige 43 Meter hohe Glockenturm ist nach dem Ringer und Widerstandskämpfer Werner Seelenbinder benannt, der 1944 von den Nationalsozialisten hingerichtet wurde.

Das ursprüngliche, über einhunderttausend Besucher fassende, Zentralstadion wurde 1955-56 auf Bergen von Kriegsschutt errichtet. Es war die Heimstätte des 1. FC Lokomotive Leipzig. Noch heute schwärmen die Schlachtenbummler vom 1:1 im Europapokal gegen den SSC Neapel mit Sportskamerad Diego Maradona. Außerdem fanden hier 49 Länderspiele der DDR-Fußballnationalmannschaft, das Turn- und Sportfest sowie etliche Leichtathletik‑Wettkämpfe statt; mehrfach war es Zielort von Friedensfahrt-Etappen. Nach der Wiedervereinigung nutzte VfB Leipzig (ehemals Lok) das Stadion von 1992 bis 1995 für seine Bundesliga-Spiele, nach dessen Abstieg und Umzug blieb es leer und wurde immer baufälliger. Ab dem Jahr 2000 erfolgte der Abriss, lediglich der Zugangsbereich mitsamt dem Glockenturm wurde saniert. In die verbliebenen Wälle integrierte man das neue Stadion als Austragungsort der Fußball-WM 2006 – heute bekannt als Red Bull Arena und Spielstätte von RB Leipzig.

Die Wälle machen den Stadionzugang zu einer treppenstufenreichen Anstrengung. Ich habe sie nie gezählt, aber es geht bestimmt an die einhundert Stufen hoch auf den Wall – und noch einmal genau so viele hinunter, bis man dann endlich in den Sitzplatz-Bereich kommt. Einmal habe ich dort meinen am Fuß vergipsten Sohn hoch und runter und wieder hoch getragen. Zu allem Unglück saßen wir ausgerechnet an dem Nachmittag in einer der obersten Reihen des Oberrangs, was weiteres Treppensteigen bedeute. Momentan ist Sommerpause, aber in einer Woche kehrt hier wieder Leben ein: RB eröffnet die Saison mit einem Testspiel gegen Atalanta Bergamo.

Da ich noch keine Lust habe umzukehren, laufe ich am Elsterbecken weiter. Die kürzlich von Chemie-Fans grün-weiß überstrichenen Laternenmasten leuchten nun wieder im RB-gerechten Rot-Weiß. Auf einem Zaun sehe ich einen Vogel mit auffallend gesprenkelter Brust – eine Singdrossel. Meine Atem- und Laufgeräusche stören sie kein bisschen, ruhig und entspannt genießt sie weiterhin die Sonne.
Ich mag diese Route sehr, weil sie über die Landauer Brücke auf die andere Seite des Beckens führt. Dort erwartet mich eine traumhafte Trailrunning-Passage – ein kleines Wäldchen, das zwischen dem Elsterflutbett und dem RB-Trainingsgelände am Cottaweg liegt. Über schmale, gewundene, wurzelbedeckte Pfade geht es zwischen Brennnesseln und Büschen an umgestürzten Bäumen und vom Sturm abgerissenen Ästen vorbei. Einige Male muss ich gebückt laufen, um unter tiefhängenden Zweigen oder halb umgestürzten Bäumen durchzukommen. Der Weg ist vielleicht einen Kilometer lang. Manchmal sieht man Angler, aber in der Regel hat man die Strecke für sich allein. Heute kommt mir nur ein Mann mit Hund entgegen, den er an der Leine ganz eng an den Wegesrand führt, damit wir beide aneinander vorbeikommen.
So langsam werden mir die Beine schwer, auch die Sonne beginnt zunehmend zu drücken. Also laufe ich auf dem kürzesten Weg nach Hause. Durchschnaufen, ein paar Dehnungsübungen.
Und dann sitze ich ein paar Minuten auf der Treppenstufe.
Hat Spaß gemacht.
