Walter Kintzel, Parchim
Das Verschwinden der Dorfpflanzen
„Wir haben gute und viele Bilder vom Seeadler, aber wenige vom Haussperling“, soll einmal ein Ornithologe gesagt haben. Ähnlich ergeht es den Botanikern mit der „kleinen Welt am Wegesrand“, die gegenüber den großen, illustren Arten lange vernachlässigt wurde.
Als „Dorfpflanzen“ (auch „Dorfstraßenpflanzen“) bezeichnet man Arten, die charakteristisch für landwirtschaftlich geprägte Dörfer sind. Sie zählen zu den Ruderalpflanzen (lateinisch von rudera = Trümmer bzw. rudus = Schutt), die in und um Siedlungen auf von Menschen ungenutzten Flächen gedeihen – so zum Beispiel an Wegrändern und Ufern, neben Zäunen und Hecken, auf Brachen oder in Mauerritzen. Sie bevorzugen dabei sonnige sowie frische Standorte, also jene mit mäßiger Bodenfeuchte – nicht zu trocken, nicht zu feucht, gut durchlüftet. Siedlungen mit landwirtschaftlichem Schwerpunkt und Hausviehaltung bieten optimale Bedingungen: die Nutzvögel verbeißen Konkurrenten; die Hühner schaffen durch ihr Scharren immer wieder neue Ansiedlungsstellen; die Böden sind durch viel natürlichen organischen Dünger äußerst nährstoffreich.

In Mitteleuropa waren Dorfpflanzen ursprünglich nicht heimisch. Es gilt als wahrscheinlich, dass sie mit dem Übergang zur sesshaften Lebensweise im Gefolge von Ackerbau, Viehzucht, Hausbau und Töpferei während der Jungsteinzeit (etwa 4200 bis 2800 vor der Zeitenwende) hierher gelangten. In den isoliert in der Landschaft liegenden Dörfern fanden sie ideale Lebensbedingungen vor. Und so prägten die charakteristischen Ruderalfluren durch die Jahrhunderte
hindurch das dortige Vegetationsbild. Zunehmender Verkehr und Handel sorgten dann dafür, dass die Pflanzen im Laufe der Zeit an sekundäre Standorte gelangten. Die meisten Exemplare waren nicht ausschließlich auf das Dorf beschränkt, jedoch hatten sie hier ihren Verbreitungsschwerpunkt.
Viele der klassischen Dorfpflanzen wurden in irgendeiner Form von den Menschen genutzt, etwa als Heil- und Zauberpflanze oder als Wildgemüse. Einige haben kulturgeschichtlichen Wert, da sie aus den Bauerngärten stammen, wo man sie als Gewürz-, Heil-, Zier-, Zauber- oder Giftpflanze hielt. Man muss bedenken, dass es diese Pflanzen früher nicht zu kaufen gab – man vermehrte und züchtete selbst und tauschte sie mit dem Nachbarn. Es bestand ein Interesse, sie zu erhalten und an künftige Generationen weiter zu geben.

Einige Ältere kennen sicher noch die „Käsepappel“, deren Früchte gern von uns Kindern gegessen wurden. Botanisch korrekt heißt sie Weg-Malve. Sie leidet unter fehlender Hühnerhaltung – wovon auch die Kleine Brennnessel und der Meerrettich betroffen sind. Weil es an unseren Dorfteichen kaum noch Enten und Gänse gibt, ist die Vegetationsflur des Gänse-Fingerkrauts zurückgegangen. Durch zu häufige Mahd und Flächenversiegelung verschwanden Seifenkraut, Wermut, Löwenschwanz, Eisenkraut und Katzenminze fast gänzlich von den Wegrändern. Ebenso betroffen ist der Gute Heinrich – im Mecklenburger Platt „Stollten Hinnerk“ genannt. Seine im Frühjahr sprossenden Triebe lieferten lange Zeit ein vitaminreiches Gemüse – erst der im 15. Jahrhundert von den Arabern eingeführte Spinat beendete seine Vorherrschaft. Darüber hinaus wurde der Gute Heinrich ans Kleinvieh verfüttert und zur Behandlung von Wunden und Verstauchungen aufgelegt.

Auf Grundlage der „Flora von Mecklenburg-Vorpommern“ (2005 von Heinz Henker und Christian Berg herausgegeben) wurden im Jahr 2014 die Vorkommen von sechzehn ausgewählten Dorfpflanzen in siebenundachtzig Dörfern bzw. Ortsteilen im Altkreis Lübz kartiert. Dabei wurde ein enormer Rückgang der Verbreitung im Vergleich zu Untersuchungen aus den Jahren 1982 und 1983 festgestellt (einzige Ausnahme war das Seifenkraut). Neben dem Altkreis Teterow ist Lübz bezüglich der Dorfpflanzen der am genauesten untersuchte Kreis im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern.

Der rasante Wandel des menschlichen Lebens und die veränderte Wirtschaftsweise auf dem Lande haben zum starken Umbau der Ruderalflora und Ruderalvegetation geführt. Einen bedeutenden Faktor stellt die rückläufige Hofviehhaltung dar, da mit ihr auch der standorttypische Stickstoffeintrag durch Viehdung wegfällt.
Von den untersuchten Pflanzen waren Wilde Malve, Wermut, Schwarznessel, Schöllkraut und Kleine Klette ausgesprochene Stickstoffzeiger. Das heißt, sie wachsen fast ausschließlich auf hoch stickstoffhaltigen Standorten – auf weniger nährstoffreichen Böden kommen sie kaum oder gar nicht vor. Fünf weitere Arten (Große Klette, Löwenschwanz, Meerrettich, Guter Heinrich und Weg-Malve) traten ebenfalls an übermäßig stickstoffreichen Stellen auf.
Die genannten Arten sind Viehlägerpflanzen. Als Viehlager wird ein Ort bezeichnet, an dem sich Weidetiere wie Rinder, Schafe, Pferde oder Ziegen regelmäßig aufhalten – beispielsweise an Tränken oder Unterständen. Solche Plätze sind durch Nährstoffanreicherung (Urin und Dung), Trittbelastung und andere mechanische Beanspruchung wie Liegen oder Trampeln gekennzeichnet.

In unserem Beobachtungsgebiet vollzog sich der tiefgreifende Wandel in zwei Etappen. Die erste fand zu DDR-Zeiten statt: Die landwirtschaftlichen Betriebe wurden kontinuierlich erweitert; die Viehhaltung konzentrierte sich jetzt in großen Stallanlagen anstatt wie früher auf kleinen Höfen. Das führte zu einem Ungleichgewicht zwischen den Dörfern, wodurch sich Tendenzen einer Urbanisierung (= Verstädterung) abzeichneten. Durch den Rückgang der privaten Viehwirtschaft fehlte der Einfluss der Tiere auf die Pflanzenwelt. Die Höfe waren vormals meist von Wiesen umgeben, die regelmäßig von Tieren betreten (= Trittwirkung) sowie beweidet (= Verbisswirkung) wurden. Diese natürlichen Trittgesellschaften verschwanden nach und nach und wichen kurz gehaltenen, mehrmals im Jahr gemähten Rasenflächen; Nutzgärten wurden durch reine Ziergärten ersetzt.

Radikal vollzog sich die zweite Etappe nach der Wiedervereinigung: Motorsensen und Rasenmäher waren nun einfach und kostengünstig zu bekommen und konnten im Gegensatz zur Sense ohne größere körperliche Anstrengung genutzt werden. Dort, wo bislang kaum gemäht wurde, kam es jetzt zu regelrechten Wettkämpfen, wer den kürzesten Rasen hat. Neben den neu angelegten Asphaltstraßen (die aufgrund ihrer Förderwürdigkeit bevorzugt wurden) säte man auf den Banketten Rasen aus.
Hinzu kamen falsch verstandene Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM), deren Ziel darin gipfelte, möglichst jede Pflanze mehrmals in der Vegetationsperiode zu kürzen. Die Bodenversiegelung und die Anwendung verschiedener Chemikalien sind weitere Faktoren, die sich schädigend auf die Dorfflora auswirkten.
Die Folgen sind offensichtlich: Manche Dorfpflanze, die früher von den Botanikern als „häufig“ und „verbreitet“ bezeichnet wurde, ist heute eine Rarität.

Die zugrundeliegende sowie weiterführende Literatur und andere Quellen können gern beim Autor angefragt werden. (botaniktrommel@posteo.de)
