Frank Schott, Leipzig
Ein Samstag mit fünf Großeltern: Meine Eltern, die Schwiegereltern und die Schwiegeroma – ein Altersschnitt von 81,8 Jahren. Da treibt es mich trotz der Hitze des Abends noch einmal raus, weil wir zu viel gesessen und ich mich zu wenig bewegt habe.
Ich bin auf dem gewohnten Weg zur Arbeit, diesmal allerdings zu Fuß, normalerweise nehme ich das Rad. Ziel ist der „Stadtraum Bayerischer Bahnhof“, wie die Stadt Leipzig das dortige Biotop benannt hat. Der Name stammt von der im Jahre 1842 eröffneten Station der Leipzig–Hof–Eisenbahn, die zwischen Sachsen und Bayern Personen und Güter beförderte. Nach dem Zweiten Weltkrieg und insbesondere mit der Teilung Deutschlands verlor der Bahnhof an Bedeutung und wurde nur noch für den regionalen Güterverkehr, als Umlade- und Messebahnstation und Wartungsplatz für Züge genutzt. Zum Ende der DDR war das ein maroder Güterbahnhof. Einige der Werkstätten und Fabrikhallen blieben nach der Wende noch in Benutzung, 1999 und 2000 hat man Teile des Gebäudes aufwendig saniert und zu einer Gaststätte mit Brauerei umgebaut. Der Rest des Geländes verfiel in einen Dornröschenschlaf.

2006 bis 2013 rückte auf dem Plangebiet schweres Gerät an, um die „U-Bahn“ zu bauen, eine unterirdische S-Bahn-Verbindung zwischen dem Bayerischen Bahnhof und dem Hauptbahnhof. Im Zuge dessen wurden viele der alten Bauten, so die noch nicht eingestürzt waren, schrittweise abgerissen – was stehen blieb, wucherte zu. So bildete sich im Lauf der Zeit ein Biotop, in dem noch vereinzelt Reste der früheren Industriebauten zu sehen sind.

Seit 2023 wird auf dem Gelände abermals gebaut – bis 2040 sollen hier 1.600 Wohnungen sowie drei Schulen und Kitas für 330 Kinder entstehen. Ob Letzteres realisiert wird, muss sich noch zeigen, da bei uns aktuell die Zahl der Geburten deutlich zurückgeht und deshalb bereits die ersten Kindertagesstätten schließen mussten.

Eines der ursprünglichen Gebäude neben dem Bayerischen Bahnhof ist noch in Nutzung – die Wilhelm Horn Brennerei, ein italienisches Spezialitätengeschäft mit Partyservice und ein Matrazenoutlet teilen sich den Bau. Horn war regional für seinen Gin bekannt, inzwischen werden dort aber auch andere Spirituosen gebrannt, meist Liköre. Der Hinterhof hat seinen eigenen Charme – die großen Fässer könnten aus einer amerikanischen Whiskeywerbung stammen.
Ich gebe zu, der kleine Marsch war nicht nur erholsam, sondern überraschend interessant. Manches entdeckt man nur zu Fuß.
