Helko Reschitzki, Moabit

Dienstagsbeef in der Bucht: Die von Natur aus eh schon aggressiv für extrem großzügige Sicherheitszonen sorgenden Blässhühner haben Nachwuchs bekommen. Das potentiert ihr Angriffsverhalten. Wer ins Blickfeld gerät, wird attackiert. Da nimmt es ein Blässhuhn auch mit einem halben Dutzend Enten auf, jagt diese übers Wasser. Die körperliche und zahlenmäßige Unterlegenheit spielt keine Rolle. Mitunter kommt es zu Gegenwehr – doch die bleibt stets vergeblich.

Am Abend gerate ich von einer Sekunde auf die andere in einen Starkregen. Zum Glück ist meine Wohnung nur einen 300-Meter-Sprint entfernt. Zuhause schließe ich sofort die Fenster – nicht, dass die Hofvögel mein Lungenfiepen für einen Riesensperber halten.

Am Mittwoch sehe ich, wie eine Frau hinter den S-Bahnschienen am Westhafen im großen Stil Tauben füttert. Als ein Mann mitbekommt, dass ich davon ein Foto mache, kommt er auf mich zu: „Genau – was die da macht, ist verboten! Gut, dass Sie das melden!“ Ein Deutscher direkt aus dem „Großen Lexikon des Anscheißertums“. Und sieht auch exakt so aus: Die Ärmel seiner starkraucherzahnfarbenen Blousonjacke hat er mit chirurgischer Präzision in 10-Zentimeter-Abschnitte umgeschlagen. Ein küchentuchkariertes Hemd, ein Nike-Basecap, ein Schnauzbart und eine Brille, wie sie die halbseidenen Frauen in Pierre-Richard-Filmen trugen, komplettieren den Anblick. Ich lasse den Typen abblitzen. Dass ich das Taubenfüttern ablehne (und dieses in Berlin nicht einmal pauschal verboten ist), ist eine ganz andere Sache. So etwas wird aber immer direkt besprochen. Mir ist dabei vollkommen klar, dass die anonymen Meldestellen, die man gerade überall einrichtet, hervorragend funktionieren werden.

Am Montag erzählen mir zwei Mitschwimmerinnen, dass einer der Schwäne von einem Hund totgebissen wurde. Wir sind entsetzt und traurig. Den Nachmittag über Besuch aus dem hessischen Thalheim. Klönen bei Bittertee, Duke Ellington und Alec Empire. Wir sprechen über den unfassbaren Überfluss, in dem wir in Deutschland leben, darüber, wie der Konsum alles zusammenhält, die Selbstbelohnung durchs Shoppen, all die Fernreisen – und dass dabei viele um uns herum immer unglücklicher werden. Wir reden über die kollektive Verdrängung der Sklaven, die für uns die Rohstoffe aus der Erde holen, den Pflegenotstand, die Folgen der Coronamaßnahmen. Wir wundern uns über die maximale kognitive Dissonanz derer, die mit EAT-THE-RICH-Söckchen herumlaufen, dabei aber ausblenden, dass wir Durchschnittsdeutschen zu den reichen 15 Prozent gehören. (Dass die Anticapitalism Socks im Billiglohnland Türkei hergestellt werden, ist da nur konsequent beim Selbstbetrug.) Wir schwärmen von der Eleganz der Arrangements der großen Jazzorchester, dem Handwerk guter Buchbindungen, dem duften Lesestoff und Tee, der uns niemals ausgehen wird. Unsere unterschiedliche BRD-DDR-Sozialisation sorgt dafür, dass der daraus resultierende Weltblick für den jeweils anderen wertvoll ist. Kurz nachdem sich der Dorffreund wieder auf den Weg machte, beginnt es sehr heftig zu regnen. Ich bekomme von ihm die Nachricht, dass er schnell Unterschlupf fand, und das Wermutkraut noch lange auf der Zunge geschmeckt hat – bis er dann bei einem kreuzberger Griechen eine verkohlte Krake aß.
