Christoph Sanders, Thalheim

Am Mittwoch Familienausflug nach Hamburg. Die Leere auf der Prignitz-Autobahn 14 – die Fülle der Europa Passage. Während die Girls shoppen, umrunden mein Sohn und ich das Zentrum der alten Hansestadt. Zwischen den Läden von Louis Vuitton, Patek Philippe, Jil Sander und Gucci locken chinesische Autohersteller potentielle E-Boliden-Käufer an – in zwei Sekunden von null auf hundert! Auf der Mönckebergstraße hält der gigantische Karstadt alten Schlags noch immer durch. Hinterm Rathaus genießen wir die gediegene Ruhe der schönen Läden und Passagen und ein wunderbares Essen beim Vietnamesen; die grünen Blätter des Jasmintees schwimmen samt Blüte im Kännchen. Anschließend Besuch beim angesagten Coffeebarista (wie man mir sagt). Und abends zurück in die Prignitz.

Am Donnerstag gemischtes Wetter. Auf dem Weg nach Havelberg sauge ich den Duft der Kiefern ein. Zweiter Besuch der Buchstation. Ich dringe tiefer ins Bergwerk – hinter dem Nebenraum befindet sich noch ein Nebenraum, dann links das Abteil mit den dreihundert alphabetisch sortierten Kartons. Zwei Kisten Russen – kein Nabokov darunter. Ein Bildband der National Gallery London, ein schmaler Stifter und ein noch schmalerer Kosmos-Schmetterlingsführer werden von mir vor dem Altpapier gerettet – auch in der Buchstation muss entsorgt werden. Was einer Mitarbeiterin sichtlich schwer fällt, dabei weiß ja gerade sie, welche Bücher niemals wieder einen Leser finden werden, nicht gegen eine noch so geringe Spende, nicht einmal geschenkt … Der Nachrichtenbeitrag zum Ausscheiden der deutschen Mannschaft bei der Fußball-EM im reinsten DDR-Sprech: Unsere Frauen haben zwar nicht den Titel geholt, aber etwas weitaus Bedeutenderes gewonnen – sie sind zum Kollektiv gereift, das zusammen kämpft und über sich hinauswächst … Meldung zur Ukraine. Meiner kleinen Tochter versucht, den Begriff Korruption zu erklären. Mit großen Augen begriff sie diesen ihr vollkommen neuen Abgrund, den das menschliche Leben auch noch bietet. Dabei wird mir klar, wie geschickt die Welt sich selbst und ihre Kinder betrügt, alles mit wohlfeilen Gemeinplätzen umwölkt … Maschine ölen, Sattel fetten, Hecktasche packen – Freitag geht es via Sandau, Wolfsburg und Braunschweig nach Hildesheim. Es ist mit Schauern zu rechnen.

