Helko Reschitzki, Moabit

Die Tage um die Sommersonnenwende bringen zugleich die erste große Hitzewelle des Jahres. Am Wochenende bereits am Vormittag 30 Grad im Schatten und demsig. Als ich das Bad wische, ist das eine Ende schon getrocknet, bevor ich beim anderen ankomme. Früh am See ist es aber gut auszuhalten, zumal meine Buchtbank unter einer dicht belaubten Eiche steht. Am Sonntag treffe ich dort den alten Thüringer wieder, wir setzen unser über Wochen gesplittetes Gespräch fort. Mit Anfang zwanzig will er aus der DDR fliehen, wird erwischt und kommt nach Brandenburg in den Knast. Dort liegt er mit anderen „Politischen“, Mördern und einem „Babyzerstückler“ auf einer Zelle. 1979 hofft die „Staatsfeind“-Fraktion anlässlich des 30. Geburtstags der DDR auf eine Amnestie. Einige kommen frei, andere nicht. Unter denen, die bleiben müssen, gibt es Selbstmorde. Der Thüringer hat von Anfang an keine Illusionen, da er immer wieder aneckt und ihn ein Wärter auf dem Kieker hat. Unter den Aufsehern, der Gefängnisleitung und den Parteifunktionären gibt es neben den offiziellen Zuständigkeits- und Weisungshierarchien (Justizorgane, MdI, MfS, Justiz, SED) auch klandestine Strukturen. Jeder belauert jeden, wartet auf Fehler. Man bespitzelt einander, scheißt sich gegenseitig an, schleimt sich ein, sucht seinen Vorteil. Ein Klima der Angst und des Misstrauens. Das herrscht teilweise auch unter den Knackis. Deren härteste Währung sind Informationen; die werden gegen Zigaretten getauscht. Man weiß dabei nie, wann man dieses Insiderwissen mal einsetzen kann. Über Kassiber hält man Kontakt nach draußen – „je dümmer ein Angehöriger, desto angstfreier -Studierte taugen nicht als Schmuggler.“ Der Thüringer wird nach anderthalb Jahren vorzeitig in den Westen verkauft – für die ständig valutaklamme DDR ein lukratives Geschäft. Bis heute, sagt er, ist er anderen gegenüber erstmal misstrauisch, hat insgesamt „ne kurze Zündschnur“, man solle ihn besser nicht reizen. Am See fühle er sich aber ruhig und friedlich. Da er in einem russischen Kirchenchor singt und gerade Cohens „Hallelujah“ einübt, frage ich, ob er die Version von Jeff Buckley kenne. Nö, kannst mir ja mal vorspielen. Er hört zu. Wird ganz still, ergriffen. Die Kraft des Sees, die Kraft der Musik.

Montag, 4:50 bis 5:15 Uhr: Gewitter in Moabit. Der Regen kühlt die schwüle Luft, die Hofamsel zwitschert ungewohnt leise. Kurz darauf über der Rehwiese und am Schlachtensee zauberhaftes Licht. In dem Moment, als es van Gogh nach Jahren der fahlen Stillleben und trüben Kartoffelesser endlich gelingt, dieses Strahlen einzufangen, wird er verrückt. Möglicherweise besteht da ja ein Zusammenhang.

Abends ein weiterer Schauer und windig. Abkühlung von 27°C auf 18. Ein Himmel wie türkischer Rasierschaum, die Sonne weggetupft. Später vermelden die Ticker gewaltige Sturmschäden für ganz Berlin und Brandenburg – ich hab von einem Sturm nichts mitbekommen.

Fang das Licht von einem Tag voll Sonnenschein / Halt es fest, schließ es in Deinem Herzen ein / Heb es auf und wenn Du einmal traurig bist /
Dann vergiss nicht, dass irgendwo noch Sonne ist
Karel Gott & Darinka „Fang das Licht“, 1985 – Text: Michael Kunze
